Bewegung für Klimagerechtigkeit

Ende Gelände und der Zivile Ungehorsam

| Lou Marin

Ende Gelände (Hg.): We Shut Shit Down, Edition Nautilus, Hamburg 2022, 16 Euro, 207 S., ISBN 978-3-96054-292-6

Das Jahr 2015 war das Jahr des großen Aufbruchs des Anti-Braunkohle-Bündnisses „Ende Gelände“ (im Folgenden: EG), das in den folgenden Jahren mit Massenaktionen zivilen Ungehorsams (im Folgenden: ZU) die Klimagerechtigkeitsbewegung mitgeprägt hat. Es war im Tagebau Garzweiler, wo sich 2015 rund 1.500 Menschen an der ersten großen Kohlebaggerblockade von „Ende Gelände“ beteiligten. Anschließend erhöhten sich die Teilnehmer*innenzahlen, Medienberichte über Kohlegrubenbesetzungen und Blockaden von Kohlezügen sowie des riesigen Abbau-Baggers durch in Weiß gekleidete Aktivist*innen gingen um die Welt. In dem Buch „We Shut Shit Down“ werden Geschichte und Verständnis dieses ZU sowie die verschiedenen Aspekte des Bewegungsbündnisses EG dargestellt. Es geht immer wieder um die Widerstandszentren Garzweiler, Hambacher Forst, Lausitzer Braunkohlerevier, zuletzt Lützerath und deren Aktionscamps.
Das Buch beginnt mit Erlebnisberichten von Aktivist*innen aus den Besetzungsaktionen von 2015 und 2017. Es folgen Artikel über die Inklusion von Aktivist*innen im Rollstuhl („Rolli-Finger“), über die europäische Vernetzung von Ende Gelände und die Beteiligung von Aktivist*innen aus anderen Ländern (besonders Tschechien und Großbritannien); sowie zur Entwicklung der massenhaften Anti-Braunkohlebewegung aus lokalen Protestinitiativen ab den 1970er-Jahren. In weiteren Beiträgen geht es um ein radikales Verständnis von ZU, das sich gegenüber den Aktionen aus den Aktionscamps der Anti-AKW-Bewegung, aus der ich komme und die ich mitgemacht habe, insofern weiterentwickelt hat, als heute besonders über ZU als „Dilemma-Strategie“ nachgedacht wird, bei der die Repressionskräfte also immer verlieren, ob sie nun unverhältnismäßig hart zuschlagen, was als öffentlicher Skandal bloßgestellt wird, oder ob sie auch mal eine Besetzung und damit Unterbrechung der Kohle-Infrastruktur zulassen. Auch die Verweigerung der Personalienangaben nach Festnahmen – typisch für die jüngeren EG-Aktionen –, hat es zu meiner Zeit in dieser Massenhaftigkeit noch nicht gegeben. Weiter geht es im Buch mit der Thematisierung einer „Diskursintervention“ bis in die herrschenden Medien hinein. Thematisiert wird die Anti-Repressionsarbeit und das Verständnis des Begriffes Solidarität. Schließlich werden die Entscheidungsstrategien in den Aktionscamps und im Bündnis EG nach dem Konsensprinzip dargestellt. Der Begriff Klimagerechtigkeit wird inhaltlich gefüllt, gerade im Gegensatz zu reformistischem „Klimaschutz“. Die Entwicklung einer Kapitalismuskritik innerhalb von EG ist Thema des Buches. Schließlich widmet sich ein Kapitel (S. 151-170) um die dekoloniale Perspektive dahingehend, dass vor allem Regionen des globalen Südens Betroffene (MAPA = Most Affected People and Areas) des metropolitan-industriellen CO2-Ausstoßes und seiner verheerenden Wirkungen sind, und der Absicht, endlich die BIPoC-Aktivist*innen (Black, Indigenous, People of Colour) innerhalb der Bewegung sichtbar machen zu wollen. Letztere kritisieren die Klimabewegung dafür, dass sie die Lage der migrantischen Geflüchteten im Mittelmeerraum und die vielen Todesopfer der Festung Europa nicht ausreichend skandalisiert. Zudem beklagen sie die medienpolitische Ignoranz gegenüber Aktivist*innen des Südens, wie etwa Tonny Nowshin aus Bangladesch oder Vanessa Yakate aus Uganda, die von Greenpeace-Pressefotos oder auch Agenturfotos der dpa einfach aus dem Bild geschnitten wurden, das dann komplett von Greta Thunberg oder Luisa Neubauer dominiert wird (S. 162). BIPoC-Aktivist*innen kritisieren auch eine Verdoppelung weißer männlicher Dominanz bei den Massenaktionen durch die dort lange Zeit unhinterfragt gehaltenen Reden weißer Männer, sowie die übliche weiße Schutzkleidung, in die sich die Aktivist*innen hüllen. Das Buch schließt mit einem Kapitel zur Stellung der Bewegung gegenüber dem Staat (S. 171 ff.), wobei eine erste Strömung eine pragmatische Haltung einnimmt, die auf unmittelbar sichtbare Teilerfolge aus ist; die zweite Strömung staatlichem Handeln und darauf bezogenen Politstrategien oder Versuchen der Parteienbeeinflussung grundsätzlich kritisch gegenübersteht; und die dritte Strömung versucht, unter Bezugnahme auf die Theoretiker Gramsci und Poulantzas ein „gleichzeitig pragmatisches und gegnerisches Verhältnis zum Staat“ aufrechtzuerhalten.
Mir gefällt an dieser Bewegung, dass sie gleichzeitig auf radikale wie aber auch eindeutig nicht-gewaltsame Aktionsstrategien setzt, zumindest seit den „Schotteraktionen“ von weniger gewaltaffinen „Postautonomen“ ab den Castor-Transporten 2010: „Unsere Aktionstaktiken sind insgesamt darauf ausgerichtet, so wenig direkte körperliche Konfrontationen zu haben wie möglich. Wir verstehen die Polizei sehr wohl als Gegnerin, aber nicht als Ziel unserer Aktionen“ (S. 177). Das haben wir, die gewaltfreien Aktionsgruppen der Graswurzelrevolution/FöGA (Föderation gewaltfreier Aktionsgruppen), in den vier Jahrzehnten unseres Einbringens von Aktionsstrategien in die Anti-AKW-Bewegung ebenfalls so gesehen (1). Die Aktionsstrategie der „Finger“, durch die wir Polizeiketten auseinanderziehen und dann Aktivist*innen durch sie hindurchfließen konnten, haben wir bei den Aktionscamps zu den Castor-Transporten nach Gorleben in die Bewegung eingebracht. Nur: Während im Buch fast auf jeder Seite mehrfach von „zivilem Ungehorsam“ die Rede ist, wird die Benennung der Kampfform der „direkten gewaltfreien Aktion“, die wir damals den militanten und zentralistischen Zaunschlachten der „Autonomen“ entgegensetzten – und die sich faktisch in den Aktionsstrategien der Anti-Atombewegung durchsetzten – leider vermieden. Da heißt es dann, „das Fass von ‚Gewalt oder Gewaltlosigkeit‘“ (S. 20) soll bei EG gar nicht erst geöffnet werden. Oder es wird, wenn die „gewaltfreie Grundhaltung“ doch einmal erwähnt wird (S. 79), gleich dazu gesagt, das darauf basierende Verständnis von ZU, etwa von H.D. Thoreau oder M.K. Gandhi sei „ein enges, liberales Verständnis“ (ebd.). Das ist allerdings falsch: Es gibt eine Geschichte des von Thoreau ausgehenden „revolutionären zivilen Ungehorsams“ (2) sowie seine klare Ablehnung des Neoliberalismus, so Buchautor Jeffrey Y. Nealon: „Thoreau hätte sich eine Welt des libertarian Neoliberalismus nie vorstellen können“ (3). Und es gibt eine Radikalität von Gandhis Kapitalismuskritik, etwa dieser, zitiert nach dem indisch-anarchistischen Gandhi-Forscher Ashis Nandy: „Als Gandhi 1920 seine Bewegung der Nicht-Zusammenarbeit gegen die Briten startete, waren die indischen Textilfabrikanten nahezu als gesamte Klasse gegen ihn. (…) Es ist bezeichnend, dass nicht ein einziger Industrieller den satyagraha-Schwur (Festhalten an der Wahrheit-Grundsatz der gewaltfreien Aktion) von März-April 1919 unterzeichnete.“ (4)
Dem gewaltfreien Widerstand eine Konzeption des „radikalen Widerstands“ entgegenzusetzen, wie es bei EG weitgehend der Fall war, lässt sich historisch nicht belegen und negiert die Radikalität des anarchistischen Kampfmittels der direkten gewaltfreien Aktion und der antikolonialen Massenbewegung Gandhis gegen den britisch-weißen Kolonialismus. Damit verzichtet Ende Gelände leider auf die strategische Auswertung und Integration eines großen Erfahrungsschatzes gerade auch antikolonialer Kämpfe.

(1): Vgl.: S. Münster/Lou Marin: Von Wyhl bis Fukushima. Der praktisch-strategische Einfluss gewaltfreier Aktionsgruppen auf vier Jahrzehnte Kämpfe der westdeutschen Anti-AKW-Bewegung, in: AG Anarchismus und Gewaltfreiheit (Hg.): „Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution“, Band 1, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2018, S. 221-237.
(2): Vgl. Lou Marin: Ein Jahrhundert des revolutionären zivilen Ungehorsams, ebenda, S. 143-168.
(3): Zit nach: J. T. Nealon: Fates of the Performative : From the Linguistic Turn to the New Materialism, University of Minnesota Press 2021.
(4): Zit. nach: Ashis Nandy: Der Intimfeind. Verlust und Wiederaneignung der Persönlichkeit im Kolonialismus. Einleitung, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2008, S. 55.