wir sind nicht allein

Internationaler Haftbefehl für Pınar Selek

Aufruf für eine internationale Protestdelegation zum Prozess am Istanbuler Strafgerichtshof, 31. März 2023

| Lou Marin

Pinarbeitrag
Foto: privat

In der GWR 471 vom September 2022 berichteten wir über die langjährige Verfolgung von Pınar Selek durch den türkischen Staat. Die queer-feministische gewaltfreie Anarchistin (so ihre Selbstbezeichnung bei Vorträgen) lebt heute im französischen Exil in Nizza. Inzwischen gibt es eine neue Etappe in der endlosen Verfolgungsgeschichte gegen sie:

Am 6. Januar 2023 hat der türkische Strafgerichtshof in Istanbul einen internationalen Haftbefehl gegen sie ausgesprochen. Bereits am 21. Juni 2022 hatte der Oberste Gerichtshof der Türkei ihren letzten Freispruch vom Dezember 2014 aufgehoben. Sie war dadurch wieder mit der früheren Gültigkeit einer bereits ausgesprochenen lebenslänglichen Haftstrafe konfrontiert. Ein neuerlicher Prozess in der Türkei gegen sie ist nun für den 31. März 2023 angesetzt. (1) Ursprünglich war sie als Gewaltfreie mit willkürlich fabrizierten, absurden Anschuldigungen für ein Attentat auf dem Istanbuler Gewürzmarkt im Jahr 1998 inhaftiert und angeklagt worden. Sie war zweieinhalb Jahre in Haft, wurde dort gefoltert, weil ihre Publikationen über die Verfolgung der Armenier*innen und ihre soziologischen Forschungen über Kurd*innen, Trans-Menschen, Kriegsdienstverweigerer, Straßenkinder und Prostituierte eine international bekannt gewordene Regimekritik darstellten, die das Erdogan-Regime in Verlegenheit brachte. Ähnlich wie jetzt auch die Erdbebenopfer dem zynischen Autokraten Erdoğan seine über Jahrzehnte verfehlte Politik in der Gebäudestatik vorwerfen, während er, den Opfern zum Hohn, nur meint, am ersten Tag nach dem Beben habe nicht gleich alles geklappt, aber inzwischen laufe die Regierungsversorgung der Opfer reibungslos. Und wehe den Menschen, die da zu widersprechen wagen. Da werden dann gleich alle sozialen Medien abgeschaltet und so die öffentliche Kritik unterdrückt.
Die von Pınar Selek 2017 angenommene französische Staats
bürgerschaft werde nicht ausreichen, um sie vor dem internationalen Haftbefehl und damit Erdoğan zu schützen, so befürchten die vor allem im französisch- und deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren entstandenen Solidaritätsinitiativen für ihre Person, die sich als „Europäische Koordination der Solidaritätsinitiativen für Pınar Selek“ organisiert haben. Diese Koordination schrieb in einer Erklärung: „Wir solidarisieren uns voll und ganz mit all denen, die sich für die Frauenrechte, die Rechte der LGBTQI (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Queer, Intersexuelle), der Minderheiten (der Alewit*innen, Armenier*innen, Kurd*innen usw.) in der Türkei einsetzen.“ (2) So wie die Verharmlosung seiner Politik bei erdbebengefährdeten Gebäuden wird auch die Verfolgung Pınar Seleks als „politisches Ablenkungsmanöver“ und „Manipulation“ Erdoğans im Vorfeld der kommenden Wahlen in der Türkei eingeschätzt.
Die Solidaritätskomitees in Frankreich, unterstützt von zahlreichen öffentlichen Personen aus intellektuellen Kreisen, Kunst und Kultur, fordern derzeit vehement, dass sich die bekannt Erdoğan-freundlichen französischen Behörden (3) dem Haftbefehl widersetzen, dass sie im Gegenteil Pınar Selek schützen und offiziell Beschwerde beim türkischen Staat einreichen. Sie wollen außerdem eine internationale Delegation zum Prozess am 31. März nach Istanbul entsenden. Am 29. März 2023 findet im Auditorium des Pariser Rathauses eine Solidaritätsveranstaltung für Pınar Selek im Vorfeld des Prozesses, zu dem sie nicht persönlich erscheinen wird, statt.

(1) Presseerklärung: „Internationaler Haftbefehl und neuer Prozess für Pınar Selek“, Europäische Koordination der Solidaritätskomitees für Pınar Selek, 16. Januar 2023.
(2) Zit. nach: „Appel à soutien et solidarité avec Pınar Selek, victime de harcèlement judiciaire en Turquie“, in: www.ldh-france.org
(3) Vgl. Ercan Aktaş: „Wir Kurd*innen sind keine Opfer!“ Kommentar zu den Pariser Mordanschlägen vom 23.12.2022, in: GWR 476, Feb. 2023, S. 12.

Aktuelle Infos und Teilnahmemöglichkeiten bei der Pariser Veranstaltung, in Französisch über:
Mail: direction@ldh-france.org
Link: https://www.ldh-france.org/mandat-darret-international-et-nouvelle-annulation-de-son-acquittement/