Der andere anarchistische Kongress

Eine Woche zu Geschichte und Theorie des Anarchismus. Bericht aus Chemnitz

| Peter Nowak

Nachdem vom 19. bis 23. Juli 2023 im schweizerischen Saint Imier 5.000 Anarchist*innen aus aller Welt mit 400 Veranstaltungen ein verspätetes Jubiläum feierten, trafen sich vom 31. Juli bis zum 6. August im soziokulturellen Zentrum Subbotnik am Rande der Chemnitzer Innenstadt etwa 200 Menschen, um eine Woche lang über Geschichte und Theorie des Anarchismus zu diskutieren (1). Eingeladen hatte die Kantine Sabot, ein Kreis von akademischen Linken, die sich in der sächsischen Stadt, die oft mit rechten Aktionen Schlagzeilen macht, mit linker Theorie beschäftigen wollen und sich jährlich eine Woche lang mit dem Leben und dem Werk von politischen DenkerInnen beschäftigt.

Alles begann 2018, als das Internationale Karl-Marx-Jahr zelebriert wurde. Chemnitz hat in der DDR für einige Jahrzehnte den Namen „Karl-Marx-Stadt“ getragen und ihn nach der Wende wieder abgelegt. Der Plan, auch den in der Bevölkerung Nischel genannten Marx-Kopf aus der Stadt zu verbannen, wurde aber schnell fallengelassen. Mittlerweile ist die SED-Hinterlassenschaft eine Attraktion für Tourist*innen geworden. Deshalb wollten die Verantwortlichen der Stadt durch den Verkauf von Marx-Bier von dem Philosophen profitieren. Daraufhin kreierten einige akademische Linke unter dem Titel „Marx nicht kaufen, sondern denken“ das erste linke Bildungsfestival in der Stadt. Schon damals planten die Organisator*innen keineswegs eine unkritische Marx-Rezeption. An Kontroversen, die ohne persönliche Angriffe geführt wurden, kann sich eine Besucherin noch gut erinnern. Sie gehört seitdem zum Stammpublikum der Kantine Sabot. Denn aus dem einmaligen Event wurde eine regelmäßige Bildungswoche. Nach Marx standen Antonio Gramsci, Rosa Luxemburg, Walter Benjamin und die frühbürgerliche Schriftstellerin Christine de Pizan im Mittelpunkt der weiteren Theoriefestivals.
In diesem Jahr stand mit dem Anarchismus nun ein ganzes Denksystem eine Woche zur Diskussion. Das bescherte dem Festival neues Publikum aus verschiedenen Städten. „Sonst waren die Räume erst abends gefüllt. In diesem Jahr hatten wir schon am Vormittag volle Räume“, erinnert sich Mitorganisator Christian. Auch dieses Mal überwog bei allen Referaten die kritische Betrachtung, von der auch die anarchistische Theorie und Praxis nicht ausgenommen wurden.
Tsveyfl (Zweifel) lautet der Titel einer Theoriezeitschrift, die sich für eine herrschaftsfreie Gesellschaft einsetzt. Deren Redaktionsteam erklärte denn auch in ihrem Referat den Anarchismus für tot, weil er sich aus ihrer Sicht nach 1945 theoretisch nicht mehr erneuert habe. Allerdings sahen die beiden Referent*innen in dem Anarchosyndikalismus eine zeitgemäße Weiterentwicklung anarchistischer Theorie und Praxis. Dabei griffen sie auch auf die Arbeiter*innenbörsen zurück, die schon im 19. Jahrhundert ein wichtiges Kampfmittel anarchosyndikalistischer Gewerkschaften waren. Die Thesen sorgten natürlich für den erwünschten Widerspruch und so befanden sich die Besucher*innen schnell wieder in grundsätzlichen Debatten, die auch nach Ende der Veranstaltung im Garten des Festivalgeländes weitergeführt wurden. Dort wurde heftig über Anarchismus, Anarchosyndikalismus und auch Kommunismus debattiert. Wenn der Begriff „solidarische Diskussion“ nicht so abgegriffen wäre, in Chemnitz wurde für eine Woche gezeigt, dass die gesellschaftliche Linke noch in der Sache diskutieren kann.
Dabei wurden eine Woche lang viele Streitthemen aufgegriffen. So befassten sich beispielsweise die bekannten GWR-Autorinnen Antje Schrupp und Vera Bianchi mit der Rolle des Feminismus in der Pariser Kommune und der Spanischen Revolution. In beiden Fällen mussten sich couragierte Frauen immer auch gegen anarchistische Patriarchen durchsetzen.
GWR-Autor Jonathan Eibisch zog gleich am ersten Tag eine kritische Bestandsaufnahme des real existierenden Anarchismus. Leider blieben manche aktuell strittigen Themen wie Antisemitismus und Antimilitarismus auf dem Festival ausgespart. Dabei wäre vielleicht in einer Zeit, in der manche Anarchist*innen ihre „Gefallenen“ in der Ukraine lobpreisen (2), für eine kritische Betrachtung von Geschichte und Gegenwart des anarchistischen Antimilitarismus gerade in der Kantine Sabot ein guter Platz gewesen.

(1) Ein Großteil der Referate kann hier nachgehört werden: https://www.youtube.com/@kantinefestival8370/streams
(2) Siehe dazu den Artikel von Gerald Grüneklee in dieser GWR