Ein neuer Insasse betritt den Gefängnishof und trifft auf ein paar Mitgefangene. „Neugierig zu erfahren, was draußen vor sich ging, näherten wir uns“, berichtet Ercole Piacentini. „‘Ich heiße Gramsci‘ [sagte der Neue]. Er fragte noch, welcher Bewegung man angehörte. Ceresa und ich sagten, wir seien Kommunisten, die anderen waren alle Anarchisten. Ehrlich gesagt wußte niemand, wer Gramsci war, er war irgendwer.“(1) Diese Schilderung findet sich in einer Fußnote in der Einleitung zum ersten Band der Gefängnishefte von Antonio Gramsci (1891–1937). Es handelt sich um die gesammelten und eben in Haft verfassten Schriften des italienischen Parteistrategen und Kulturtheoretikers, der 1926 unter Mussolini inhaftiert worden war. Von Bardolino am Gardasee bis Cefalu auf Sizilien gibt es heute kaum eine Stadt in Italien, die nicht über einen Gramsci-Platz oder eine Gramsci-Straße verfügen würde.
Für Anarchist*innen allerdings könnte die Feststellung Piacentinis auch heute noch gelten. Auch wenn all die nach Gramsci benannten Straßen und Plätze sicherlich mehr den Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens als den Verfasser einer Kulturtheorie der Herrschaft würdigen, dürfte die relative Unbekanntheit von Gramscis Schriften in der anarchistischen Theorie ein echtes Versäumnis sein. Denn der von Gramsci geprägte Begriff der Hegemonie liefert Aspekte einer Herrschaftstheorie, die auch Anarchist*innen mindestens zur Kenntnis nehmen, wenn nicht gar in ihre Ansätze integrieren sollten.
Es gibt sicherlich Ausnahmen, also Anarchist*innen, die Gramsci kennen. (2) Der post-anarchistische Autor Richard J.F. Day gehört definitiv dazu. Der hatte vor einigen Jahren ein Buch geschrieben, dessen Titel dem Anliegen dieser Glosse aber gleich wieder entgegenzustehen scheint. Es heißt nämlich Gramsci is dead. (3) Dass der Autor Gramsci 1937 an den Folgen der Haft starb, lässt sich schnell herausfinden, worum es Day aber ganz offensichtlich geht, ist ein Abschied von den Inhalten seiner Theorie.
Hier wäre dann aber zu unterscheiden zwischen dem analytischen und dem politischen Gehalt dessen, was Gramsci uns gegebenenfalls zu sagen hat. Gestorben ist für Day vor allem die politische Dimension von Gramscis Ansatz, nämlich die strategische Ausrichtung des politischen Kampfes an hegemonialen Verschiebungen und die Unterordnung der organisatorischen und alltäglichen Ausrichtung unter dieses Ziel der Erlangung von Hegemonie. Das Wort bedeutet Vorherrschaft, taucht auch bei Aristoteles und Lenin schon auf, und wurde von Gramsci theoriestrategisch neu gefüllt.
Aber es hatte zunächst auch analytischen Wert: Warum, fragte sich Gramsci Anfang der 1920er Jahre – übrigens ganz ähnlich wie die Vertreter der frühen Kritischen Theorie –, sind die Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg in den ökonomisch am weitesten fortgeschrittenen Ländern Europa, anders als in den Annahmen von Marx und Engels hinsichtlich des Verlaufs der Geschichte, gescheitert?
Die Antwort: Es ist den herrschenden Klassen gelungen, ihre eigenen Vorstellungen und Ansichten (über das, was gesellschaftlich als gut und richtig gilt) als allgemeine durchzusetzen, sie haben eine kulturelle Hegemonie errungen. (4) Für Gramsci wurde diese historische Tatsache zu einem Modell für die Analyse von Gesellschaften: Wie wird Hegemonie durch die Herstellung von Einverständnis und Konsens erzeugt? Das lässt sich für jede gesellschaftliche Formation fragen und diese Frage ist herrschaftstheoretisch immens wichtig. Sie weist nämlich darauf hin, dass Herrschaft nie allein durch Unterdrückung, also angedrohte und ausgeübte Gewalt gesichert wird, sondern immer auch über die Organisation von Übereinstimmung. Und sie zeigt auf, dass Herrschaft nie allein ökonomisch fundiert, sondern immer kulturell vermittelt ist. Indem „der Hegemoniebegriff entwickelt“ (5) wird, schrieb Gramsci, kann auch der Ökonomismus bekämpft und nachgezeichnet werden, wie Einverständnis und Affirmation durch kulturelle Praktiken hergestellt werden. Gramscis Begriff der Hegemonie, darauf hat zuletzt die Politikwissenschaftlerin Lene Kempe aus neogramscianischer Sicht hingewiesen, „verweist also vor allem auf die Vieldimensionalität von Herrschaft“ (6). Das sollte durchaus auch für anarchistische Theorie eine Feststellung für lohnende Auseinandersetzungen sein – zumal hier die Frage nach „freiwilliger Knechtschaft“, die Étienne de la Boetie schon 1550 gestellt hatte, durchaus als Vorläuferin gelten kann. (7)
Politisch wurde die Frage nach der Hegemonie allerdings dann häufig zu einer Legimitationsfigur für die strategischen und taktischen Manöver der Kommunistischen Partei(en) nach dem Motto „Wir machen jetzt nicht Revolution, es muss erst eine hegemoniale Situation erzeugt werden“, oder „Auch wenn es nicht so aussieht, als seien wir noch revolutionär, es dient alles der Hegemonie der Arbeiterklasse!“. Diese politische Dimension möchte Richard J.F. Day sterben sehen, wenn er Hegemonie als „gleichzeitig zwangsweisen und konsensuellen Kampf um Dominanz“ (8) („simultaneously coercive and consensual struggle for dominance“) beschreibt, auf den sich Anarchist*innen gar nicht erst einlassen sollten. Schließlich kämpfen wir nicht um Dominanz und Herrschaft, sondern gegen sie.
Aber weil auch Anarchist*innen und Linke überhaupt in einer sozialen Welt leben, die sie bewohnen müssen, deren herrschaftliche und ausbeuterischen Aspekte sie ablehnen und abschaffen wollen, stellt sich eben die Frage, wie sie sich innerhalb dieser Dominanzverhältnisse verhalten sollen. Ist nicht jede anarchistisch inspirierte Aktion und jeder Text in einer anarchistischen Zeitschrift auch mit der Hoffnung verbunden, gesellschaftliche Übereinkünfte, konsensuelle Politiken und Gepflogenheiten zu durchbrechen und zu verschieben?! Gramsci hatte solche Interventionen als den Kampf in „Kräfteverhältnissen“ (9) beschrieben. Herrschaft ist nie endgültig und nie einheitlich. Sie muss immer wieder neu hergestellt werden und sie rekonstruiert sich, indem Kräfte mobilisiert, in Stellung gebracht und temporär zur Durchsetzung gebracht werden. Wie sich Menschen in diesen Kräfteverhältnissen kollektiv positionieren, hat Auswirkungen auf den Bestand dieser Verhältnisse: Was für die Prügelstrafe gilt, dass sie durch das Gemisch aus Küchentischdiskussionen, wissenschaftlichen Studien, Protesten Betroffener usw. gesellschaftlich delegitimiert und damit weitgehend abgeschafft wurde, könnte im Prinzip auch dem Privateigentum oder jedem anderen Gegenstand blühen. So ließe sich also auch aus postanarchistischer Sicht proklamieren: „Rein in die Kräfteverhältnisse!“ (10)
Im Großen und Ganzen ist Gramsci in anarchistischen Bewegungen und theoretischen Absätzen bis heute „irgendwer“. Die Frage nach Strategie und Praxis innerhalb von Herrschaftsverhältnissen sollte aber deutlich machen, dass es sich durchaus auch für Leute mit anarchistischer Gesinnung lohnen würde zu wissen, wer Gramsci war und was er zu sagen hatte.
(1) Zit. n. Valentino Gerratana: „Einleitung“. In: Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Band 1, 1. Heft. Argument Verlag, Hamburg 2012, S. 21-41, hier S. 22.
(2) Es gibt eine grundlegende Studie zum Verhältnis Gramsci zu den Anarchist*innen (und umgekehrt): Carl Levy: Gramsci and the Anarchists. Bloomsbury Press, Oxford 1999. Auch auf Deutsch sind einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Weltanschauung und Politikverständnis herausgearbeitet worden: Jens Kastner: „Hegemonie, Alltag und die ‚langhaarigen und frenetischen Romantiker‘. Antonio Gramsci und der Anarchismus.“ In: Philippe Kellermann (Hg.): Begegnungen feindlicher Brüder. Zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus in der sozialistischen Bewegung. Unrast Verlag, Münster 2011, S. 86–106.
(3) Richard J. F. Day: Gramsci is dead. Anarchist Currents in the Newest Social Movements. London und Ann Arbor/ Toronto: Pluto Press/ Between the Lines 2005.
(4) Eine sehr gute Einführung bietet Benjamin Opratko: Hegemonie. Politische Theorie nach Antonio Gramsci. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2022, 4. korrig. Aufl.
(5) Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Band 7, 12. bis 15. Heft. Argument Verlag, Hamburg 1996, S. 1571.
(6) Lene Kempe: Die diskursive Seite hegemonialer Ordnungen. Eine Neubestimmung des Verhältnisses von Diskurs, Macht und Hegemonie. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2021, S. 12.
(7) Étienne de la Boetie: Von der freiwilligen Knechtschaft. Frankfurt am Main: Trotzdem Verlag 2009.
(8) Day 2005, a.a.O., S. 7.
(9) Antonio Gramsci: Gefängnishefte. Band 3, 4. und 5. Heft. Hamburg: Argument Verlag 1992, S. 495ff.
(10) Oskar Lubin: Triple A. Anarchismus, Aktivismus, Allianzen. Kleine Streitschrift für ein Upgrading. edition assemblage, Münster 2013, S. 90.