Fortschrittliche Kritik an menschenverachtenden Positionen und linke Proteste gegen Auftritte von Rechten werden schnell als angeblich zensorische „Cancel Culture“ verunglimpft. Neben Reaktionär*innen, die sich dadurch eine Diskursverschiebung nach rechts erhoffen, sprechen sich auch viele Liberale im Namen der Meinungsfreiheit für eine „ergebnisoffene Diskussion“ aus. Thomas Meyer unterzieht die laufende Debatte und die beteiligten Akteur*innen einer kritischen Betrachtung. (GWR-Red.)
„Cancel Culture […] ist ein politisches Schlagwort, das systematische Bestrebungen zum partiellen sozialen Ausschluss von Personen oder Organisationen bezeichnet, denen beleidigende, diskriminierende, rassistische, antisemitische, verschwörungsideologische, bellizistische, frauenfeindliche, frauenverachtende, homophobe Aussagen beziehungsweise Handlungen vorgeworfen werden“ (Wikipedia). Nun sehen viele durch Cancel Culture die Meinungsfreiheit und -vielfalt bedroht. Gern wird sich dazu auf liberale Klassiker wie Voltaire oder John Stuart Mill berufen. Sie verweisen auf die Wichtigkeit, abweichende Stimmen hören (ohne Pluralität der Meinungen gäbe es keinen Fortschritt in der Erkenntnis) und zur Kenntnis nehmen zu können, sowie auf die Gefahr von Zensur und zivilgesellschaftlichen Ächtungen (Boykott, Deplatforming).
„Zensur“ und „Verletzlichkeitskult“?
Wie der Sammelband „Cancel Culture und Meinungsfreiheit – Über Zensur und Selbstzensur“ darlegt, monieren Kritiker zudem, dass durch Cancel Culture der freie wissenschaftliche Diskurs unterbunden werde. (1) Cancel Culture agiere emotional. Sie bewege sich im Modus des argumentum ad hominem. Es gehe gegen „Verfehlungen“ einzelner Personen. Nicht die Wahrheit werde angestrebt, sondern die moralische oder berufliche Zerstörung öffentlicher Personen, die eine „falsche Meinung“ geäußert hätten. Der Gegner werde nicht widerlegt, sondern gecancelt, d. h. der Person wird gekündigt, sie wird genötigt zurückzutreten, wird zur Unperson. Der Diskurs wird abgebrochen.
Ein grundlegendes Problem der Cancel Culture liege in ihrer Tendenz, „verbale Äußerungen mit physischer Gewalt gleichzusetzen“ (S. 64). Dies begünstige „zensorisches Denken“ (ebd.) und führe zu einem „Kult der Verletzlichkeit“ (S. 24). Vergleichsweise harmlose Äußerungen würden skandalisiert (sog. Mikroaggression). Anhand einzelner Äußerungen werde auf die „Gesinnung“ geschlossen, unter die der „Angeklagte“ als schuldig rubriziert werde. Entscheidend für die Beurteilung seien Betroffenheit und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und nicht unvoreingenommenes Argumentieren.
Es zeige sich eine aggressive Protestkultur, deren zentrales Argument das Beleidigtsein sei. Fühlten sich bestimmte Leute oder Gruppen beleidigt, so empfänden sie sich als Opfer auf der richtigen Seite. Das Beleidigtsein werde als Rechtfertigung und Anlass dafür genommen (vor allem in den „sozialen Medien“), militant zu agitieren. Dies gehe von der Verhinderung von Veranstaltungen (also der Einschränkung der Rede- und Lehrfreiheit) bis hin zu Morddrohungen (etwa gegen J. K. Rowling, weil sie die Meinung vertrat, Transfrauen seien keine „echten“ Frauen). Bislang ist keine Vertreterin des „TERF“ (Trans-Exclusionary Radical Feminism) wegen Beleidigung, Transphobie o. ä. enthauptet worden (im Unterschied zu Menschen, die „den Islam“ „beleidigt“ hätten, etwa dem französischen Lehrer Samuel Paty 2021). Rowlings Bücher wurden allerdings schon verbrannt (2) – übrigens auch von christlichen Fanatikern. (3)
Solche Ereignisse werden als Argument dafür genommen, dass durch „Cancel Culture“ (oder was man dafür hält) eine Gefahr für die Demokratie bestehe. Die Folgen seien (Selbst-)Zensur und eine Verengung des Diskursraumes. Ein „Klima der Angst“ (S. 57) entstehe. Kritisiert werden auch Säuberungen des klassischen Bildungskanons an Schulen, in der Kunst, in Museen u. a. Man kann diese Kritik der Cancel Culture dahin gehend zusammenfassen, dass Cancel-Culture-Agitatoren durch und durch autoritär und selbstgerecht auftreten, sich aber mit dem Heiligenschein des Progressiven und Fortschrittlichen schmücken.
Absoluter Wahrheitsanspruch
Nach Stefan Laurin hat die Cancel Culture ihren Ursprung in der Postmoderne, „die wiederum ihre Wurzeln sowohl in der Sprachwissenschaft als auch in der Ablehnung von Demokratie, Aufklärung und Marktwirtschaft“ (S. 175) habe. (4) Insbesondere in den Vereinigten Staaten kann mit Helen Pluckrose und James Lindsay (5) festgestellt werden, dass identitätspolitische Agitatoren im Unterschied zu den klassischen postmodernen Theoretikern (wie Michel Foucault) einen absoluten Wahrheitsanspruch vertreten (Queer-Theorie, „kritische Rassentheorie“, Disability Studies, Fat Studies u. a.). (6) Es sei, so Pluckrose und Lindsay, kaum möglich zu widersprechen, ohne schnell irgendwo „eingeordnet“ zu werden. Es gelte: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Ergebnisoffene Forschung und Diskussion seien so nicht möglich.
Beide Autoren betonen zudem die Wirkungslosigkeit solcher moralisierender Absolutheitsansprüche und Sprachbereinigungs- und Identitätspraxen. Nicht die realen Verhältnisse würden im Fokus der Kritik stehen, sondern die Sprache und die Anerkennung (bzw. identitätspolitische Fixierung) zahlreicher „Differenzen“ zum „Normalen“. (7)
Leben in der Filterblase
In der Tat ist es ein Problem, wenn inhaltliche Differenzen nicht durch „nüchternen Diskurs“ ausgetragen werden, sondern jeder aus seiner Filterblase heraus einen Shitstorm startet (sofern diejenigen überhaupt noch in der Lage sind, Inhalte jenseits der eigenen Agitationsblase zu rezipieren oder zu verstehen). Die Unfähigkeit, sich außerhalb seiner Peer-Group oder Filterblase mit Inhalten oder anderen Positionen auseinanderzusetzen, ist bezeichnend für autoritäre und narzisstische Subjekte. (8) Teilt man nicht die eine oder andere Prämisse bestimmter identitätspolitischer Praxis oder Theorie, so muss dies keineswegs auf einen reaktionären Standpunkt verweisen (man ist etwa nicht gleich ein westlicher Imperialist oder ein Rassist mit „kolonialistischem Blick“, wenn man bestimmte Aspekte nichtwestlicher Kulturen als autoritär oder reaktionär verwirft oder wenn man islamistischen Antisemitismus kritisiert). (9)
Obgleich der Postmodernismus sich gegen essentialistisches und binäres Denken aussprach, gerät er doch genau in dieses Fahrwasser, wo er identitär agiert. Terry Eagleton warf daher dem Postmodernismus vor, seine Methoden nicht auf sich selbst angewendet zu haben.
Mythos des freien akademischen Diskurses
Die hier angedeuteten Kritiken an der Cancel Culture und an den Absolutheitsansprüchen postmoderner „zynischer Theorien“ (Pluckrose und Lindsay) (10) und ihrer Agitatoren haben durchaus ihre wahren und berechtigten Momente. Eine Kritik am postmodernen Denken und seinen identitären Derivaten bleibt jedoch höchst unzureichend vor dem Hintergrund aufstrebender rechter oder faschistischer Bewegungen und Agitationen, wenn diese Kritik in einem Liberalismus des „freien“ Diskurses und eines Fortschritts in der Erkenntnis durch nüchternes Argumentieren verbleibt.
Daher ist diese Kritik an der Cancel Culture in mehrfacher Hinsicht problematisch: Die erste betrifft den „Idealismus des herrschaftsfreien wissenschaftlichen Diskurses“. Ein freier Diskurs an Universitäten ist auch ohne Cancel Culture oft nicht möglich. Schließlich gibt es die ganz normale akademische Hackordnung. Hinzu kommt das akademische Filterblasendenken selbst: durch Hyperspezialisierung und prekäre Arbeitsverhältnisse. Letzteres begünstigt konformes Verhalten. Wird nicht gespurt, so wird der Vertrag nicht verlängert (oder der Finanzierungsantrag nicht bewilligt). Nicht ein offener und hierarchiefreier Diskurs, sondern – Arschlecken – ist für gewöhnlich angesagt. Berufsverbote sind in der unternehmerischen Uni (11) gar nicht notwendig …
Es ist nicht so, dass jede Idee frei diskutiert wird und widerlegte Theorien verschwinden. Im Gegenteil. Ein Beispiel: Peter Singer, Philosoph und Tierrechtler. Während er bestimmten Tieren den Personenstatus zuerkennen will, spricht er zugleich bestimmten Menschen den Personenstatus ab. Zur Disposition gestellt ist „lebensunwertes Leben“ – wie man es in früheren Zeiten formuliert hätte. Heute wird jenen das Lebensrecht abgesprochen, die nur kosten und nach Singer besser nie geboren wären.
Menschenfeindliche Positionen verschwinden nicht, nur weil sie in einem freien wissenschaftlichen Diskurs widerlegt worden sind. Die kapitalistischen Verhältnisse selbst reproduzieren sozialdarwinistische Ideologien, die den Nicht(mehr)verwertungsfähigen das Existenzrecht absprechen. Schließlich bleiben solche Positionen nicht nur „graue Theorie“, sondern werden Programm. (12) Und dann sollte es Ausdruck autoritären Charakters und der „Demokratiefeindlichkeit“ sein, wenn man durch Demonstration und Agitation Veranstaltungen von/mit Peter Singer, der seit den 1980er-Jahren bis heute seine Position nicht revidiert hat, zu verhindern gedenkt?
Rechter Kampfbegriff
Zweitens kann man beobachten, dass nicht wenige Leute durch Shitstorm und Canceln (oder Cancelversuche) einen Karriereschub und wachsenden Bekanntheitsgrad bekommen haben (man denke hierbei etwa an Thilo Sarrazin), also gerade nicht aus der Öffentlichkeit verschwanden oder ihren Job verloren. Sich aber dann hinzustellen und zu behaupten, der Meinungskorridor werde verengt o. ä., zeugt von nichts anderem, als dass jene, die rassistische oder antisemitische usw. Positionen kritisieren, aus dem angeblich freien Diskurs herausgehalten werden sollen.
Cancel Culture ist also durchaus auch als rechter Kampfbegriff einzustufen, der dazu instrumentalisiert wird, politischen Bewegungen von Marginalisierten und Diskriminierten die Legitimität abzusprechen. Dieser Kampfbegriff soll gegen Kritik immunisieren. Rassist, Antisemit oder Sexist ist natürlich sowieso niemand. (13) Imperiale Lumpenintelligenzija auch nicht.
Jeder Vorwurf ist von dieser Warte aus pure Denunziation: Kritik an rassistischen Positionen ist keine Kritik, sondern Shitstorm und eine Unterbindung der Meinungsfreiheit (obgleich diese Meinungen von großen Medien zugleich gepusht werden und die „Opfer linken Gutmenschentums“ in tausend Talkshows eingeladen werden). Kritik an diskriminierender Sprache ist keine Kritik an der sprachlichen Abwertung bestimmter Menschen oder Menschengruppen (man denke hierbei auch an die endlose Verächtlichmachung und Schikanierung von Arbeitslosen!) (14), sondern nichts anderes als eine unzulässige Bevormundung „freier Bürger“.
Privilegierte Personen (15) fühlen sich „auf den Schlips getreten“, wenn der offizielle Dienstweg der Kritik nicht eingehalten wird oder sie überhaupt Gegenwind bekommen (was waren das doch für Zeiten, in denen man sexistische und homophobe Feindseligkeiten äußern konnte, ohne dass Betroffene die Möglichkeit hatten, sich zu beschweren!). (16) So wird Kritik zur „Zensur“. Wenn Friedrich Merz die Cancel Culture als „größte Bedrohung der Meinungsfreiheit“ ansieht, so ist es nicht gerade schwer zu erraten, worauf er sich im nächsten Wahlkampf wohl berufen wird, um der Kritik gegen sich und seine reaktionären Positionen auszuweichen. Merz instrumentalisiert also „Cancel Culture“, um damit von vornherein den politischen Gegner delegitimieren und denunzieren zu können. (17)
Entpolitisiertes Verständnis von Meinungsfreiheit
Zu beobachten ist, dass der öffentliche Diskurs sich in den letzten Jahren mehr und mehr nach rechts verschoben hat. Sog. Tabubrecher hatten dabei regen Anteil. (18) Ziel der Rechten war es, die „Grenzen des Sagbaren zu verschieben“. Dies war offenbar erfolgreich. Gegen den Extremismus der Mitte anzugehen, ist vollkommen berechtigt und notwendig (wer das anders sieht, ist womöglich Teil des Problems). Die immer wieder vorgebrachte Forderung, „mit Rechten zu reden“, weil dies ja die Meinungsfreiheit gebiete, kann als unbewusster Wunsch gedeutet werden, die Rechten das aussprechen zu lassen, was man sich insgeheim bisher nicht auszusprechen getraut hat. (19)
Die liberale Kritik an Cancel Culture krankt also daran, dass Meinungsfreiheit – die Freiheit der Meinungen – formal gedacht und in der Regel entpolitisiert wird. Dass es soziale Kämpfe und Antagonismen gibt, die eben nicht dadurch aufgehoben werden können, dass man sich im Hörsaal wechselseitig Argumente schenkt, will man nicht wahrhaben. Der Zusammenhang bestimmter Positionen mit einer gesellschaftlichen (Krisen-)Dynamik, die menschenfeindliche Standpunkte befördert, wird ausgeblendet. Stattdessen werden alle Meinungen (außer natürlich Meinungen, die gegen das Gesetz verstoßen, d. i. das Leugnen des Holocausts) gleichgemacht. Ein angeblich freier und neutraler wissenschaftlicher und demokratischer Diskurs, d. h. ein freier Austausch von Argumenten, soll die Weichen auf dem Pfad zur Wahrheit stellen.
Natürlich geht man hier von einem positivistischen Wissenschaftsverständnis aus, das keinen Unterschied macht zwischen einer natürlichen Ordnung, die auch ohne Zutun des Menschen das wäre, was sie ist (z. B. die Planetenbewegung), und einer objektivierten sozialen Ordnung, die aber historisch kontingent ist, also erst durch das menschliche Handeln selbst entstanden ist. Positivistisches Denken kann die Wirklichkeit nur nachzeichnen, sie aber nicht als falsche oder entfremdete Wirklichkeit kritisieren. Es lässt „die bestehende Wirklichkeit als einzig mögliche und historisch notwendige erscheinen“. (20)
Bagatellisierung und Leugnung von Unterdrückungsmechanismen
Ganz und gar nicht nüchtern werden die herrschenden Verhältnisse von den Cancel-Culture-Kritikern „analysiert“. Sie werden vielmehr blind vorausgesetzt, ihre katastrophalen Folgen für Mensch und Natur werden bagatellisiert, verzerrt, naturalisiert oder ganz geleugnet.
Dass die Cancel-Culture-Kritik nur eine bürgerliche Kritik bleibt, also eine, die keinen Zusammenhang zum kapitalistischen Gehäuse der Hörigkeit herzustellen vermag, zeigt etwa der Publizist (und Novo-Redakteur) Kolja Zydattis, wenn er folgendes Cancel-Culture-Ereignis von 2017 dokumentiert: „Ein geplanter Vortrag des Bundesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zum Thema ‚Polizeialltag in der Einwanderungsgesellschaft‘ wird abgesagt. Zuvor hatten linke Gruppierungen gegen die Veranstaltung mobilisiert. Auch ein offener Brief von 60 Wissenschaftlern der Goethe-Universität und anderer deutscher Hochschulen fordert, Wendt nicht sprechen zu lassen. Der Polizeigewerkschaftschef verstärke ‚rassistische Denkstrukturen‘ und positioniere sich ‚fernab eines aufgeklärten Diskurses‘. Wendt hatte in Bezug auf die Merkel’sche Grenzöffnung für Geflüchtete 2015 davon gesprochen, dass Deutschland ‚kein Rechtsstaat‘ sei, und behauptet, Polizeibeamte in Deutschland würden kein sogenanntes Racial-Profiling machen“. (21)
Positionen, die eine Abschottung befördern, Geflüchtete als Störfaktoren und Sicherheitsrisiko ansehen und rassistische Polizeigewalt verharmlosen, soll man also noch „ergebnisoffen“ diskutieren. Eine Forderung nach ergebnisoffenem Diskutieren unterschlägt dabei, dass hier längst „Ergebnisse“ vorliegen. (22) Man muss nicht jeden Scheiß diskutieren, vor allem dann, wenn klar ist, dass das zu Diskutierende den Diskurs und die öffentliche Meinung weiter nach rechts verschieben soll (23) und Kritik sowieso als haltlose linke Intoleranz abgekanzelt wird.
Ergebnisoffene Diskussionen – aber worüber?
Von linker oder linkerer Seite ist sicherlich anzumerken, dass so eine Agitation unzureichend ist und der Rückbezug auf „aufgeklärte Diskurse“ zunächst einigermaßen naiv anklingt. Eine darüber hinausweisende, weitergehende Kritik, die die Fluchtursachen thematisiert (24) und sie in den Zusammenhang mit der Krise des Kapitalismus stellt, würde den liberalen Kritikern der Cancel Culture allerdings nicht einmal im Traum einfallen. Kein Kritiker der Cancel Culture kam jemals auf die Idee, die Schließung von Krankenhäusern, Bibliotheken und Schwimmbädern aus „betriebswirtschaftlichen Gründen“ als Cancel Culture zu bezeichnen (oder alle Arten von Austeritätspolitik und Strukturanpassungsreformen des IWF usw.). Können die Menschen ihre Arbeitskraft nicht erfolgreich verkaufen, um so am Verwertungsprozess des Kapitals teilzunehmen, sind sie also nur noch „sozialer Abfall“ und ein „Sicherheitsrisiko“ für die angeblich „offene Gesellschaft“, so wird ihre Existenz real gecancelt, sie mögen dabei unterschiedliche Meinungen frei und offen diskutieren, soviel sie wollen …
Im Gegenteil: So weit darf der Raum der freien Meinung und Diskussion dann doch nicht sein, wenn darin gewagt wird, den geheiligten Kapitalismus in Frage zu stellen? Sich die Freiheit zu nehmen, die Schranken und Zwänge bürgerlicher Freiheit zu kritisieren und anzukreiden, (25) wäre für manche sicher ein „Missbrauch der Freiheit“ durch die „Feinde der Freiheit“, vor allem dann, wenn jene Kritik sich tatsächlich nicht auf Sprache und argumentum ad hominem beschränken, sondern zu ihrer Verwirklichung voranschreiten würde.
Die Verlogenheit der bürgerlichen Kritiker der Cancel Culture liegt gerade darin, dass die bürgerliche Öffentlichkeit selbst nicht in der Lage oder willens ist, neutral-nüchtern und ergebnisoffen zu argumentieren, wenn etwa von Enteignung (zuungunsten und nicht zugunsten des Kapitals) die Rede ist (26) oder wenn das „K-Wort“ auch nur ausgesprochen wird, d. h. wenn von einigen ansatzweise der Kapitalismus als grundsätzliches Problem in Betracht gezogen wird! Hier wird kein Voltaire bemüht … Prompt kommt ein aggressiver Shitstorm des liberalen Twitter-Mobs (natürlich wieder nur Zufall, dass es meist Männer sind). (27) Das bürgerliche Ideal eines ergebnisoffenen Debattierens blamiert sich an der Wirklichkeit seiner bürgerlichen Borniertheit!
Zwänge und Herrschaftsstrukturen auf die Tagesordnung!
Die Leere und Sinnlosigkeit des monströsen kapitalistischen Selbstzwecks (G-W-G’) findet seinen Ausdruck in der Leere und Haltlosigkeit identitär aufgeladener Positionen („freie Fahrt für freie Bürger“ o. ä.). Gerade dann, wenn Identitäten in die Krise geraten, weil ihre gesellschaftlichen Grundlagen wegbrechen, werden sie umso heftiger verteidigt. Ihr Zerfall oder Obsoletwerden wird einer „äußeren Bedrohung“ angelastet (von Linken, Politikern, Migranten, Feministinnen, der „Homo-Lobby“ usw.). Das Beharren auf formaler Korrektheit eines „herrschaftsfreien“ Diskutierens führt schlussendlich dazu, dass jenes, was als „herrschaftsfrei“ und „demokratisch“ ausgesprochen werden „darf“ – was als „normal“ gelten soll –, weiter nach rechts verschoben wird.
Damit wird nicht alle bürgerliche Kritik an der Cancel Culture falsch (wie an irgendwelchen unsinnigen Säuberungen von historischen Artefakten, affektivem Shitstormen anstatt des Diskutierens), jedoch müsste sie über ihre bürgerliche Borniertheit hinauswachsen, wenn sie denn einen Beitrag zur Ideologiekritik gegen die allgemeine Verrohung leisten wollen würde. Die bürgerliche Cancel-Culture-Kritik mit ihrem idealisierten Liberalismus und ihrem Festhalten an der kapitalistischen Real-Metaphysik (manchmal als „gesunder Menschenverstand“ zusammengefasst) macht sie jedoch eher mit rechten Positionen kompatibel oder, wie es im populären Jargon heißt, anschlussfähig an diese. Nicht zufällig also, dass einige Novo-Autoren auch für Magazine wie Achse des Guten oder Eigentümlich frei schreiben.
Tatsächlich liegt der Fokus der bürgerlichen Cancel-Culture-Kritik nicht in der Kritik rechter Cancel Culture: Man denke hierbei an die „Politische Männlichkeit“, (28) die aggressiv für das Patriarchat mobilisiert, und an die Hetze gegen Fridays for Future. (29) Das Verbot der Gender-Studies in Ungarn zählte den liberal/konservativen und rechten Kritikern anscheinend nicht als Cancel Culture. (30) Im Gegenteil: Gelten doch Gender-Studies vielen als Pseudowissenschaft, welche abgeschafft gehört!
Das Entscheidende in der Kritik ist die Frage nach den Inhalten und nicht die Formalität eines sog. herrschaftsfreien Diskurses. Bewegt man sich im Fahrwasser, aller Welt Meinungen frei und offen diskutieren zu wollen, folgt man der liberalen Kritik an der Cancel Culture, versteift man sich also auf ein formales Kriterium, so bleibt die Frage nach dem historischen und gesellschaftlichen Kontext jener „umstrittenen“ Positionen unbeantwortet. Ebenso bleiben jene Zwänge und Herrschaftsstrukturen, die eine offene Diskussion verhindern (oder wenigstens sehr schwierig machen) – etwa über die Möglichkeit einer nicht-kapitalistischen Produktionsweise – unthematisiert. Aber genau dies steht unbedingt auf der Tagesordnung! (31)
(1) Die folgenden Andeutungen und Zitate verweisen auf den Sammelband von Sabine Beppler-Spahl (Hg.): Cancel Culture und Meinungsfreiheit – Über Zensur und Selbstzensur, Edition Novo, Frankfurt 2022.
(2) Vgl.: https://www.fr.de/panorama/jk-rowling-neues-buch-boeses-blut-vorwurf-transphobie-harry-potter-autorin-90045507.html
(3) So etwa in Polen: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/harry-potter-polnische-priester-verbrennen-buecher-von-j-k-rowling-a-1260746.html
(4) Stefan Laurin: Ein Angriff auf die Aufklärung, in: Beppler-Spahl (Hg.), a. a. O., S. 175–190.
(5) Helen Pluckrose, James Lindsay: Zynische Theorien – Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt, München 2022, zuerst Durham NC 2020.
(6) Autoritäre Tendenzen wurden bekanntlich auch in der deutschen Queer-Szene festgestellt: Patsy L’Amour Lalove (Hg.): Beißreflexe – Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Berlin 2017. Nicht besser sieht es in der antirassistischen Szene aus: Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Freiheit ist keine Metapher – Antisemitismus, Migration, Rassismus, Religionskritik, Berlin 2018.
(7) Zur Kritik des Postmodernismus siehe: Terry Eagleton: Die Illusionen der Postmoderne, Stuttgart/Weimar 1997, zuerst Oxford 1996, sowie Robert Kurz: Die Welt als Wille und Design: Postmoderne, Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise, Berlin 1999, sowie ders.: Der Kampf um die Wahrheit – Anmerkungen zum postmodernen Relativismusgebot in der gesellschaftskritischen Theorie, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr. 12, Angermünde 2014, S. 53–76.
(8) Vgl. dazu Leni Wissen: Die sozialpsychische Matrix des bürgerlichen Subjekts in der Krise – Eine Lesart der Freud’schen Psychoanalyse aus wert-abspaltungskritischer Sicht, in: exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft Nr. 14, Berlin 2017, S. 29–49.
(9) Vgl. dazu: Sama Maani: Respektverweigerung – Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht, Klagenfurt/Cleovec 2015.
(10) Auf Pluckrose und Lindsay kann im Folgendem nicht weiter eingegangen werden.
(11) Vgl. dazu: Gerhard Stapelfeldt: Der Aufbruch des konformistischen Geistes – Thesen zur Kritik der neoliberalen Universität, Hamburg 2011.
(12) Vgl. dazu: Peter Bierl: Unmenschlichkeit als Programm, Berlin 2022, sowie Gerbert van Loenen: Das ist doch kein Leben mehr! – Warum aktive Sterbehilfe zu Fremdbestimmung führt, Frankfurt, 2. Aufl. 2015, zuerst Amsterdam 2009.
(13) Das Satiremagazin Titanic hat dieses Leugnen und Herunterspielen von Antisemitismus vor einigen Jahren auf den Punkt gebracht: https://shop.titanic-magazin.de/war-hitler-antisemit.html.
(14) Vgl. dazu: Anna Mayr: Die Elenden – Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht, Berlin, 3. Aufl. 2021. Als wenn es das Normalste auf der Welt wäre, wird auch seitens der Kulturindustrie fleißig pauschalisiert und gehetzt, vgl. Britta Steinwachs: Zwischen Pommesbude und Muskelbank – Die mediale Inszenierung der „Unterschicht“, Münster 2015.
(15) Wie z. B. Herfried Münkler: Vgl. Peter Nowak: Münkler-Watch – Neue Form studentischen Protestes?, Telepolis vom 11.5.2015, https://www.heise.de/tp/news/Muenkler-Watch-Neue-Form-studentischen-Protestes-2639903.html. Vgl. auch https://www.wsws.org/de/articles/2015/06/20/medi-j20.html
(16) Kein Scherz: Jasper von Altenbockum (von der FAZ) schreibt in dem von mir hier aufgeführten Novo-Sammelband ernsthaft über die Adenauer-Zeit: „Die Frage ist allerdings, ob die politischen Sitten damals nicht wesentlich offener, toleranter, interessierter, streitbarer waren als heute. Debatten über Thilo Sarrazin, Boris Palmer, Sahra Wagenknecht und Hans-Georg Maaßen zeigen in den jeweiligen Parteien und darüber hinaus ein Maß an politischer Prüderie, dass selbst die Adenauer-Zeit, die in anderer Beziehung wahrlich verklemmt und Tabu-beladen war, wie ein Hort der Freiheit wirkt“ (S. 73f). Welch eine Verhöhnung der Opfer des Adenauer-Regimes! (Kommunisten, Wiederbewaffnungs- und Aufrüstungsgegner, Homosexuelle u. a.)
(17) Vgl. Der Dunkle Parabelritter: Fritz Meinecke und die Cancel Culture Gefahr: https://www.youtube.com/watch?v=-Uzu9Whzd9g.
(18) Vgl. dazu: Annett Schulze, Thorsten Schäfer (Hg.): Zur Re-Biologisierung der Gesellschaft – Menschenfeindliche Konstruktionen im Ökologischen und im Sozialen, Aschaffenburg 2012.
(19) Vgl. Christine Kirchhoff: Gefühlsbefreiung by proxy – Zur Aktualität des autoritären Charakters, in: Katrin Henkelmann, u. a. (Hg.): Konformistische Rebellen – Zur Aktualität des autoritären Charakters, Berlin 2020, S. 213–230.
(20) Miladin Zivotić: Proletarischer Humanismus – Studien über Mensch, Wert und Freiheit, München 1972, zuerst Beograd 1969, S. 39.
(21) Kolja Zydatiss: Cancel Culture – Eine Begriffsbestimmung, in: Beppler-Spahl (Hg.): a. a. O., S. 50–65, hier: S. 53f.
(22) Vgl. dazu: Herbert Böttcher: „Wir schaffen das!“ – Mit Ausgrenzungsimperialismus und Ausnahmezustand gegen Flüchtlinge, 2016, https://exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=20&posnr=554&backtext1=text1.php
(23) Zu Rainer Wendt, vgl. https://amnesty-polizei.de/das-prinzip-rainer-wendt-ein-kommentar/
(24) Vgl. dazu: Georg Auernheimer: Wie Flüchtlinge gemacht werden – Über Fluchtursachen und Fluchtverursacher, Köln 2018.
(25) Vgl. dazu z. B.: Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit – Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg 2000 sowie insbesondere: Robert Kurz: Blutige Vernunft – Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen Werte, Bad Honnef 2004.
(26) Tomasz Konicz: „Genosse Kühnert“, Telepolis vom 12.9.2020, https://www.heise.de/tp/features/Genosse-Kuehnert-4892403.html
(27) Vgl. Der Fall Elisa Aseva – Das Gespenst des Kommunismus, Neues Deutschland vom 9.6.2022, https://www.nd-aktuell.de/artikel/1164402.der-fall-elissa-asesva-das-gespenst-des-kommunismus.html
(28) Vgl. dazu: Susanne Kaiser: Politische Männlichkeit – Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen, Frankfurt 2020.
(29) Vgl.: Enno Hinz, Lukas Paul Meya: Gegenwind für die Klimabewegung, akweb.de vom 12.11.2019 bzw. Analyse & Kritik Nr. 654.
(30) Vgl. https://www.tagesspiegel.de/wissen/zwei-jahre-nach-dem-verbot-wie-geht-es-den-gender-studies-in-ungarn/26978612.html
(31) Vgl. Tomasz Konicz: Emanzipation in der Krise, https://www.konicz.info/2022/10/12/emanzipation-in-der-krise/.
Thomas Meyer ist Autor und Redakteur der Zeitschrift: Exit! – Krise und Kritik der Warengesellschaft (exit-online.org).