„1968“ exemplarisch

Lehrlingsbewegung zu den Auseinandersetzungen am Speyer-Kolleg

| Torsten Bewernitz

Wolfgang Hien, Herbert Obenland und Peter Birke: Das andere 1968. Von der Lehrlingsbewegung zu den Auseinandersetzungen am Speyer-Kolleg 1969 – 1972. Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2022, 252 Seiten, 15 Euro, ISBN 978-3-9823317-3-7

Um sich die Frage zu stellen, was ein „anderes“ 1968 ausmacht, müsste man sich erst mal die Frage stellen, was denn „1968“ war. Jens Kastner und David Mayer haben in ihrem Sammelband „Das globale 1968“ (Wien 2008) 1968 als Chiffre für eine Zeitspanne mit revolutionären Ereignissen definiert, die in der Gesamtsicht eine veritable Revolution darstellt, die nur eben gescheitert ist. Kastner und Mayer begrenzen das „lange 1968“ durch die kubanische Revolution 1954 und das Ende des Vietnam-Kriegs 1975. Für Deutschland würde ich als Eckpunkte einerseits die Jahre 1963/64 setzen – bis dato größter Streik in der Bundesrepublik einschließlich Massenaussperrung, Godesberger Programm der SPD und damit einhergehender Ausschluss des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), neues DGB-Grundsatzprogramm, Auschwitz-Prozess, der Besuch des kongolesischen Premiers Moïse Tschombé in Deutschland wären hier relevante Eckpunkte. Und das Jahr 1973 mit den oft migrantisch geprägten „wilden Streiks“, die kaum losgelöst von der Betriebsintervention der 1968er nach der „proletarischen Wende“ betrachtet werden können.
Mit dem Buchtitel „Das Andere 1968“ wollen die Autoren Herbert Obenland, Wolfang Hien und als befragender Sozialhistoriker Peter Birke herausstellen, dass es neben dem „1968“ der „Studentenrevolte“ noch das „1968“ der Arbeiterinnen und Arbeiter gegeben habe. Die globale und „lange“ Perspektive, die Kastner und Mayer nahelegen, macht aus diesem „Anderen“ das Normale: Marcel van der Linden schildert das im genannten Sammelband als „Rätsel der Gleichzeitigkeit“. Ein entscheidender Punkt ist dabei die Bildungsexpansion: Verschiedene Reformen, darunter z. B. in Westdeutschland der Wegfall des Studiengeldes, führten dazu, dass mehr Kinder aus proletarischen Haushalten studierten. Die internationale Öffnung führte zu mehr ausländischen Studierenden, die eine Verbindung zu den „Gastarbeiter*innen“ hatten und oftmals, ebenso wie diese, aus oppositionellen Zusammenhängen ihres jeweiligen Heimatlandes stammten. Simon Goeke hat dieses Zusammenspiel von studentischer, migrantischer und proletarischer Bewegung in den frühen 1970ern in seinem Buch „Wir sind alle Fremdarbeiter“ (Paderborn 2020) verdeutlicht. Beides – der Zustrom von Studierenden mit proletarischem Hintergrund wie mit Migrationshintergrund – führte zu ganz neuen Beziehungsweisen, die „1968“ als globalen Revolutionsversuch möglich machten. Hintergrund von „1968“ ist mithin eine neue Klassenzusammensetzung.
Dazu kommt ein, hier nur am Rande relevantes, drittes: Die Erzählung von „1968“ als Bruch mit der alten Generation und auch mit der „alten“ Arbeiterbewegung ist nur sehr bedingt haltbar. Vertreter der „alten“ Arbeiterbewegung (die rein männliche Form ist hier plausibel) wie etwa der Kreis um die SoPo und Peter von Oertzen, des express international und des „Funken“ um Fritz Lamm oder auch Willi Huhn in Berlin und Vertreterinnen der späteren „neuen Linken“ hatten engen Kontakt. Peter Birke benennt in seinem Vorwort zum vorliegenden Buch einen Arbeiterflügel des SDS in Mannheim, den damalige Aktive zwar so nicht bestätigen möchten, aber auch dort gab es die entsprechenden Kontakte zwischen vermeintlich „alter“ und „neuer“ Linker – namentlich etwa mit dem Kommunismusforscher Hermann Weber oder dem langjährigen kommunistischen Aktivisten Willy Böpple.
Die subjektive Geschichte von Herbert Obenland und Wolfgang Hien und die exemplarische Geschichte des Speyer-Kollegs zwischen 1969 und 1972 ist insofern eben kein „Anderes“ zu 1968, es ist im Gegenteil paradigmatisch. Paradigmatisch ist vor allem die, bereits in dem Interviewband von Peter Birke und Wolfgang Hien hervorgehobene (und beide betreffende) „Klassenreise“. Wenn es trotzdem völlig legitim ist, von einem „anderen 1968“ zu schreiben, dann deswegen, weil diese – eigentlich prägende – Geschichte von 1968 kaum erinnert wird, sondern in der breiten Mainstream-Öffentlichkeit das buntscheckige Geschehen von 1968 als ein rein akademisches zwischen Berkeley und Berlin erinnert wird. Wesentliche Publikationen über die durchaus immer wieder benannte Lehrlingsbewegung sind mittlerweile drei bis vier Jahrzehnte alt, die neuere Forschung – und auch Kritik – der „68er“ fokussiert das akademische Großstadtgeschehen in der „Ersten Welt“. Studien zum 1968 der Arbeitswelt, des Trikonts etc. kommen über den Status einer Spezialstudie mit Orchideen-Charakter meist nicht hinaus und werden in der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.
Erzählt wird von Obenland und Hien die Geschichte des Protests am frisch gegründeten Speyer-Kolleg, an dem gerade Ausgebildete auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachholen konnten. Das Kolleg war schulisch strukturiert und inhaltlich autoritär organisiert. Die Auseinandersetzungen darum führten in den Jahren 1970/71 zu mehreren Streik- und Boykottaktionen. Die Speyrer Öffentlichkeit war damals in die Vorgänge einbezogen. Es gab große Veranstaltungen in der Stadthalle zu den Vorgängen am Speyer-Kolleg und den Forderungen der Kollegiat*innen. Diese beschäftigten seinerseits sogar den Mainzer Landtag und ließen den damaligen rheinland-pfälzischen Vorsitzenden der CDU, Helmut Kohl, von einer „linksextremistischen Unterwanderung“ des Kollegs sprechen.
Der explizite Wunsch, Bildung als Emanzipation zu erleben, der in Speyer formuliert wurde, ist paradigmatisch für das viel breitere 1968 der Lehrlinge und Jungarbeiter*innen. Viel mehr als Berichte aus dieser oder jener Universität erläutert dieses Buch damit exemplarisch an einem relevanten Beispiel, was „1968“ eigentlich ausmachte. Darüber hinaus korrigiert es noch in einer anderen Hinsicht die dominierende Geschichtsschreibung: Es ist radikal subjektiv, ohne deswegen weniger nachvollziehbar zu sein. Die sehr persönlichen Erzählungen von Wolfgang Hien und Herbert Obenland, auch zu der Zeit vor und nach Speyer, packen einen, wie es eine streng wissenschaftlich-historische Darstellung wohl nicht könnte.