Die Aufgabe der Linken ist eine zweifache: Die Bekämpfung von Gewalt nach außen und nach innen. Denn: Mechanismen von Herrschaft setzen sich auch in unseren Gemeinschaften fort. Sie zu bearbeiten, ist oft nicht leicht. Um handlungsfähig zu sein, brauchen wir Umgänge mit Gewalt in unseren Gemeinschaften. „Transformative Gerechtigkeit“ ist eine Möglichkeit des Umgangs, die von queeren und feministischen communities mit Rassismuserfahrungen erarbeitet wurde. Wir, das Herausgeber*innenkollektiv UmGäng, arbeiten aktuell an einem Handbuch zum Thema und beschäftigen uns mit den Widersprüchen, die eine Übersetzung dieses Konzepts in eine weiß-christlich dominierte Linke mit sich bringt, während wir gleichzeitig einen Raum schaffen wollen, um transformative Theorien, Praxen und Bezüge zu teilen, zu verbinden und zu reflektieren.
Die aktuellen Krisen in der Welt erfordern starke linke und antiautoritäre Kämpfe, Organisierungen und Netzwerke, die mit praktischen Solidaritätsarbeiten auf (Welt-)Geschehen re_agieren, Analysen und Theoretisierungen dazu anbieten und gleichzeitig sich selbst und die Gesellschaft, von der sie Teil sind, in Bezug auf koloniale und globale Ausbeutungsverhältnisse reflektieren und gegebenenfalls in die Verantwortung nehmen.
Erschwert werden Umgänge mit diesen Krisen durch die Realitäten der Aktiven, welche oft durch kapitalistische Zwänge, strukturelle Ungerechtigkeit, Prekarität und Gewaltbetroffenheit strukturiert und immer wieder von Repression, rechter und faschistischer Gewalt gezeichnet werden. Diese Ausgangslage schafft ein kollektives Bewusstsein dafür, dass es wichtig ist, wehrhaft nach außen zu sein, uns gegen Rechts und den Staat zu organisieren.
Gemeinsame Kämpfe und geteilte Räume, Lebenswelten und Subkulturen verbinden miteinander, geben Kraft und lassen uns zu einer Gemeinschaft werden. Oft wird aber vergessen, dass sich Mechanismen und Strukturen von Herrschaft im Inneren unserer Räume und Organisierungen fortsetzen, durch Sozialisation(en) in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen in jeder*m von uns existieren und in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen und Umfeldern von Gewicht sind.
Unterschiedliche Diskriminierungsformen mitdenken
Das Grundlagenverständnis zu patriarchaler Herrschaft an den meisten Orten in der weiß-christlich (1) dominierten Linken in der BRD beispielsweise wurde von den FrauenLesbenbewegungen und queer_feministischen Akteur*innen hart erkämpft. Dennoch hält sich patriarchale Gewalt innerhalb unserer Gemeinschaften hartnäckig, und oft scheitern Versuche kollektiver Umgänge damit. Außerdem zeigen intersektionale Perspektiven und Analysen auf, wie wenig weitere Diskriminierungsformen und Gewaltverhältnisse konsequent mitgedacht, benannt und bearbeitet werden, obwohl ein mehrdimensionales Verständnis von gesellschaftlichen Positionierungen eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Bearbeitung von Gewalt darstellt. Dazu kommt, dass wir generell alle Gewalt ausüben und erfahren können.
Jüdische und andere rassifizierte Menschen, queere, trans und nichtbinäre Menschen, Kinder und Jugendliche, be_hinderte und neurodiverse Menschen und viele weitere verteidigen deshalb ihre Perspektive, zeigen Widersprüche und _Brüche auf und transformieren damit die Anti-Gewalt-Diskurse hin zu einer ganzheitlich(er)en Gewaltanalyse. Daran schließen sich in der gegenwärtigen Praxis die Fragen an, wessen Betroffenheit von Gewalt gehört und anerkannt wird, wer Unterstützung und (öffentliche) Solidarität erhält und für wen es Repräsentation, Anlaufstellen und Angebote gibt. Wer spricht hier? Wie können wir auf eine Weise über unsere eigenen Betroffenheiten von Diskriminierung und Gewalt sprechen, die andere Menschen einlädt, auch über ihre zu sprechen?
Wir brauchen es, aufeinander aufzupassen, sodass wir keine*n Gefährt*in verlieren. Die Aufgabe der Linken ist also eine doppelte: miteinander Arten des Umgangs aufbauen und leben, die zugänglich für alle, solidarisch und somit nachhaltig sind, und für eine andere Gesellschaft streiten und kämpfen. Es braucht beides für eine Welt mit weniger Gewalt.
Selbstorganisation gegen zwischenmenschliche Gewalt: Transformative Gerechtigkeit
In den 1990er-Jahren analysierten Schwarze und Indigene Queers und Feminist*innen sowie Queers und Feminist*innen of Color in Nordamerika die Zusammenhänge zwischen ihren Erfahrungen mit alltäglicher staatlicher Gewalt durch Polizei, Justiz und Politik und ihren Erfahrungen mit häuslicher, partner*innenschaftlicher und zwischenmenschlicher Gewalt im Allgemeinen. (2) Sie stellten heraus, dass zwischenmenschliche Gewalt oft aus struktureller und staatlicher Gewalt resultiert und auf diese Weise ebenso Ausdruck von Herrschaft bedeutet. Die Polizei ist für so viele Menschen keine Hilfe und setzt die Gewalt stattdessen fort. So reicht es nicht, staatliche Strukturen abzulehnen, ohne Alternativen für Umgänge mit zwischenmenschlicher Gewalt zu entwickeln.
Sich auf bestehendes Wissen in ihren communities beziehend, erarbeiteten sie eine neue Perspektive auf das Zusammendenken abolitionistischer Kämpfe gegen Sklaverei und Kolonialismus, Knastsystem und Polizei, Nationalstaat und Kapitalismus mit queeren und feministischen Kämpfen. Sie verbanden diese beiden Herrschaftsanalysen mit Modellen und Praxen aus alternativen Gerechtigkeitsmodellen wie Restorativer Gerechtigkeit.
Das Ergebnis war eine Philosophie und Praxis, die einzelne Fälle von Gewalt im Kontext gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen analysiert, versteht, community-basiert bearbeitet und damit den Raum und die Gruppe, in der die Gewalt stattgefunden hat oder stattfindet, verändert – das Konzept „Transformative Gerechtigkeit“ war geboren. Es richtet sich somit gegen Individualismus, Kapitalismus und gegen koloniale Praxen, gegen Vereinzelung, wie sie gerade durch Gewalterfahrungen entsteht, und setzt all jenem die Kraft von community, also Gemeinschaft, entgegen.
Es reicht nicht, staatliche Strukturen abzulehnen, ohne Alternativen für Umgänge mit zwischenmenschlicher Gewalt zu entwickeln.
Diese tragfähigen Gemeinschaften fußen auf einem Menschenbild, das den Menschen als sich immer schon in Beziehung zu anderen Menschen setzend zeichnet und damit dem westlichen Individualismus eine Absage erteilt. Wissen, Liebe, Erkenntnis und Gerechtigkeit entsteht zwischen den Menschen und nicht im Kopf eines*r Einzelnen. Ebenso gibt es keine feststehende Definition für diese Begriffe. Vielmehr gewinnen sie Bedeutung im (Aus-)Handeln, im Miteinander und in den (Zwischen-)Räumen der Gemeinschaften; und genauso lassen sie sich auch transformieren. (3) Ein solches Verständnis findet sich beispielsweise in den Gemeinschaften der Zapatist*innen.
In jüngerer Zeit wird im US- wie auch im deutschsprachigen Kontext viel diskutiert, ob etwas wie communities – hier wie dort – überhaupt existiert, und es wurde festgestellt, dass sie für manche Menschen aktuell keine Realität sind. Aus diesen Gedanken heraus entstand die Entwicklung von community zu ‚Pods‘, engen Nahbezügen, die in Fällen von Krisen und Gewalt unterstützen und Verantwortung füreinander übernehmen. (4)
Unsere Arbeit als UmGäng Herausgeber*innen-Kollektiv
Wie beschrieben ist Transformative Gerechtigkeit eine Philosophie und Praxis, welche durch ihre kapitalismus- und kolonialismuskritische Perspektive auf bestimmte Weise situiert ist; das bedeutet, dass das in und um Transformative Gerechtigkeit erarbeitete Wissen in Schwarzen, Indigenen und queeren communities und communities of Color entstanden ist.
Praxen von und Überlegungen zu Transformativer Gerechtigkeit in weiß-christlich dominierten linken Kontexten bedürfen also der Übersetzungsarbeit, da diese Modelle nicht ohne ihre spezifische Situierung gedacht werden können. Hier kann es helfen, den Blick auf die eigene(n) Geschichte(n) zu richten: Welche Anti-Gewalt-Arbeit gibt es im deutschsprachigen Raum? Was ist unser Verhältnis zu Strafe und warum? Was macht vielleicht die Nazi-Vergangenheit meiner Familie – wenn ich sie habe – mit meinen Gefühlen in Bezug auf Transformative Gerechtigkeit? Wo sehe ich, sehen wir koloniale Kontinuitäten in unserer Gemeinschaft (nicht)?
Wir als Herausgeber*innen-kollektiv wollen und müssen uns damit auseinandersetzen, dass Transformative Gerechtigkeitsarbeit in unseren weiß-christlich dominierten Kontexten letztlich eine Aneignung bleibt. Wir wollen von Transformativer Gerechtigkeit lernen, bestehende Praxen anwenden und achtsam mit dieser übersetzenden Anwendung in unseren Räumen sein. Wie aber kann das verantwortungsvoll gegenüber der Geschichte und Gegenwart des Konzepts geschehen? Wir haben beschlossen, darauf im Rahmen eines kollektiven Prozesses, nämlich eines Buchprojekts, Antworten zu suchen. Ein paar haben wir schon gefunden, zum Beispiel darin, die Geschichte_n der Entwickler*innen von Transformativer Gerechtigkeit kennenzulernen und weiterzuerzählen, uns gegen koloniale Kontinuitäten, rassistische und faschistische Gewalt stark zu machen und die Kämpfe migrantisierter Menschen hier zu unterstützen.
Im Rahmen eines Handbuchs zum Thema Transformative Gerechtigkeit wollen auch wir somit einen zweifachen Prozess wagen: Nach außen einen Raum halten, in dem viele verschiedene Stimmen Platz haben und Erfahrungen und Gedanken zu Transformativen Praxen im deutschsprachigen Raum geteilt werden können, in dem Vernetzung stattfindet und Menschen sich austauschen können. Gleichzeitig versuchen wir, nach innen unsere eigenen Positionierungen zu reflektieren und damit Haltungen zu den genannten Widersprüchen zu entwickeln.
„Jeder von uns muss seine Arbeit finden und sie tun. Militanz bedeutet nicht mehr Waffen am helllichten Tag, wenn das überhaupt je der Fall war. Militanz bedeutet, aktiv für Veränderungen zu arbeiten, manchmal auch ohne die Gewissheit, dass sie kommen werden. Es bedeutet, die unromantische und mühsame Arbeit zu leisten, die notwendig ist, um bedeutsame Bündnisse zu schmieden, und zu erkennen, welche Bündnisse möglich sind und welche nicht. Es bedeutet zu wissen, dass Bündnis ebenso wie Einheit das Zusammenkommen ganzer, selbstverwirklichter Menschen bedeutet, die fokussiert und voller Überzeugung sind und keine fragmentierten Automaten, die zu einem vorgeschriebenen Schritt marschieren. Es bedeutet, die Verzweiflung zu bekämpfen.“ (Audre Lorde)
Du hast/Ihr habt Interesse, mehr über Transformative Gerechtigkeit zu erfahren? Unter transformativejustice.eu gibt es mehr Informationen zum Thema. Über das entstehende Buch berichten wir unter transformativejustice.eu/umgaeng. Wir freuen uns über Beiträge zum Buch und gemeinsame Auseinandersetzungen und Austausch!
(1) Den Begriff „weiß-christlich“ hat die weiße, lesbische, jüdische, analytische Queer_Feministin, Autorin und Körperkünstlerin Debora Antmann geprägt. Vgl. etwa Antmann: „Not Your Goy*Toy. Warum ihr nicht wisst, was ein Goy ist, und ich den Begriff wc-Deutsch liebe“, online abrufbar unter https://missy-magazine.de/blog/2017/05/23/not-your-goytoy/ [de]
(2) Vgl. INCITE, CARA (Communities Against Rape and Abuse), Critical Resistance und Generation Five
(3) Bongmba, Elias Kifon: Ubuntu Ethics: The Conditions for its Possibility, 2013
(4) Zum Konzept der Pods siehe Mia Mingus für das Bay Area Transformative Justice Collective (BATJC), „Pods and Pod Mapping Worksheet“, Juni 2016, online unter https://batjc.wordpress.com/resources/pods-and-pod-mapping-worksheet/ [en]
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.
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