Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist der Begriff des „Helden“ wieder in aller Munde. Waren zuvor manche Fachleute noch geneigt, von „postheroischen Zeiten“ zu sprechen und sahen Gestalt und Relevanz des Helden allenfalls noch in der Jugend- und Populärkultur, namentlich einer Flut von Marvel-Verfilmungen aufbewahrt, so hat die mediale Darstellung des Kriegs als einer heroischen Abwehrschlacht dies nachhaltig verändert. Aber kann es so etwas wie Kriegshelden überhaupt geben?
Die Literaturwissenschaft scheint auf den ersten Blick wenig geeignet, diese Frage zu beantworten. Tatsächlich jedoch gehört der Umgang mit dem Konzept des Helden zu unserem täglichen Handwerk. Und auch wenn es um seine Kriterien – wie in allen Wissenschaften – Streit und Diskussion im Detail gibt, haben sich doch im Laufe der Jahrzehnte einige Grundeigenschaften herausgeschält, sogenannte Minimalkriterien, die als kanonisiert betrachtet werden können. Ohne sie zu erfüllen darf, methodisch gesprochen, kein Held als Held bezeichnet werden. Es wird im Folgenden also nicht um politische oder moralische Bewertungen menschlicher Handlungen gehen, sondern allein um die Frage, ob das (literatur)wissenschaftliche Konzept des Helden sinnvollerweise auf Soldaten in einem Krieg angewendet werden kann. Moralisch (im Sinne gesellschaftlich anerkannter Werte) zu handeln ist nämlich, nebenbei bemerkt, etwas, das Helden in der fiktionalen Welt oft gerade nicht tun. Das Charisma, das der Gestalt des Helden eigen ist, kann ein durchaus negatives sein. Moralität scheidet deshalb als definierendes Kriterium von vorne herein aus. Und da Heldentum vor allem anderen ein narratives Phänomen ist – es gibt Helden, weil von ihren Taten erzählt wird –, macht die Literaturwissenschaft bei diesem Thema einen großen Schritt heraus aus ihren Studierstuben und Bibliotheken und hinein in die non-fiktionale Wirklichkeit.
Was charakterisiert nun, literaturwissenschaftlich gesprochen, einen Helden?
Zunächst einmal, dass er handelt. Ein Held, der nur am Schreibtisch sitzt, ist keiner. Höchstens ein Pantoffelheld. Typisch für das Handeln des Helden ist, dass es ohne Rücksicht auf Gesundheit, Leib und Leben der eigenen Person geschieht. Der Held ist bereit, sein Leben einzusetzen. Würde man nur diese Kriterien zugrunde legen, müsste man Soldaten sämtlicher kriegführenden Nationen in der Tat als Helden bezeichnen. Dies tun aber höchstens ihre Regierungschefs und Kommandeure, und das mit gutem Grund. Denn zum Konzept des Helden gehört außerdem die sogenannte Transgressivität, das heißt: das Überschreiten von Grenzen und willentliche Brechen von Regeln. Und schließlich handelt ein Held immer aus eigenem Antrieb. Es gibt kein Heldentum auf Befehl. Der Gestalt des Helden haftet deshalb in der Weltliteratur immer etwas Subversives, die bestehende Ordnung Gefährdendes an. Im mittelhochdeutschen Nibelungenlied ist der Held Siegfried eine Gefahr für König Gunther, selbst, als er ihm noch den Steigbügel hält. Es ist kein Wunder, dass er durch den Mord Hagens schließlich aus der sozialen Ordnung ausgetilgt wird – wenn auch mit verheerenden Folgen. Ein ukrainischer Soldat, der nicht fünf, sondern fünfzig Russen getötet hat, hat aber trotzdem nur Befehle ausgeführt, meinethalben über-ausgeführt. Er verletzt keine Regeln, sondern fügt sich in das hierarchische Gefüge militärischer Organisation. Der Sinn dieser Organisation ist nämlich einzig und allein, Menschen auszusenden, damit sie auf Befehl andere Menschen töten und den Sieg über einen erklärten Feind davontragen. Selbst fürchterliche Gewaltexzesse brechen diese Logik nicht – im Gegenteil. Rechtsgebilde wie die Haager Landkriegsordnung wurden kriegerischer Gewalt von außen hinzugefügt, in der Hoffnung, sie einzuhegen, und ich wage zu bezweifeln, dass es auch nur einen Krieg gegeben hat, in dem sie nicht gebrochen wurden. Auch aus eigenem Antrieb handelt ein Soldat nur äußerst selten, selbst, wenn mit Blick auf die Ukraine dieser Eindruck zuweilen erweckt wird. Die ukrainische Regierung erließ 2014, nach der Annektion der Krim durch Russland, eine Wehrpflicht für alle Männer – ausschließlich Männer – im Alter von 18 bis 60 Jahren. Seit Beginn des Angriffskriegs durch Russland dürfen sie das Land nicht mehr verlassen. Im September 2022 wurde das in der Ukraine zuvor schon eingeschränkte Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesetzt. Wer den Militärdienst aktiv verweigert, dem drohen laut dem ukrainischen Kriegsrecht drei bis fünf Jahre Gefängnis.
Es gibt kein Heldentum auf Befehl. Der Gestalt des Helden haftet deshalb in der Weltliteratur immer etwas Subversives, die bestehende Ordnung Gefährdendes an.
Ein Soldat, der tatsächlich nur eigenen Impulsen gehorchen würde und sich an Regeln nicht gebunden fühlte, wäre für keine Armee der Welt tragbar. Fünfzig Prozent der notwendigen Minimalkriterien, um von einem Helden sprechen zu können, sind somit bei kämpfenden Soldaten nicht erfüllt. Schaut man sich um, wer diese Kriterien besser erfüllen könnte, wird man paradoxerweise am ehesten bei den Deserteuren fündig – bei jenen Menschen also, die bis heute öffentlich als „Feiglinge“ und „Verräter“ geschmäht werden, egal, um welchen Krieg es geht, und in der öffentlichen Wahrnehmung meist als Gegenbild des Helden angesehen werden. Dies allerdings liegt wohl eher an der jahrhundertelangen Gegenwart militärischer Prinzipien in unserer Kultur. Der Heldenbegriff sollte (und soll) exklusiv für die kämpfende Truppe reklamiert werden, um ihr Tun schon im Vorhinein zu legitimieren. Dabei sind die Analyse-Ergebnisse eindeutig: Deserteure handeln, indem sie sich, oft unter großen Risiken, dem Krieg entziehen. Ihr Handeln ist lebensgefährlich, selbst wenn sowohl Russland als auch die Ukraine vor der Maximalstrafe für Deserteure (noch) zurückschrecken. Vor allem aber bricht es geltende Regeln, ist also transgressiv, und geschieht ganz aus eigenem Antrieb. Denn man kann einem Menschen schwerlich befehlen, zu desertieren und sich damit jeder militärischen Logik zu verweigern. Damit wären alle vier Minimalkriterien des Helden erfüllt. Es erscheint mir wesentlich, in der gegenwärtigen Situation auf diesen Umstand hinzuweisen. Es gibt keine Kriegshelden. Es gibt nur Helden gegen den Krieg.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.