die waffen nieder

Gefährlicher Überbietungswettbewerb

Die neue Dimension der Waffenlieferungen an die Ukraine

| Jürgen Wagner

BeitragÜberbietung
Foto: Uwe Hiksch (CC BY-NC-SA 2.0)

Der seit einem Jahr tobende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat nach Angaben von US-General Mark Milley bereits Anfang November 2022 etwa 40.000 ukrainischen Zivilist*innen, 100.000 russischen und ebenso vielen ukrainischen Soldat*innen das Leben gekostet. (1) Ein jahrelanger Stellungskrieg mit unzähligen Opfern, wie während des Ersten Weltkriegs, ist wahrscheinlich. Auch die Gefahr eines Super-GAUs in ukrainischen AKWs infolge der Kriegshandlungen ist nicht gebannt. Trotzdem gibt es kaum Anstrengungen für einen Waffenstillstand oder Verhandlungen. Statt diplomatische Arbeit für eine Deeskalation zu leisten, verkündet die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock Ende Januar 2023 vor dem Europarat: „Wir befinden uns in einem Krieg mit Russland“. (2) Waffenproduzenten wie Rheinmetall und Co. sind die großen Profiteure des Krieges und der dadurch in ganz Europa ausgelösten Remilitarisierung. Die Problematik der Waffenlieferungen ins Kriegsgebiet beleuchtet für die GWR-Leser*innen Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung. (GWR-Red.)

Bei der Frage deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine fällt ein Tabu nach dem anderen. Inzwischen zeigen sich auch gestandene Hardliner besorgt, wenn etwa der langjährige militärische Chefberater im Kanzleramt, Ex-Brigadegeneral Erich Vad, bereits eindringlich vor einer „Eigendynamik“ und einer „Rutschbahn“ warnte, die in einen direkten Krieg der NATO mit Russland führen könnte. „Was sind die Kriegsziele?“, fragte Vad völlig zu Recht. „Will man mit den Lieferungen der Panzer Verhandlungsbereitschaft erreichen? Will man damit den Donbas oder die Krim zurückerobern? Oder will man Russland gar ganz besiegen? Es gibt keine realistische End-State-Definition. Und ohne ein politisch strategisches Gesamtkonzept sind Waffenlieferungen Militarismus pur.“(3)

Waffen! Waffen! Waffen!

In Sachen Waffenlieferungen sind die USA weiterhin der zentrale Akteur, der bis Anfang Februar 2023 Kriegsgerät im Wert von rund 30 Mrd. Dollar in die Ukraine geliefert hat. In der EU ist Deutschland Spitzenreiter, nach den letzten Zusagen beim Ramstein-Treffen Ende Januar 2023 summieren sich seine Beiträge auf 3,4 Mrd. Euro. Bezahlt werden die deutschen Waffenlieferungen nicht aus dem Verteidigungshaushalt, sondern aus dem Allgemeinen Haushalt. Außerdem gibt es ein EU-Budget für Waffenlieferungen, in das Deutschland 25 Prozent einzahlt. Der Name dieses Budgets ist zynisch: „Europäische Friedensfazilität“. Bis Februar 2023 wurden über die „Friedensfazilität“ 3,6 Mrd. Euro für Waffen an die Ukraine bezahlt.

Doch nicht nur die Beträge, auch die Feuerkraft der gelieferten Waffen nimmt ständig zu. Man kann förmlich zusehen, wie die Eskalationsleiter immer weiter hochgeklettert wird: Erst waren es Helme, dann Panzerhaubitzen, dann Flakpanzer (Gepard), anschließend Schützenpanzer (Marder) und Ende Januar 2023 wurde dann auch noch grünes Licht für die Lieferung von zunächst 14 Leopard-2-Kampfpanzern gegeben. Am 7. Februar 2023 genehmigte die Bundesregierung zudem die Ausfuhr von bis zu 178 Leopard-1-Kampfpanzern. Kaum ist eine rote Linie überschritten, wird gleich die nächste ins Visier genommen, wenn zum Beispiel von Christoph Heusgen, dem Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, inzwischen auch die Lieferung von Kampfflugzeugen gefordert wird. (4)
Dagegen warnt inzwischen zum Beispiel auch der eigentlich auch eher zu den Hardlinern zählende Markus Kaim von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“, die „Politik“ drohe jedes „Maß und Mitte zu verlieren“, sie laufe Gefahr zur „Getriebenen“ derjenigen zu werden, die am lautesten nach immer mehr Waffen schreien würden: „Die Ukraine solle das erhalten, was für das Selbstverteidigungsrecht wichtig sei. Angesichts dieser dürftigen Begründung für deutsche Waffenlieferungen stockt einem fast der Atem: Mit einem derartigen Freibrief ließe sich auch die Lieferung taktischer Nuklearwaffen an die ukrainischen Streitkräfte rechtfertigen.“ (5)

Torpedo gegen Verhandlungslösungen

Eine ganze Reihe von Gründen sprechen gegen die Waffenlieferungen. Am prominentesten wird dabei auch aus Ecken, die der Friedensbewegung gänzlich fern stehen, die Gefahr einer Eskalation hin zu einem westlich-russischen Krieg benannt. Seit Mai 2022 werden in Deutschland ukrainische Soldaten für die Panzerhaubitzen 2000 ausgebildet, seit Ende Januar 2023 wird hierzulande an den Marder-Schützenpanzern trainiert und bald soll auch die Leopard-2-Ausbildung folgen.

Wenn aber Waffen im vollen Wissen geliefert werden, dass sie nur zu einem Abnutzungskrieg und weiteren Todesopfern führen, dann ist womöglich genau das das zynische Ziel des Unterfangens

Das ist brandgefährlich: Erinnert sei hier an das im Mai 2022 erschienene Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages „Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme“. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, die Lieferung von Kriegsgerät sei noch nicht als Kriegsbeteiligung zu werten, die Ausbildung ukrainischer Soldaten an diesen Geräten hingegen schon. (6)
Das ist aber nur ein Grund, gegen diese Waffenlieferungen zu sein. Mindestens ebenso wichtig ist die Frage, was mit ihnen wohl bezweckt werden soll: Erinnert sei deshalb noch einmal daran, dass russische und ukrainische Vertreter*innen ein Dokument ausgehandelt hatten, das Ende März 2022 unterschriftsreif vorgelegen hatte. Kernpunkte dieser Istanbul-Verhandlungen waren ein sofortiger Waffenstillstand, die Neutralität der Ukraine (mit Garantiestaaten) sowie die Ausklammerung der offenen Fragen um Teile des Donbas sowie der Krim, verbunden mit der Vereinbarung, eine nicht-militärische Lösung innerhalb der nächsten 15 Jahre anzustreben. (7)
Damit war ein Weg aus diesem Krieg vorhanden, was dann im Detail geschah, ist bis heute unklar. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass der Westen der ukrainischen Regierung unmissverständlich nahelegte, diese Verhandlungslösung abzulehnen, verknüpft mit Zusagen für Waffenlieferungen, um den Kampf gegen Russland „erfolgreich“ fortsetzen zu können. Schon am 5. April 2022 berichtete die Washington Post, diverse NATO-Staaten würden eine Fortsetzung der Kampfhandlungen befürworten: „Das führt zu einer unangenehmen Realität: Einige in der NATO halten es für besser, wenn die Ukrainer weiter kämpfen und sterben, als dass ein Friede herauskommt, der zu früh und mit zu hohen Kosten für Kiew und den Rest Europas verbunden ist.“ (8)
Diese Angaben werden auch durch Aussagen des damaligen israelischen Premiers Naftali Bennett betätigt: „Ein Waffenstillstand sei damals, so Bennett, in greifbarer Nähe gewesen, beide Seiten waren zu erheblichen Zugeständnissen bereit. Doch vor allem Großbritannien und die USA hätten den Prozess beendet und auf eine Fortsetzung des Krieges gesetzt. […] Auf die Frage, ob die westlichen Verbündeten die Initiative letztlich blockiert hätten, antwortete Bennett: ‚Im Grunde genommen, ja. Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht.‘ Sein Fazit: ‚Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten.‘ “ (9)

Raus aus der Eskalationslogik

Genau zu dem Zeitpunkt, als die Ukraine und Russland also Ende März 2022 kurz vor einer Verhandlungslösung standen, nahmen Umfang und Feuerkraft der westlichen Waffenlieferungen enorm zu. Das war nichts anderes als die klare Botschaft an die Adresse der Ukraine, den Krieg fortzusetzen. Doch mit welchem Ziel? Oft ist zu hören, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen, aber was heißt das und vor allem: ist das realistisch?
Das ist nicht der Fall, zumindest wenn man jemandem Glauben schenkt, der es wissen sollte: US-Generalstabschef Mark Milley. Er schaltete sich bereits im November 2022 mit dem Argument in die Debatte ein, die Ukraine habe mit dem russischen Rückzug aus Cherson das Maximum des Möglichen erreicht, ein Sieg über Russland auf dem Schlachtfeld sei unmöglich, es sei deshalb nun wichtig, sofortige Verhandlungen aufzunehmen. (10) Stattdessen werden nun also (nicht nur) deutsche Kampfpanzer geliefert, deren einziger Zweck darin besteht, eine ukrainische Offensive zu unterstützen, die nach Meinung von immer mehr Expert*innen keine Entscheidung auf dem Schlachtfeld wird herbeiführen können.
Gleichzeitig werden Verhandlungen weiter nahezu kategorisch abgelehnt. Wenn aber Waffen im vollen Wissen geliefert werden, dass sie nur zu einem Abnutzungskrieg und weiteren Todesopfern führen, dann ist womöglich genau das das zynische Ziel des Unterfangens. Ungeschminkt beschreibt einer der renommiertesten US-Politikwissenschaftler, John Mearsheimer, dieses Kalkül mit folgenden Worten: „Wir haben beschlossen, dass wir Russland in der Ukraine besiegen werden. […] Man könnte argumentieren, dass der Westen, insbesondere die Vereinigten Staaten, bereit sind, diesen Krieg bis zum letzten Ukrainer zu führen. Und das Endergebnis ist dann, dass die Ukraine tatsächlich als Land zerstört wird. […] Tatsache ist, dass die Vereinigten Staaten den Ukrainern nicht erlauben werden, einen Deal abzuschließen, den die Vereinigten Staaten für inakzeptabel halten.“(11)
In den USA mehren sich die Stimmen, die Verhandlungen fordern und auch die nicht enden wollenden westlichen Waffenlieferungen in Frage stellen. Es steht zu hoffen, dass auch hierzulande immer mehr Menschen die Sackgasse erkennen, in die hier derzeit mit Höchstgeschwindigkeit gefahren wird. Abschließend dazu noch einmal Ex-Brigadegeneral Erich Vad: „Man kann die Russen weiter abnutzen, was wiederum hundertausende Tote bedeutet, aber auf beiden Seiten. Und es bedeutet die weitere Zerstörung der Ukraine. […] Es muss sich in Washington eine breitere Front für Frieden aufbauen. Und dieser sinnfreie Aktionismus in der deutschen Politik, der muss endlich ein Ende finden. Sonst wachen wir eines Morgens auf und sind mittendrin im Dritten Weltkrieg.“ (12)

(1) Müller, Fabian: Verluste im Ukraine-Krieg: US-General nennt 200.000 getötete oder verwundete Soldaten, Merkur, https://www.merkur.de/politik/ukraine-krieg-verluste-russland-soldaten-getoetet-verwundet-us-general-selenskyj-putin-91906557.html
(2) Diekmann, Patrick: Streit zwischen Scholz und Baerbock. Ein Sturm zieht auf, t-online, 01.02.2023, https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/aussenpolitik/id_100120520/streit-zwischen-olaf-scholz-und-annalena-baerbock-um-deutsche-
aussenpolitik-.html
(3) Ross, Annika: Erich Vad: Was sind die Kriegsziele?, Emma, 12.01.2023.
(4) Heusgen befürwortet Lieferung von Kampfjets an die Ukraine, Deutschlandfink, 29.01.2023.
(5) Kaim, Markus: Warum nicht gleich Nuklearwaffen? Spiegel Online, 19.01.2023.
(6) Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages: Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme, Sachstand, 16.03.2022.
(7) Waffenstillstand und Frieden für die Ukraine, IPPNW, 15.11.2022.
(8) Birnbaum, Michael, Ryan, Miss: NATO says Ukraine to decide on peace deal with Russia — within limits, Washington Post, 05.04.2022.
(9) Scheidler, Fabian: Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert? Berliner Zeitung, 06.02.2023.
(10) Baker, Peter: Top U.S. General Urges Diplomacy in Ukraine While Biden Advisers Resist, New York Times, 10.11.2022.
(11) Kolenda, Klaus-Dieter: „... im Grunde ein Krieg zwischen den USA und Russland“, Telepolis, 26.04.2022; siehe auch ganz ähnlich die Aussagen von Ex-Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat: „Die Ukraine kämpft um ihre Freiheit, um ihre Souveränität und um die territoriale Integrität des Landes. Aber die beiden Hauptakteure in diesem Krieg sind Russland und die USA. Die Ukraine kämpft auch für die geopolitischen Interessen der USA. Denn deren erklärtes Ziel ist es, Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch so weit zu schwächen, dass sie sich dem geopolitischen Rivalen zuwenden können, der als einziger in der Lage ist, ihre Vormachtstellung als Weltmacht zu gefährden: China.“ (Interview mit General a. D. Harald Kujat, zeitgeschehen-im-fokus.ch, 18.01.2023)
(12) Ross 2023.

Jürgen Wagner ist geschäftsführender Vorstand der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Kontakt: www.imi-online.de

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