Die Dienstpflicht in der Schweiz

Es droht ein Ausbau des Zwangsdienstes

| Jonas Heeb, Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA)

In der GWR 479 vom Mai 2023 hat Daniel Jerke mit seinem Artikel „Kriegsdienstzwang“ die Themen „Wehrpflicht“, Neutralität und Antimilitarismus in Österreich unter die Lupe genommen. Nun beleuchtet Jonas Heeb von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) mit dem folgenden Artikel den Kriegsdienstzwang in der Schweiz. (GWR-Red.)

Die Schweiz gehört zu einem der wenigen Staaten in Europa, der noch eine obligatorische Dienstpflicht für Männer kennt. Obwohl weithin bekannt ist, dass der Dienst in den wenigsten Fällen tatsächlich einen Mehrwert bringt, ist die Dienstpflicht bis heute erhalten. Aufgrund wirrer Narrative der Schweizer Armee droht dieser Zwangsdienst sogar noch weiter ausgebaut zu werden. Ein Überblick über die Situation in der Schweiz.

Die Schweizer Dienstpflicht ist so alt wie ihre Bundesverfassung. Seit ihrer Verabschiedung im Jahr 1848 enthält sie die Bestimmung, dass jeder männliche Schweizer „wehrpflichtig“ ist. Bis heute hält sich diese Regelung in genau dieser konservativen Manier. Dadurch herrscht in der Armee eine äußerst starke hierarchische und patriarchale Grundstimmung, die natürlich gut zum militärischen Drill passt. In der Praxis sieht das folgendermassen aus: Jeder männliche Schweizer Bürger nimmt an einer zweitägigen Rekrutierung teil. Dort wird anhand verschiedener medizinischer, psychologischer und sportlicher Tests die Diensttauglichkeit beurteilt. Wird man als tauglich befunden, so wird man einer Funktion der Armee zugeteilt. Bei Untauglichkeit ist zwischen einfacher und doppelter Untauglichkeit zu unterscheiden. Die einfache Untauglichkeit bedeutet, dass man seinen Zwangsdienst im Zivilschutz absolviert, also im Bereich des Bevölkerungsschutzes, bei doppelter Untauglichkeit leistet man keinen Dienst, ist aber verpflichtet elf Jahre lang eine „Wehrpflichtersatzabgabe“ zu zahlen. Diese beträgt jährlich 3% seines steuerbaren Einkommens. Sprich, selbst wenn man nichts dafür kann, dass man keinen Dienst leisten darf, soll man büßen. Ist man diensttauglich, kann den Militärdienst aber nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, so hat man die Möglichkeit in den Zivildienst zu wechseln. Dort leistet man zeitlich das 1,5-Fache wie im Militärdienst und engagiert sich in Einsätzen zum Wohle der Gesellschaft, z.B. in Altersheimen, Schulen, Natur- und Forstbetrieben, etc. Die Liste ist lang und breit.
Da dieser Wechsel glücklicherweise relativ unkompliziert erfolgt, machen jährlich einige junge Männer davon Gebrauch. Genau deshalb ist er vielen konservativen Politiker*innen ein Dorn im Auge, obwohl der Output für die Gesellschaft deutlich sinnvoller ist.
Leistet man Militärdienst, so absolviert man zuerst die 18-wöchige Rekrutenschule und dann über neun Jahre verteilt sechs Wiederholungskurse à drei Wochen. Der Militärdienst nimmt also insgesamt mindestens neun Monate Lebenszeit in Anspruch, während der man nicht arbeiten oder seinen Freizeitbeschäftigungen nachgehen kann. Aufgrund des „Milizprinzips“, das in der Schweiz gerne hochgehalten wird, ist der Großteil der Armeeangehörigen außerhalb der Armee berufstätig. Hierzulande ist man stolz darauf, dass die „einfachen Leute“ dadurch ihren Teil zur Gesellschaft beitragen und im fast schon mythisch geprägten Milizprinzip finden konservative Leute auch immer eine Rechtfertigung für die Dienstpflicht. Jedoch ist es so, dass die Zeit im Dienst selten sinnvoll genutzt wird. Stundenlanges Warten und Rumsitzen, sinnlose Beschäftigungstherapien und kollektive Bestrafungen prägen die Erzählungen aus der Dienstzeit. Fast jede Person in der Schweiz kennt diese Geschichten, auch jene, welche selbst keinen Dienst geleistet haben.
Die Dienstpflicht nach dem Milizprinzip führt denn auch dazu, dass die Schweiz gemessen an der Bevölkerung eine der größten Armeen Europas hat – und gleichzeitig auch eine der teuersten. Jeder Rekrut/Soldat erhält Sold, muss untergebracht und verpflegt werden, ganz zu schweigen von der ganzen Ausrüstung, die bereitgestellt werden muss. 2020 kostete die Armee den Schweizer Staatshaushalt 5,4 Milliarden CHF. Jedoch ist hinlänglich bekannt, dass viele Kosten in diesem Budgetposten fehlen: Erwerbsersatzzahlungen (eine direkte Folge der Dienstpflicht), Miet- und Pachtkosten von Immobilien der Armee und die Ausfälle der Wirtschaft werden anders abgerechnet. Real dürften es 8,5 bis 9 Milliarden CHF gewesen sein. (1)
Die Armee mit ihrer Zwangsdienstpflicht ist teuer, ineffizient und zeitraubend. Eigentlich schon genug Argumente für ein Überdenken, insbesondere aus Sicht konservativer Po-litiker*innen, welche stets einen sorgsamen Umgang mit Steuergeldern predigen. Gemacht wurde es trotzdem nie, die Kritik kam stets aus den gleichen Kreisen. 2012 sammelte die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) Unterschriften für eine Volksabstimmung zur Abschaffung der sogenannten Wehrpflicht. Es war die erste Volksinitiative mit dieser Forderung (es gab hingegen bereits zwei Abstimmungen über die Abschaffung der Armee, 1989 und 2001). Im Herbst 2013 verwarf das Schweizer Stimmvolk die Initiative mit satten 73,2% Nein-Stimmen. (2) Eine nachträgliche Befragung ergab, dass tatsächlich die Bedeutung des Milizprinzips der häufigste Grund für die Nein-Stimmen war, was die Bedeutung dieses Prinzips nochmals unterstreicht. (3)
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ließen armee- und rüstungsfreundliche Politiker*innen keine Gelegenheit aus, um aus der aktuellen Stimmung politischen Profit zu schlagen. So zum Beispiel wurde der Kauf von 36 Stück des F-35-Kampfjets unterzeichnet, obwohl die GSoA eine Volksinitiative gegen diese Beschaffung gesammelt und gültig eingereicht hat. Eine solche Missachtung der Volksrechte durch den Bundesrat gab es praktisch noch nie. Die zuständige Bundesrätin Viola Amherd versprach bei Beginn der Unterschriftensammlung (vor Kriegsausbruch), die Initiative auf jeden Fall abzuwarten. Nach dem 24. Februar 2022 änderte sich das schnell. Kaum eine Woche nach Kriegsausbruch folgten denn auch Forderungen nach Erhöhung des Armeebudgets. Was vorher kaum Chancen gehabt hätte, ging ganz glatt durchs Parlament. 2030 soll das Militärbudget 1% des BIP betragen. (4) Das wären 9,4 Mio. CHF im Gegensatz zu heute ca. 5,5 Milliarden CHF. Wie wir gesehen haben, sind die eigentlichen Kosten der Armee um ein paar Milliarden höher. Obwohl Finanzexperten, ja sogar der Finanzvorsteher aus dem Bundesrat Ueli Maurer, der gewiss kein Armeegegner ist und selbst mal dem Verteidigungsdepartement vorstand, diese Forderung im Vorfeld stark kritisierten, ließen sich die Parlamentarier*innen und auch Bundesrätin Amherd nicht davon abbringen. Die Auswirkungen spürt man schon heute. Die massiven Sparpläne betreffen vorwiegend soziale oder klimaschützende Budgets betreffen. (5)
Gleichzeitig erleben wir ein beinahe beispielloses Schlechtmachen des Zivildienstes. Noch 2020 lehnte das Parlament eine Gesetzesänderung ab, welche den Wechsel von der Armee in den Zivildienst massiv erschwert hätte. Zur Erinnerung, im Zivildienst arbeiten Leute bei öffentlichen Institutionen mit zu wenig Personal mit und leisten damit einen nützlichen und wertvollen Dienst, was vom Militärdienst in dieser Form schlicht nicht behauptet werden kann. Im Zuge des Kriegs in der Ukraine wurden die gleichen Maßnahmen, die 2020 abgelehnt wurden, wieder im Parlament eingereicht und bereits durchgewunken. Das heisst, so manche*r Politiker*in hat die Meinung diesbezüglich geändert. All dem ging zusätzlich ein irreführendes Narrativ des Bundesamtes für Verteidigung (VBS) voran, die Armee habe ein Alimentierungsproblem. Man geht im VBS davon aus, dass die Armee ab 2030 so stark schrumpfe, dass sie ihre Funktion nicht mehr wahrnehmen könne. Die Berechnungen des VBS sind jedoch maximal intransparent, nicht nachvollziehbar und vor allem übertrieben pessimistisch. Diverse Angaben lassen sich durch gesellschaftliche Statistiken widerlegen und deuten auf ein anderes Wachstumsszenario der Armee hin (auf www.gsoa.ch gibt es einen ausführlichen Artikel dazu). Das hält aber weder das VBS selbst noch die armeefreundlichen Politiker*innen davon ab, dieses Narrativ des drohenden Unterbestands zu verwenden und zu reproduzieren. Denn schließlich ist das eine super Gelegenheit, um gleichzeitig den Zivildienst als Sündenbock zu nutzen und Maßnahmen gegen ihn zu rechtfertigen. Hierbei sei gesagt, dass die Abgänge aus der Armee in den Zivildienst seit Jahren konstant sind und es keinerlei Anzeichen gibt, dass sich dies ändern sollte. Als wäre das alles nicht genug, finden vermehrt Bestrebungen statt, um auch Frauen in die Zwangsdienstpflicht einziehen zu können. So gibt es Kantone, welche obligatorisch Informationstage auch auf Frauen ausweiten wollen. Zudem wird national an einer Revision des Dienstpflichtsystems diskutiert, wo unter anderem eine Variante vorgeschlagen wird, welche alle Schweizer Bürger*innen in die Wehrpflicht ziehen will. Das VBS arbeitet auch sonst intensiv daran, mehr Frauen für den Militärdienst zu gewinnen und begründet dies mit ganz seltsamen Argumenten zur Gleichstellung, als wären mehr Pflichten für Frauen ein progressiver Schritt dazu.
Dazu muss im Kontext gesagt sein, dass die Schweizer Armee zurzeit einen gesetzeswidrigen Überbestand aufweist, also zu viele Angehörige hat. (6) Gleichzeitig bedient man sich ständig dem Narrativ des gefährdeten Armeebestands. All diese Absurditäten gründen leider auch darin, dass seit dem Ukraine-Krieg die Vorstellung herrscht, dass die Schweizer Armee plötzlich wieder eine wichtige Stellung hätte. Doch abgesehen davon, dass ein Angriff auf die Schweiz so unwahrscheinlich ist wie noch nie, zeigt die Dienstpflicht immer wieder, dass damit wenig Sinnvolles erreicht, sondern lediglich junge Menschen ihrer Zeit beraubt werden. Die GSoA bietet neben ihrer politischen Arbeit auch eine Soldatenberatung an. Uns erreichen täglich Anrufe und Zuschriften von Leuten, die um Hilfe bitten. Es ist oft unzumutbar, wie mit den Angehörigen in der Armee umgegangen wird und wie ignorant sich die Militärs gegenüber Zwangsdienstleistenden verhalten. Leider bewegt sich die Schweiz aber nicht in eine Richtung, um die Dienstpflicht zu verbessern oder abzuschaffen, im Gegenteil: Geht es nach dem VBS, werden bald mehr Leute in der Armee wirken müssen, während ihnen gleichzeitig Steine in den Weg zum sinnvollen alternativen Zivildienst gelegt werden.

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