Die große Themenbreite der GWR von gewaltfrei-anarchistischen Theoriebeiträgen über aktuelle Aktionsberichte bis hin zu spannenden Hintergrundartikeln lässt sich in jeder Ausgabe nachlesen. Aber wer steckt eigentlich hinter der Graswurzelrevolution? Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums werfen wir einen Blick hinter die Kulissen und stellen in sechs Kurzinterviews die Vielfalt des Herausgeber*innenkreises vor. (GWR-Red.)
„Revolutionäre Gewaltfreiheit, konsequenter Anarchismus“
Drei Fragen an Lou Marin
Wann und wie bist du zur GWR gekommen?
Politisiert wurde ich am Ende meiner Gymnasialzeit Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre. Da kamen viele Einflüsse zusammen. Im Deutsch-Leistungskurs lasen wir Heinrich Bölls „Billard um halb zehn“, wo die Absurdität im Weltkrieg, dass Menschen getötet werden, historische Bauten aber von der Zerstörung ausgespart werden, Thema war. 1980 war ich bei einem Dreitagesfestival gegen das geplante bayerische AKW Pfaffenhofen, wo sich die Bauern und Bäuerinnen weigerten, ihren Grund zu verkaufen. Die Dorfjugend der Gegend solidarisierte sich mit ihnen. Dort kaufte ich an einem Stand meine erste „Graswurzelrevolution“.
Ich erinnere mich noch genau, dass in der Nummer Argumente gegen die damals weit in der Linken verbreitete Kampagne „Waffen für Nicaragua!“ genannt wurden, die mich sofort überzeugten. Das müsste mal kritisch aufgearbeitet werden, wie oft die Linke „Waffen für … (bitte hier das Land eintragen, das gerade Konjunktur hat)“ propagiert hat, mit, gerade in Nicaragua, katastrophalen Ergebnissen: Daniel Ortegas FSLN-Diktatur hat eben bei der UN-Abstimmung neben Nordkorea und Syrien gegen die weltweite Verurteilung des russischen Angriffskrieges gestimmt. Wo bleibt die Aufarbeitung derer, die damals in bewaffneter Solidarität als Arbeitsbrigadist*innen nach Nicaragua gegangen sind?
Durch die GWR bekam ich auch Argumente für meine damalige Kriegsdienstverweigerung an die Hand. Es gab damals ja noch den Zwangsdienst, ich musste zwei Prozesse durchstehen, erst beim 2. Prozess wurde ich anerkannt.
Das Festival dokumentierte eine verspätet auf dem abgelegenen Land eintreffende Woodstock- und Hippiekultur. Deren Lebensstil propagierte eine Ohne-Mich- und Aussteiger*innen-Haltung gegen den Vietnamkrieg: Bob Dylan, Joan Baez, Country Joe McDonald usw. Das Wandposter „Why“ mit dem tödlich getroffenen Soldaten hing in der Zeit überall in WGs. Die Hippiekultur war damals noch „die“ eine Gegenkultur für alle Jugendlichen – und nicht wie heute nur eine von tausend verschiedenen Subkulturen. Gehalten hat sich diese Orientierung bei mir dann weiter durch die Musik von Genesis und Peter Gabriel in den 1970er-Jahren, der Zeit des Progressive Rock. Gabriel sang: „Games without frontiers – war without tears“. Und: „Adolf builds a bonfire – Enrico plays with it.“ Gabriels Erinnerungsarbeit für den südafrikanischen gewaltfreien Kämpfer Steve Biko möchte ich noch nennen. Durch die Übersetzung der Texte habʼ ich damals Englisch gelernt.
Mit dieser Grundlage ging ich in einer Suchbewegung erst zu Amnesty International, dann ein halbes Jahr zu den 1980 entstehenden Grünen. 1980 hatte sich außerparlamentarisch gerade die FöGA (Föderation gewaltfreier Aktionsgruppen) gegründet, da blieb ich dann hängen und beteiligte mich begeistert an der florierenden GA-Szene in der Unistadt Heidelberg. 1982 hatten wir allein dort 20 Gruppen; in Stuttgart waren es 40, mit einer eigenständigen Sprecher*innenrätestruktur und der „Kontaktstelle für Gewaltfreie Aktion“; das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.
In der FöGA wurden mir dann die Erfahrungen der 1970er-Jahre vermittelt, die autoritären K-Gruppen, die ebenso autoritäre RAF (unsere RAF-Kritik „Feldzüge für ein sauberes Deutschland“ habe ich verschlungen) usw. Diese unmittelbare Vermittlung durch die Aktivist*innengeneration vor mir hat mich geprägt.
Welche Themen liegen dir in der GWR besonders am Herzen?
Zunächst immer noch und immer wieder die klassischen: revolutionäre Gewaltfreiheit, konsequenter Anarchismus, kontinuierlicher und sich nicht durch plötzliche Kriegs- und Gewalt-Konjunkturen aus der Bahn werfen lassender Antimilitarismus. Wichtig waren mir in der GWR immer auch Artikel über militarisierte Männlichkeit, die es durchgängig gab. In unserer örtlichen Gewaltfreien Aktionsgruppe in Heidelberg waren wir über viele Jahre hinweg sieben Frauen und drei Männer. Ich finde es sehr wichtig, dass wir in unseren Strukturen immer daran gearbeitet haben und versucht haben, Männerdominanz aufzubrechen.
Was findest du für die weitere Entwicklung der GWR wichtig?
Es fehlt mir eine Struktur, wie ich sie anfangs selbst erlebt habe, unsere Positionen und unsere Erfahrungen an die nächste Generation weiterzuvermitteln. Das gibt es heute leider nicht mehr in der intensiven Art, wie wir bei Wochenendtreffen damals noch über Nächte hinweg durchdiskutiert und uns unsere Erfahrungen erzählt haben.
Wir gewaltfreien Anarchist*innen haben in fünf Jahrzehnten dazu beigetragen, Aktionskonzepte wie die direkte gewaltfreie Aktion und Kampagnen zivilen Ungehorsams in die sozialen Bewegungen einzubringen, sodass auf sie wie selbstverständlich zurückgegriffen werden kann. Ich fürchte, ohne diese Vermittlungskultur, die durch die Zeitung ja noch aufrechterhalten wird, könnten da wichtige Erfahrungen verloren gehen – und Grundlagen, um radikal oppositionelle Positionen auch über Minderheitenphasen und Krisen hinweg resilient durchzuhalten.
So erkläre ich mir abstruse reformistische Programme wie jüngst bei Fridays for Future, die nun ein institutionalisiertes 100-Milliarden-Paket für Klimaschutz verlangen und gar nicht merken, wie sie dabei die 100 Milliarden für die Bundeswehr als Konzept nur kopieren und rechtfertigen, nach dem Motto: Wir wollen aber dasselbe Geld wie sie. Klimaschutz wird so nicht mehr gegen Kapitalismus, Konzerne und Autoindustrie erkämpft, sondern Gelder werden verwaltet. Auch dass Luisa Neubauer und Greta Thunberg jetzt erklären, sie seien nun für AKW-Laufzeitverlängerungen, beweist für mich den Mangel an struktureller Vermittlung radikaler Positionen aus den Reihen der Anti-AKW-Bewegung, auch wenn mir Klimaaktivist*innen bei Diskussionen zigmal versichert haben, sie ließen nicht zu, Atomkraft gegen Klimaschutz auszuspielen.
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„Uns weiterentwickeln, ohne unsere Wurzeln zu vergessen“
Drei Fragen an Henriette Keller
Wann und wie bist du zur GWR gekommen?
Vor etwa 30 Jahren kam ich nach Heidelberg, um zu studieren. In den Städten waren damals regelmäßig Flugblattverteiler*innen und Zeitungsverkäufer*innen anzutreffen. Das Internet kannten wir nur vom Hörensagen – wer seine/ihre Botschaft an die Leute bringen wollte, musste physisch präsent sein, zum Beispiel im öffentlichen Raum plakatieren oder sich hinstellen, Druckschriften verteilen und persönliche Gespräche suchen.
So begegnete ich vor der Mensa einem Wiederverkäufer der Graswurzelrevolution. Der Mann war mir sympathisch und die Zeitung auch. Es stellte sich heraus, dass der Wiederverkäufer Mitherausgeber und Redakteur der GWR war, außerdem Mitglied einer Gewaltfreien Aktionsgruppe (GA). Das machte mich neugierig, und ich folgte gerne seiner Einladung, beim nächsten Gruppentreffen vorbeizukommen. Die Menschen, ihre Diskussionen und Aktionen gefielen mir, und ich bin einige Jahre dabei geblieben. Die Graswurzelrevolution war bei den Gruppentreffen immer präsent. Irgendwann gab es die Gruppe nicht mehr, aber die GWR gibt es zum Glück noch immer, und mit dem Wiederverkäufer bin ich bis heute befreundet.
Welche Aufgaben übernimmst du hauptsächlich bei der GWR?
Vor allem helfe ich beim Korrekturlesen eingehender Artikel und mache Übersetzungen aus dem Englischen. Gelegentlich übernehme ich Korrespondenzaufgaben oder was gerade so ansteht. Hin und wieder schreibe ich auch eigene Texte, meist Kleinformatiges.
Was findest du für die weitere Entwicklung der GWR wichtig?
Dass es weiterhin gelingt, die richtige Balance zu finden. Aufgeschlossen für aktuelle Themen und neue Bewegungen zu bleiben, ohne beliebig zu werden. Klare Standpunkte zu vertreten, ohne dogmatisch zu erstarren. Uns weiterzuentwickeln, ohne unsere Wurzeln zu vergessen. Die Graswurzelrevolution hat einen so reichen Schatz an Theorie und Praxis, an Ideen und Erfahrung: Ihn für die Diskussionen und Kämpfe der Gegenwart und Zukunft zugänglich und nutzbar zu machen, ist die wichtigste Aufgabe, wenn wir für Leser*innen und Aktivist*innen heute und morgen relevant bleiben wollen.
Und intern? Als GWR-Team müssen wir sehr verschiedene Charaktere unter einen Hut bringen. Redakteur*innen, Herausgeber*innen, Autor*innen haben ihre je eigenen Herangehensweisen und Prioritäten. Wir müssen Widersprüche und Gegensätze aushalten und sie, wo immer möglich, produktiv nutzen.
Wichtig ist auch, dass wir aus der Überlastungsfalle rauskommen. Es gibt immer wieder Einzelne, die extrem viel für die GWR machen und dabei auf Verschleiß fahren. Burnout und Bandscheibenvorfälle können aber nicht der Sinn der Zeitungsarbeit sein. Auf Dauer können ein bis zwei Hauptamtliche nicht alles stemmen. Wir müssen immer wieder Leute finden, die sich einbringen und konkrete Aufgaben übernehmen. In diesem Sinne, liebe Leserin, lieber Leser: Wenn du unsere Ideen und Grundsätze teilst und dir vorstellen kannst, mittel- bis langfristig bei uns mitzumachen, wende dich vertrauensvoll an die Redaktion!
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„Die Nähe zu den progressiven sozialen und ökologischen Bewegungen“
Drei Fragen an Nico Hagedorn
Wann und wie bist du zur GWR gekommen?
Wenn ich mich recht erinnere, ist mein erster Artikel für die GWR Ende 2012 erschienen. Damals ging es in erster Linie um die anhaltenden weltwirtschaftlichen Verwerfungen im Zuge der Finanzkrise: In Occupy und Blockupy sahen viele Aktivist*innen den Anfang einer antikapitalistischen Wende, laut dem damaligen Finanzminister Peer Steinbrück stand der Kapitalismus ja auch tatsächlich mehrfach auf der Kippe. Ich schickte einige Texte an den damaligen Koordinationsredakteur Bernd Drücke, der sie auch meistens abdruckte, womit die GWR gewissermaßen einen Wirtschaftsteil erhielt.
Als dann ein Herausgeber*innentreffen in Frankfurt stattfand, wurde ich eingeladen, mir das einmal anzuschauen, und ich machte mich auf den Weg in Erwartung eines wilden Haufens Anarchist*innen, mit denen ich zünftig einen draufmachen konnte. Eine Erwartung, die ich bald stark relativieren musste, denn einerseits musste bei jenem Treffen das Tagesgeschäft abgearbeitet werden, andererseits mussten alle abends einen Zug nach Hause bekommen oder „noch fahren“. So entfiel zwar das von mir freudig erwartete Besäufnis, dafür wurde ich kurzerhand zum Mitherausgeber erkoren.
Welche Aufgaben übernimmst du hauptsächlich bei der GWR?
Später wurde entschieden, dass die GWR eine neue Homepage bekommen sollte sowie einen neuen Look der Druckausgabe. Seither betreue ich die Homepage, halte sie aktuell und schreibe gelegentlich Texte für die Seite. Außerdem bin ich nach wie vor zumindest gelegentlich als Autor auch in der Druckausgabe beteiligt.
Was findest du für die weitere Entwicklung der GWR wichtig?
Was mir schon immer an der GWR gefallen hat, ist ihre Nähe zu den sozialen Bewegungen. Es gibt wohl kaum eine andere Zeitschrift, in der so viele Texte zu den progressiven sozialen und ökologischen Bewegungen zu finden sind. Meines Erachtens werden die sich ja seit Jahrzehnten zuspitzenden Krisenbewegungen des Kapitals mit all ihren Verwerfungen zunehmend Widerstand hervorrufen. Wenn wir die Kämpfe für eine sozial-ökologische Revolution erfolgreich führen wollen, werden wir die im Moment noch sehr vereinzelt wirkenden Bewegungen (auch theoretisch) zusammenführen müssen. Und letztlich werden sich diese momentan ja noch hauptsächlich in der Freizeit geführten Kämpfe auf den Bereich ausdehnen müssen, in dem man das Kapital wirksam bekämpfen kann: in den Betrieben und an den Arbeitsplätzen, mit Arbeiter*innenorganisation und Streiks. Eine inhaltliche Weiterentwicklung der Zeitung sollte sich meiner Meinung nach unter Beibehaltung ihres gewaltfrei-anarchistischen Schwerpunktes genau darauf konzentrieren.
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„Den weltweiten Reichtum der Bewegungen sichtbar machen“
Drei Fragen an Helga Weber
Wann und wie bist du zur GWR gekommen?
Begegnet bin ich der GWR bereits 1972 während der 14. Dreijahreskonferenz der War Resistersʼ International (WRI) in Sheffield, UK, aber „zur GWR gekommen“ bin ich erst später. Es war die Nullnummer, die während dieser Konferenz von Wolfgang Hertle, dem Initiator der GWR, vorgestellt wurde.
Von 1968 bis 1973 habe ich im Büro der WRI in London gearbeitet und war deshalb Teil des Orga-Teams der Konferenz – deren Hauptthema war „Revolution: Möglichkeiten und Strategien“, zusammen u. a. mit George Lakeys „Manifest für eine gewaltlose Revolution“. Die Vorstellung, dass es eine andere Revolution geben könnte als eine mit Gewalt durchgeführte, zusammen mit der für die WRI zentralen Verpflichtung für eine gewaltfreie Gesellschaftsveränderung, löste bei einigen deutschen Mitgliedsorganisationen großen Widerspruch aus. Heftige politische und emotionale Diskussionen dominierten den größten Teil der Konferenz. (Siehe: Devi Prasad, War is a Crime against Humanity: The Story of the WRI, S. 437 ff.)
Nachdem Wolfgang Zucht und ich ab 1973 wieder in Deutschland lebten, suchten wir nach einem neuen „politischen Platz“ für uns, um an den uns vertrauten Themen mitzuarbeiten. Den fanden wir dann im Umfeld der GWR und einiger Gewaltfreier Aktionsgruppen (GA). Beim „legendären“ Ostertreffen 1974 im Freundschaftsheim Bückeburg wurde mutig auf eine Koordination dieser Gruppen hingearbeitet und Wolfgang Zucht und mir angeboten, dafür zu arbeiten. So ließen wir unsere Berufsarbeiten sausen und richteten in unserer kleinen Küche die „Graswurzelwerkstatt“ ein, was dank der Spenden aus den Gruppen über viele Jahre aufrechterhalten werden konnte. Erst 1982 übernahmen Mitglieder der GA Göttingen und später der Gruppe Köln die Graswurzelwerkstatt-Arbeit.
Für Wolfgang und mich ermöglichte diese Art „Freistellung“ von so genannter Lohnarbeit aber auch, gelegentlich an den Zeitungstreffen teilzunehmen. Die GWR erschien damals vierteljährlich und wurde in Berlin gemacht, nachdem Wolfgang Hertle zum Studium nach Berlin umgezogen war. Oft fanden die Zeitungstreffen dort statt, aber auch anderenorts oder anlässlich anderer Treffen. Aus vielen der Gewaltfreien Aktionsgruppen kamen Leute angereist, diskutierten heiß vorhandene und neu entstehende Artikel, verabredeten neue Schwerpunkte, tippten mit der Schreibmaschine die Texte in schmale Spalten, klebten sie auf große Bögen und rubbelten per Hand die damals bekannten Letraset-Rubbelbuchstaben für die Überschriften.
Aber auch Buchführung, Spenden sammeln und den Vertrieb organisieren stand gewissermaßen in der Verantwortung aller. Ob das in den Augen der beiden Redakteure Wolfgang und Michael damals wirklich geklappt hat? Diese Gemeinschaft bildenden Aktivitäten und Treffen waren auf jeden Fall etwas ganz Besonderes, auch, weil sie eine Art Bildungsforum waren, das über die unterschiedlichen persönlichen Schwerpunkte jeder und jedes Einzelnen die Möglichkeit einer gemeinsam erarbeiteten Utopie förderte. Das spiegelt sich noch heute in der Arbeit des Herausgeber*innenkreises wider. – Und hält mich noch immer hier, auch nach 50 Jahren.
Welche Aufgaben übernimmst du hauptsächlich bei der GWR?
Wenn dieses Interview auch dazu dient, neue an der Mitarbeit Interessierte zu finden, dann möchte ich nur sagen, dass ich relativ wenig direkt beitrage, da ich sehr selten Artikel schreibe. Aber durch meine Arbeit im Verlag Weber & Zucht vor Jahren nutze ich gelegentlich meine Erfahrungen beim Korrekturlesen und beteilige mich an der Diskussion der Artikel. Wer Lust hat, sich einzuklinken: Nur zu.
Was findest du für die weitere Entwicklung der GWR wichtig?
Ich finde es großartig, dass die Zeitung bereits relativ vielfältig ist. Aber ich wünsche mir, dass wir
- mehr darüber bringen könnten, wie die Leser*innen die Ideen für eine libertäre gewaltfreie Gesellschaft in ihr tägliches Leben übersetzen können, ob am Arbeitsplatz, bei der Kindererziehung oder in der Bahn gegenüber denen ohne Mund-Nasen-Schutz.
- mehr direkte Kontakte zu den Menschen halten könnten, die an den gegenwärtigen Kämpfen für das Klima, gegen den Kohleabbau, gegen Waffenlieferungen usw. beteiligt sind.
- die alten Erfahrungen aus den Trainings für gewaltfreie Aktionen für die aktuellen Auseinandersetzungen „übersetzen“ und verfügbar machen könnten.
- auch Berichte aus den anderen WRI-Sektionen bringen könnten, um den weltweiten Reichtum der Bewegungen sichtbar zu machen, um uns allen Ermutigung und positive Ermächtigung zu geben.
- Und ich wünschte, wir könnten regelmäßig darüber berichten, was es an bisher unbekannten Zukunftsvorstellungen bekannter oder unbekannter Autor*innen gibt, damit wir erkennen können, wohin wir uns noch öffnen müssen, um noch besser zu erkennen, was zu tun ist, um die trotz allem schöne Welt zu bewahren.
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„Berichterstattung von unten, die über den Tellerrand guckt“
Drei Fragen an Bernd Drücke
Wann und wie bist du zur GWR gekommen?
Anfang der 1980er war ich als Schüler engagiert in der Friedensbewegung. Bei einer Demo gegen die NATO-Atomaufrüstung habe ich meine erste Graswurzelrevolution in die Finger bekommen. 1986 bin ich zum Studieren nach Münster gezogen. Unsere Anarcho-WG hatte ein GWR-Abo. Seitdem habe ich jede GWR gelesen und dann später für meine Dissertation über anarchistische Presse auch die alten Ausgaben.
Im Sommer 1998 erschien ein Vorabdruck aus meiner Diss in der GWR 230. In der Ausgabe wurde die Redaktionsstelle neu ausgeschrieben. Da ich gerade mein Studium beendet hatte und begeisterter GWR-Leser war, habe ich mich beworben. Im Herbst 1998 wurde ich zusammen mit zehn weiteren Bewerber:innen zum GWR-Herausgeber:innentreffen nach Frankfurt eingeladen. Ich wurde gewählt und habe dann 22 Jahre lang als Koordinationsredakteur gearbeitet.
Mein jüngster Sohn hat es mal so formuliert: „Die Graswurzelrevolution ist doch Papas Leidenschaft“. Tatsächlich gibt es aus
meiner Sicht kaum etwas Schöneres, als Monat für Monat basisdemokratisch zusammen mit den GWR-Mitherausgeber:innen und -Autor:innen eine neue Zeitschrift für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft zu produzieren.
Welche Themen liegen dir in der GWR besonders am Herzen?
Alles, was mit Anarchie, gelebter Utopie, einem Leben ohne Chef und Staat zu tun hat, ist mir besonders wichtig. Und der Weg dahin, der aus meiner Sicht durch Selbstorganisation, Gegenseitige Hilfe, freie Assoziation, Projekt-Anarchismus, kollektivistischen Anarchosyndikalismus und direkte gewaltfreie Aktionen beschritten werden kann. Es ist gut, wenn mit Hilfe der GWR emanzipatorische Gesellschaftsutopien weiter entwickelt und verbreitet werden.
Unsere Aufgabe sehe ich darin, über Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufzuklären, also im besten Sinne Menschen zu politisieren. Wie kann der Kapitalismus, das System der Profitmaximierung, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, überwunden werden, damit die Menschheit überleben kann? Die Klimakatastrophe, das Artensterben und die Kriege sind bedingt durch Herrschaft, durch kapitalistisches, nationalistisches, neoliberales und imperialistisches Denken und Handeln. Wir befinden uns in einem permanenten Abwehrkampf, gegen Kriegstreiberei und Remilitarisierung, gegen immer wieder aufflammenden Neofaschismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie und Ableismus, gegen die Umverteilung von unten nach oben, Konzerne und den Raubbau an der Natur.
Diese Themen aus der Perspektive von Bewegungsaktivist:innen aus aller Welt liegen mir am Herzen. Eine Berichterstattung von unten, die über den Tellerrand guckt, solidarisch mit emanzipatorischen, sozialen Bewegungen, die sich überall auf der Welt gegen Nationalismus, Herrschaft, Krieg und Ausbeutung stellen, vernetzt, profeministisch, bunt und lebendig.
Was findest du für die weitere Entwicklung der GWR wichtig?
Ich wünsche mir mehr kontroverse Diskussionen in der GWR, wie wir sie z. B. zu Themen wie Bedingungsloses Grundeinkommen und Prostitution hatten. Kontroverse Texte direkt nebeneinander. Das finde ich spannend. Der Kopf ist bekanntlich rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.
Wunderbar wäre es, wenn sich mehr junge Leute bei der GWR engagieren und es wieder eine graswurzelrevolutionäre Jugendzeitung geben könnte, wie die von 2007 bis Ende 2011 erschienene utopia. Die war ein Erfolg, auch wenn es logisch war, dass die Redakteur:innen nach 21 utopia-Ausgaben aufgehört haben. Sie waren mittlerweile ja erwachsen.
In diesem Zusammenhang denke ich, dass es gut wäre, wenn die GWR perspektivisch auch ein „Ausbildungsbetrieb“ wird. Viele Menschen haben in den letzten Jahren bei der GWR ein Praktikum gemacht. Einige davon machen als GWR-Autor:innen oder Mitherausgeber:innen weiter.
Es wäre schön, wenn wir mit graswurzelrevolutionären Ideen mehr Menschen erreichen könnten als bisher. Wir brauchen wieder auflagenstarke Aktionsblätter, die u. a. bei Demonstrationen massenhaft verteilt werden. Ich denke, dass wir versuchen sollten, aus der Szene-Nische herauszukommen, um zu einer gesellschaftsverändernden Kraft zu werden.
Vielleicht können wir Berührungsängste abbauen und uns auch in anderen Medien zu Wort melden, von Radio und Zeitung bis TV. In den Medien kommen graswurzelrevolutionäre Positionen bisher kaum vor. Das ist tragisch, denn gerade in Kriegszeiten ist es wichtig, dass herrschaftskritische, antimilitaristische Ideen verbreitet werden, wenn wir eine atomare Pulverisierung der Menschheit verhindern und Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit für alle Menschen erreichen wollen.
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„Bedingungslose Kritik an Gewalt, Herrschaft und Hierarchie“
Drei Fragen an Matze
Wann und wie bist du zur GWR gekommen?
Mein erster Kontakt mit der GWR war in einem linken Infoladen. Da lag die Zeitung immer aus. Als Jugendlicher habe ich darin gelesen und vieles nicht so richtig begriffen, was da stand. Einige Jahre später sollte ich für das Studium ein Pflichtpraktikum absolvieren. Über ein paar Ecken habe ich mir Bernd Drücke vorstellen lassen und ihn direkt angequatscht. Nach dem Praktikum bin ich dann irgendwie geblieben. Das ist jetzt über zehn Jahre her.
Welche Themen liegen dir in der GWR besonders am Herzen?
Das Alleinstellungsmerkmal der Zeitung ist meiner Ansicht nach die bedingungslose Kritik an Gewalt, Herrschaft und Hierarchie. In all diesen furchtbaren Kriegen schwingt in der Berichterstattung doch immer eine leichte Tendenz mit, welche Kriegspartei nun etwas weniger furchtbar sei. Ich kann damit nichts anfangen. Es fehlt eine umfassende Kritik der Gewalt an sich, und diese Lücke füllt die GWR aus.
Was findest du für die weitere Entwicklung der GWR wichtig?
Dass wir den Anschluss an die junge Generation nicht verlieren. Mein Eindruck ist, dass viele langjährige Leser*innen im Kalten Krieg politisch sozialisiert wurden und dass dies verständlicherweise viele Leute sehr geprägt hat. Heute wachsen junge Menschen in einer komplexeren Welt auf. Was vor einer Generation selbstverständlich war, ist heute schon fast vergessen. Mir scheint, dass wir den Perspektiven jüngerer Menschen mehr Raum geben sollten.