Guillaume Paoli: Geist und Müll – Von Denkweisen in postnormalen Zeiten, Matthes & Seitz, Berlin 2023, 270 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-7518-0355-7
Guillaume Paoli ist ein scharfsinniger Denker und fleißiger Leser. Als Franzose, der seit langem in Berlin lebt, kriegt er mit, dass viele öffentliche Diskussionen in Frankreich anders laufen als bei uns. Auch bei der Corona-Bekämpfung zum Beispiel hat er über den Tellerrand blickend sich Reaktionen in den USA oder in China genauer angeschaut.
Interessant finde ich seinen Rückblick auf die – er nennt es – „Achsenjahre“, also die Zeit von ungefähr 1970 bis 1975. Hier wurde schon ein starkes Bewusstsein für die fortschreitende Umweltzerstörung und die „Grenzen des Wachstums“ entwickelt. Am bekanntesten von den damaligen Veröffentlichungen ist sicherlich der gleichnamige Bericht des Club of Rome 1972. Aber Paoli beschäftigt sich auch mit vielen, teilweise fast vergessenen Autoren wie Ivan Illich und Günther Anders. Dabei hat er viel Interessantes entdeckt, so dass er feststellt: „Verwunderlich ist, wie wenig von den Entwicklungen und Hypothesen aus den vergangenen Generationen noch bekannt ist, geschweige denn kritisch diskutiert, erweitert, korrigiert oder widerlegt.“ (S. 124)
Die fortschreitende Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen – er nennt es ein „Desaster“ – ist das Hauptthema, das sich durch das Buch hindurchzieht. Bezogen auf die „Achsenjahre“ stellt er dabei kritisch fest: „Da heute jedoch die Klimaerwärmung als alleiniger Grund zur Sorge behandelt wird, stellt sich die Frage: War damals die Risikoanalyse zu breit gefasst, oder ist sie heute zu eng? Die Antwort liegt in der vergeudeten Zeit dazwischen.“ (S. 84) Eine Antwort, die zum Nachdenken anregt.
Dabei ist er so frei, kritisch gegenüber allen Gruppierungen zu sein, alle bekommen ihr „Fett“ weg: Zu Klimaschützer:innen: „Wie sich heute die Figur des Jüngsten Gerichts säkularisiert hat, zeigen zur Genüge die Anklagen gegen ‚Klimasünder‘, die versprochene Erlösung von der fossilen Vergangenheit wie die Verheißung des erneuerbaren, nachhaltigen Erdenreiches.“ (S. 55)
Zu Konzernen: „müsste das Augenmerk anstatt auf Einzelmenschen [Paoli sieht die Metapher des ökologischen Fußabdrucks als Versuch von Konzernen wie BP, die Schuld auf den Einzelnen abzuwälzen] auf die glatt hundert Konzerne gerichtet werden, die für drei Viertel aller Treibhausgasemissionen der Welt verantwortlich sind.“ (S. 26) „Solange das Selbstverständnis von Imperien herrscht, die um Einflusszonen, Rohstoffquellen und Absatzmärkte wetteifern, wird sich das Desaster unvermindert fortsetzen.“ (S. 68)
Zu Regierungen: „Es ist schon verblüffend, wie alle Regierungen auf einmal die Entschlossenheit und die Ressourcen finden, die ihnen immer fehlten, als es darum ging, der sozial-ökologischen Frage gegenüberzutreten. Den neuartigen Katastrophen sind sie nicht gewachsen, aber Krieg können sie.“ (S. 67)
Zu Verschwörungstheoretiker:innen und Fake News: „Vor allem für Pfuscher, Marktschreier und Quacksalber ist die permanente Anzweiflung des Authentischen ein gefundenes Fressen. Darum sind mir in der Regel Theorien des Verdachts zunächst einmal verdächtig.“ (S. 223)
In diesem Buch tut Paoli aber auch meinungsstark kund, wem seine Sympathie bzw. Antipathie gehört: „machen sich vor den Küsten Afrikas [durch das Leerfischen der Ozeane durch Riesenschiffe, deren Fischfang in großen chinesischen Fabriken zu Fischmehl verarbeitet wird,] enteignete Fischer immer häufiger zu gefürchteten Piraten. Ich wünsche ihnen Glück und keine unnötige Nachsicht.“ (S. 148) Mit diesem Ausspruch stellt sich Paoli auf die gleiche Stufe wie die sogenannten Klimaretter: „Im Übrigen ist mir wohl bewusst, dass das vorliegende Buch, gegen die Abgründe des Geistes gerichtet, nicht minder lächerlich ist als das Werfen von Kartoffelbrei auf Spitzenleistungen des Geistes.“ (S. 251) Den „primitiven, fortschrittsfeindlichen Völkern“ stellt er die „Motherfuckers aus dem Norden“ gegenüber, „denen nichts heilig ist außer das eigene Bankkonto“ (S. 153).
Den Buchtitel „Geist und Müll“ hat Paoli wohl in Zusammenhang mit dem Jesuiten, Paläontologen und Anthropologen Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) gefunden. Denn dieser sah „ein einziges Ziel […]: das Erreichen des ‚Omegapunktes‘, an dem der ganze Müll vollständig in Geist umgewandelt wird.“ (S. 134-135) Paoli hat auch eine Reihe von Technologien in diesem Geiste ausgemacht, die er damit gleichzeitig stark kritisiert: „Aber die Floskeln, womit KI, Genmanipulationen, Nanotechnik, Geo-Engineering […] verkauft werden, sind allesamt Teilhards eschatologischem Kurzwarenladen entnommen“ (S. 137) Dem Müll widmet sich Paoli ausführlich. Er sieht einen direkten Zusammenhang mit dem Wert: „Wertschöpfung ist Müllschöpfung.“ (S. 168) Damit ist für ihn folgerichtig die beschleunigte Wertschöpfung der kapitalistischen Wirtschaftsweise mit der ansteigenden Müllproduktion gekoppelt.
Fazit
Als Fazit und Handlungsperspektive kann das letzte Kapitel verstanden werden. Die heutzutage von allen erwartete Anpassungsfähigkeit sieht Paoli kritisch: „Anpassung ist die neue Tina [= There is no alternative]. [Denn:] Mit ihr erübrigen sich ein für alle Mal Fragen der demokratischen Entscheidungsprozesse, der wünschenswerten Lebensweise, ja der menschlichen Freiheit überhaupt.“ (S. 235)
In The Big Quit, der größten Kündigungswelle in den USA, sowie dem Tang Ping, dem „Flachliegen“ junger chinesischer Menschen als stillen Protest gegen Leistungsdruck, Burnout und Perspektivlosigkeit, als Reaktion auf Corona und den daraus erfolgten Maßnahmen, sieht er Phänomene, die „spontan entstehen und von niemanden gesteuert werden. Angesichts der Dringlichkeit der Lage entscheiden Einzelne für sich und doch en masse, den toten Ballast der eigenen Existenz über Bord zu werfen.“ (S. 249) Das hat mich stark an „Die Temporäre Autonome Zone“ von Hakim Bey erinnert. Und es lässt einen Hoffnungsschimmer für Veränderungen erkennen.