Trotz des russischen Einmarschs in die Ukraine läuft die Zusammenarbeit der internationalen Atomindustrie mit dem Staatskonzern Rosatom weiter – nicht zuletzt dank der Unterstützung durch die Bundesregierung. Eine zentrale Drehscheibe ist die von Framatome betriebene Brennelementefabrik in Lingen, die derzeit wieder im medialen Fokus steht, seit geheime Atomtransporte aufgedeckt werden konnten. Atomkraftgegner:innen aus mehreren Ländern protestierten gegen die anhaltenden Geschäfte mit dem russischen Atomkonzern und gegen die verheimlichten Transporte. Matthias Eickhoff beleuchtet für die Graswurzelrevolution die aktuellen Ereignisse und Hintergründe. (GWR-Red.)
Es ist eigentlich unfassbar: Im seit Monaten umkämpften und unter Beschuss stehenden ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja führt der Kreml-Atomkonzern Rosatom die fachliche Aufsicht für die russische Besatzungsarmee und ist damit aktiv am Besatzungsregime beteiligt. Die vor Ort festgesetzte ukrainische AKW-Belegschaft muss sich mit den Rosatom-Vertreter:innen abstimmen und kann nicht frei entscheiden. Im August gab es sogar Berichte über Folterungen von AKW-Mitarbeiter:innen – ein schreckliches Szenario.
Doch zeitgleich lassen sich mittel- und westeuropäische Länder und Konzerne weiter mit Uran von Rosatom beliefern, so als wäre das ein ganz normaler Handelspartner. Nun hat auch Frankreich wieder seine Atomgeschäfte mit Rosatom aufgenommen. Ein Fokus liegt dabei auf der Brennelementefabrik des französischen Staatskonzerns Framatome im emsländischen Lingen – und hier kommt dann auch die Bundesregierung aktiv ins Spiel, die Framatome in Lingen grünes Licht für neue Urangeschäfte mit Russland gegeben hat.
Das Geschäft geht vor
Wie konnte das geschehen? Fakt ist, dass Frankreich wie kaum ein anderes Land von der Atomenergie auf vielen Ebenen abhängt. Zum einen gibt es 56 AKW und eine militärische Atommacht, zum anderen eine weitverzweigte Uranindustrie, die Uran in mehreren Ländern abbaut, die das Uranerz aufbereitet, dann Uran anreichert und schließlich Brennelemente herstellt. Und diese Brennelemente werden nicht nur für eigene AKW produziert, sondern auch für AKW in der Schweiz, in Belgien, den Niederlanden, Spanien, Schweden, Finnland und Großbritannien.
Beispiel Schweiz: Von dort ist bekannt, dass der Atomkonzern Axpo (AKW Leibstadt und Beznau) bis 2030 Verträge mit Rosatom und Framatome hat über die Belieferung mit Uran und Brennelementen. Das AKW Gösgen hat zumindest bis 2012 noch russisches Uran verwendet – laut Medienberichten von damals sogar aus Beständen der Kriegsmarine. Solange Frankreich und Deutschland direkt nach Putins Einmarsch in die Ukraine jedoch kein russisches Uran angenommen haben, gab es auch keine Brennelemente für die Schweizer AKW. Framatome konnte also seine „Kunden“ nicht beliefern, und die wollten nicht aus den Verträgen mit Rosatom aussteigen, weil das eventuell Strafzahlungen nach sich ziehen könnte.
In dieser Situation wurden die harten Bilder aus der Ukraine für Frankreichs Regierung irrelevant – das Geschäft geht vor. Und von der Bundesregierung gab es keinen Widerspruch. Frankreich leidet gerade intensiv unter dem Ausfall der Hälfte der eigenen Atomkraftwerke – zu wenig Wasser in den Flüssen aufgrund der Klimakrisen-Sommerdürre und zu viele und gravierende technische Probleme. Da will die Bundesregierung den engen Verbündeten nicht weiter bedrängen und genehmigt die Nutzung der Lingener Brennelementefabrik für die Verarbeitung von Rosatom-Uran. Ein sehr zwielichtiges und bis Anfang September auch geheimes Geschäft.
Proteste gegen geheime Lieferungen
Doch Atomkraftgegner:innen aus den Niederlanden, Deutschland und Russland konnten eine aktuelle niederländische Transitgenehmigung für das russische Uran nach Lingen veröffentlichen, und Anfang September machte sich das russische Atomschiff Mikhail Dudin prompt auf den Weg nach Rotterdam. Das Medienecho war sehr groß – sehr mager aber die Reaktion der Bundesregierung: Die Transportgenehmigungen in Deutschland seien schon vor dem Krieg erteilt worden, und ohne EU-Sanktionen auf Uran könne man gar nichts machen.
Angesichts der gleichzeitig laufenden Debatte um die Laufzeitverlängerung für die letzten deutschen AKW verwundert das nicht. Die grün geführten Wirtschafts- und Umweltministerien in Berlin haben ihre Atomkritik anscheinend nur noch für andere übrig – für sie selbst gilt das nicht mehr. Und so wurde Lingen mitten in die wiederauferstandene französisch-russische Atomallianz hineingezogen – mit Billigung der Bundesregierung.
Ganz so einfach wurde es dann aber doch nicht. Durch die vielen Medienberichte und die angekündigten Proteste aufgeschreckt, änderte die Mikhail Dudin am 11. September direkt vor der Hafeneinfahrt von Rotterdam das Fahrtziel und steuerte nun Dünkirchen in Frankreich an. Zeitgleich lief in Lingen vor der Brennelementefabrik eine Mahnwache – mit dabei Vladimir Slivyak, Träger des Alternativen Nobelpreises und Ko-Vorsitzender der in Russland verfolgten Umweltorganisation Ecodefense.
Doch Framatome versuchte, den Protest auszutricksen. Denn in Dünkirchen stellte sich einen Tag später heraus, dass mehrere LKW mit Uranfässern den Hafen verließen und laut Greenpeace einige davon auf dem Weg nach Lingen waren. Danach verlor sich jedoch zunächst die Spur des Urantransports. Der Druck auf die Atomindustrie muss enorm hoch sein, die Deals mit Rosatom auf alle Fälle durchzuziehen.
Uranmacht Russland
Ein Blick hinter die Kulissen der Atomindustrie erklärt, warum das so ist. Im April 2022 veröffentlichten der BUND, .ausgestrahlt und andere Umweltorganisationen Zahlen der europäischen Atomenergiebehörde Euratom, nach denen 2020 rund 20 % des in der EU verwendeten Urans direkt aus Russland stammten, weitere knapp 20 % vom engen Verbündeten Kasachstan sowie 18 % aus Kanada – in Kanada hat Rosatom Uranminen aufgekauft. Das Herkunftsland Kanada verschleiert also zum Teil den wahren Eigentümer des Urans.
Bei einer derart intensiven Abhängigkeit vom Kreml auf dem Uransektor ist verständlich, dass für viele Atomkonzerne und atomfreundliche Staaten schlichtweg das Geschäftsmodell zusammenbrechen würde, wenn sie auf die Lieferungen von Rosatom verzichten würden. Atomenergie führt eben nicht zu Energieunabhängigkeit. Dieses immer wieder vorgebrachte Argument der Atomlobbyist:innen ist völlig falsch – ganz im Gegenteil: Atomenergie führt zu einer noch viel größeren Abhängigkeit vom Kreml. Wie das läuft, sieht man an den Beispielen Frankreich und Schweiz, aber auch am Beispiel Ungarn. Die Regierung von Viktor Orbán hat sich ganz vom politischen Wohlwollen Putins abhängig gemacht, um billiges Gas zu bekommen und zwei AKW mit russischen Darlehen bauen zu können.
Um diesen Zirkel zu durchbrechen, sind der Protest und Widerstand gegen Fabriken der Uranverarbeitung, wie die Brennelementefabrik in Lingen, enorm wichtig. Sie sind die Schwachstellen bei der weiteren Kooperation zwischen Rosatom und den jeweiligen AKW-Betreibern. Und es zeigt sich, wie grundfalsch es war und ist, die Brennelementeproduktion in Lingen und die Urananreicherung im westfälischen Gronau beharrlich vom Atomausstieg auszuschließen. Wer für den Weltmarkt Uran anreichert und Brennelemente herstellt, ist auch für die dadurch verursachten Probleme und Krisen mitverantwortlich. Die Bundesregierung kann und darf sich nicht einfach wegducken.
In atomarer Geiselhaft
Die Folgen der völlig verfehlten Atompolitik werden in Saporischschja besonders deutlich: Seit Monaten droht Europa dort die größte Atomkatastrophe der Geschichte. Sollte der ständige Beschuss die Stromversorgung des AKW endgültig kappen oder ein direkter Treffer einen AKW-Block zerstören, ist jederzeit ein Super-GAU möglich – ein echtes Horrorszenario.
Doch warum laufen in der Ukraine noch immer so viele AKW, und wer beliefert sie eigentlich? Nach Putins Besetzung der Krim 2014 wollte die Ukraine sich unabhängig von russischem Uranbrennstoff machen und klopfte in Westeuropa an. Die Regierungen in Berlin, Den Haag und London zeigten sich hilfsbereit: Sie boten an, dass ihr gemeinsamer Urananreicherer Urenco zukünftig unter anderem aus Gronau und Almelo das Uran für Brennelemente liefert, die der US-Konzern Westinghouse dann in Schweden produziert. Derzeit werden sechs von 15 ukrainischen AKW-Blöcken von Urenco beliefert, vier davon in Saporischschja!
Wenn wir also täglich Schreckensmeldungen von dort sehen, dann sollten wir daran denken, dass auch die Bundesregierung über Urenco einen gewichtigen Anteil daran hat, dass diese AKW überhaupt noch betrieben werden. Die Chance, die Ukraine zu einer zukunftsfähigen Energiewende zu bewegen, wurde so vertan – die Folgen müssen wir nun alle tragen, denn ein Atomunglück würde auch uns betreffen. Das hat die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 bewiesen. Nun lebt die Ukraine in atomarer Geiselhaft.
Atomenergie ist nicht die Lösung der Energie- und Klimaprobleme, sondern verschärft diese nur. Deshalb rufen die regionalen Anti-Atom-Initiativen aus dem Emsland und Münsterland zusammen mit vielen weiteren Umweltorganisationen für den 1. Oktober zu einer Anti-Atom- und Energiewendedemo in Lingen auf. Es ist höchste Zeit für eine radikale Kehrtwende in der Energiepolitik – und dazu gehört ein sofortiger und vollständiger Atomausstieg!