„Die italienische Grenze ist als Ort von Pushbacks kaum präsent“

Selbstorganisierte Direkthilfe entlang der Fluchtrouten

| Interview: Silke

Sie werden oft kaum wahrgenommen oder von den Behörden schikaniert: Unabhängige Basisgruppen organisieren vielerorts praktische Unterstützung für Refugees und dokumentieren Menschenrechtsverletzungen. In früheren Ausgaben der Graswurzelrevolution wurden unter anderem Hope Barker zu Pushbacks in Griechenland (1) und Aktivist:innen von Food Not Bombs Łódź zu ihrer Arbeit an der polnisch-belarussischen Grenze (2) interviewt. Beim Gespräch mit directsupport stehen die solidarische Hilfe an der französisch-italienischen Grenze in Ligurien und die Umstände, unter denen die Aktivitäten in dieser Region stattfinden, im Mittelpunkt. (GWR-Red.)

GWR: An vielen Orten entlang der Fluchtrouten leisten selbst-
organisierte Projekte ununterbrochen Direkthilfe. Könnt ihr einige Beispiele nennen? Was sind ihre Schwerpunkte?

directsupport: Die Gruppe directsupport war in der Vergangenheit zweimal in Ventimiglia an der italienisch-französischen Grenze. Dort vor Ort leisten die Gruppen Kesha Niya und Progetto 20k solidarische Unterstützung für und mit people on the move.
Es werden unter anderem Berichte über die Lage an der Grenze veröffentlicht, das Ausmaß der Pushbacks in Zahlen erfasst und Verletzungen dokumentiert, die von Polizei und Militär zugefügt wurden. Getränke, Essen, Kleidung und Bustickets, um den langen Weg von der Grenze zurück in die Stadt Ventimiglia zu vereinfachen, werden ausgegeben. Strom wird zur Verfügung gestellt und Musik gespielt, zusammen Zeit verbracht.

Daneben gibt es noch viele Initiativen, die phasenweise Direkthilfe leisten, um diese Arbeit zu unterstützen. Könnt ihr euren Ansatz und eure Tätigkeit beschreiben?

Directsupport versucht, solidarisch Unterstützung für people on the move an Orten zu leisten, an denen bereits dauerhaft selbstorganisierte Gruppen sind. Die Motivation ist, dauerhaft arbeitende Gruppen für eine Zeit auf Absprache entlasten oder ergänzen zu können.
Die Struktur besteht aus mehreren Bussen, unter anderem einem alten Rettungswagen, in dem Verbandswechsel und körperliche Untersuchungen mit Privatsphäre möglich sind. Über einen weiteren Bus können Internet und Strom zur Verfügung gestellt werden. Es gibt die Möglichkeit, für über 100 Menschen zu kochen und Getränke zur Verfügung zu stellen.
In Gesprächen mit Freund:innen und Gefährt:innen ist uns aufgefallen, dass die Grenze zwischen Italien und Frankreich gar nicht so präsent ist als Grenze, an der illegale Pushbacks (das heißt, dass people on the move von z. B. Polizei, Frontex oder Militär entgegen dem geltenden europäischen Recht nach erfolgtem Grenzübertritt über die Grenze zurückgebracht werden) stattfinden und Menschen auf ihren Wegen aufgehalten werden. Die Gruppe directsupport sieht es auch als Aufgabe an, mehr Öffentlichkeit für diese Situation zu schaffen.

Mit welchen Gruppen arbeitet ihr dabei vor Ort zusammen?

Uns ist es wichtig, dass Gruppen, mit denen wir zusammenarbeiten, eine politische Haltung haben, die wir teilen können, beziehungsweise zumindest anderen Menschen respektvoll und mit menschenfreundlicher Grundhaltung gegenübertreten. Mit welcher Gruppe wir wie eng zusammenarbeiten, entscheiden wir gemeinsam entlang politischer Kriterien. Ganz wichtig ist uns dabei, dass Gruppen selbstorganisiert sind, einen Anspruch haben, Hierarchien aufzulösen, und eine Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen haben, die dazu führen, dass es überhaupt Grenzen und Ausgrenzung gibt.

Versucht ihr auch, die Geflüchteten in eure Arbeitsabläufe einzubeziehen?

Wir versuchen, mit people on the move unsere Zugänge zu Öffentlichkeitsarbeit zu teilen und z. B. Interviews zu veröffentlichen. Kochen und Essensverteilung war die letzten Male aufgrund der Platzgegebenheiten und Coronamaßnahmen leider nicht zusammen möglich; vielleicht lässt sich das diesmal anders gestalten.

Wie ist euer Verhältnis zur Bevölkerung vor Ort?

Zum Verhältnis der Gruppe selbst zur Bevölkerung lässt sich gar nicht so viel sagen, da es nicht viele Schnittstellen gibt. Es werden immer wieder solidarische Menschen vor Ort angetroffen. Menschen, die Essen, Kleidung oder anderes zur Verfügung stellen, die sich politisch für die Belange von people on the move einsetzen usw.
Genauso gibt es auch offen rassistisch diskriminierende Menschen und Menschen, die die Notsituation von einigen people on the move finanziell ausnutzen. Manchmal werden Menschen der Gruppe directsupport auch angefeindet, aber insgesamt eher wenig, was wahrscheinlich damit zu tun hat, dass die Gruppe überwiegend weiß positioniert ist und gelesen wird.
Insgesamt würde ich die Stimmung vor Ort gegenüber people on the move als abwehrend beschreiben. Letztes Jahr wurde ein neues Gesetz erlassen, das Menschen verbietet, sich auf Pappe oder Isomatten auf dem Boden aufzuhalten, auf Bänken zu liegen, Taschen und Rucksäcke auf Bänke zu legen …
Es ist außerdem ein neues Lager geplant, um Menschen besser kontrollieren und schneller abschieben zu können. Die Attraktivität als Tourismusregion wird höher priorisiert als alle Menschen in der Region angemessen zu versorgen. Wahrscheinlich genauso wie an vielen anderen Orten in Europa.

Welche Erfahrungen habt ihr in den vergangenen Jahren bei der Hilfe an der Fluchtroute gemacht?

Vor allem immer wieder die Erfahrung, wie ungleich Rechte auf der Welt verteilt sind und wie viel Leid die Abschottung der europäischen Nationalstaaten auslöst, um den Wohlstand einiger weniger Menschen zu sichern.
Durch das medizinische Angebot gab es auch immer wieder sehr eindrückliche Konfrontationen damit, was Polizeigewalt verursacht. Menschen der Gruppe wurden immer wieder auf ihre Privilegien, die mit deutschem Pass und der Möglichkeit, selbstbestimmt kommen und gehen zu können, gestoßen. Darauf, wie ungleich auch hier im Vergleich zu den meisten people on the move der Komfort ist, abends die Straße verlassen und in den Bussen zurückgezogen schlafen zu können.
Oft kommt es auch zu Gedanken, wie lächerlich wenig es ist, was wir tun (können). Eine winzige Symptombekämpfung. Gleichzeitig melden immer wieder Menschen zurück, wie hilfreich es für sie persönlich war, dass in diesem Moment genau diese Form von Struktur und Unterstützung da war. Und dass ein paar nette Leute vor Ort sind. In Diskussionen taucht öfter die Frage danach auf, wie viel politischer Gehalt in der Arbeit steckt oder ob es vor allem eine humanitäre Hilfe ist, ob sich das überhaupt trennen lässt – oder auch: wie politisch ist Care-Arbeit?

Grenzschutz, Polizei und staatliche Behörden gehen oft auch sehr repressiv gegen Hilfsprojekte und Helfer:innen vor. Wart ihr selbst (oder befreundete Projekte) schon mit Schikanen und Repressalien konfrontiert?

Es gab in der Vergangenheit Versuche staatlicher Organe, die Arbeit der Gruppe einzuschränken und zu verhindern, z. B. durch Wegschicken, durch die Behauptung, die Arbeit sei verboten, hygienisch bedenklich … Durchgesetzt wurde es allerdings nicht. Die Gruppe arbeitete aber fast ununterbrochen unter polizeilicher Beobachtung. Auf der französischen Seite der Grenze sieht das allerdings ganz anders aus. Dort wurden solidarische Strukturen mit massiver Repression überzogen. Es gab mehr als 30 Festnahmen und viele Gerichtsverfahren.

Für Helfer:innen an den Fluchtrouten ist die Situation auch eine starke psychische Belastung. Wie geht ihr damit um? Wie vermeidet ihr, dass Aktivist:innen zu stark darunter leiden und ausbrennen?

Wir empfehlen allen Menschen, bevor sie sich zu einer Fahrt entscheiden, ihre aktuelle psychische Verfassung einzuschätzen, ob es realistisch erscheint, diese Art psychischer Belastung, die durch die Arbeit entstehen kann, zu ver- und bearbeiten. Die Gruppe versucht, vor Ort und danach füreinander da zu sein, und es wurde in langer intensiver Diskussion ein Awarenesskonzept erarbeitet, das bereits gemachte Erfahrungen miteinbezieht. Damit versuchen wir, psychische Belastungen aufzufangen und genug Raum für Self-Care zu schaffen. Gleichzeitig ist es nicht zu verhindern, in psychisch belastende Situationen zu kommen.

Welche Aktivitäten plant ihr für die kommenden Monate, und welche Form der Unterstützung braucht ihr?

Im Moment, das heißt vom 3. bis 30. September 2022, findet wieder eine Fahrt nach Ventimiglia statt. Die Materialspenden und Aufrufe, sich uns für die Fahrt anzuschließen, sind bereits abgeschlossen, aber wir benötigen immer wieder auch finanzielle Spenden, sowohl um die laufenden Kosten vor Ort z. B. für Essen zu decken, als auch um Technik oder anderes, was bei den Gruppen vor Ort bleibt, zu ersetzen bzw. die Reparaturen und Sprit für die Autos sicherzustellen. Wenn ihr Interesse habt, bei der Gruppe mitzuarbeiten, freuen wir uns auch immer über Mails. Es wird hoffentlich weitere Aktionen geben.

Danke, dass ihr euch Zeit für die Antworten genommen habt – und vielen Dank für eure großartige Arbeit! Wir wünschen euch dafür viel Energie.

Infos unter
directsupport.blackblogs.org
Kontakt:
directsupport@riseup.net.

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