Rafia Zakaria: Against white Feminism. Wie 'weißer' Feminismus Gleichberechtigung verhindert übersetzt von Simoné Goldschmidt-Lechner, Hanser, Berlin 2022, 256 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-446-27323-8
„Es ist wichtig, dass weiße Frauen erkennen, dass weiß zu sein und eine Frau zu sein nicht die Kriterien sind, die eine Frau zu einer weißen Feministin machen; es ist vielmehr die Weigerung, die Macht weißer Privilegien anzuerkennen.“ (Zakaria, S. 224)
Rafia Zakaria zufolge trennt weißer Feminismus zwischen der Expertise weißer Feministinnen und den Erfahrungen anderer Frauen. Von Frauen of Color erlebtes Leid wird dabei abgewertet. Doch Zakaria zufolge ist nicht nur Rebellion feministisch, sondern auch „Widerstandsfähigkeit“, also das Weitermachen trotz erlebtem Leid.
Neokoloniale Entwicklungspolitik
Sie erzählt die Geschichte des weißen Feminismus anhand der Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus. Im Europa des 19. Jahrhunderts waren Frauen in enge Geschlechterrollen gezwängt. Ein Aufenthalt in den Kolonien gab ihnen Freiheit, da die Macht ihrer Hautfarbe die Begrenzungen durch ihr soziales Geschlecht (Gender) aufhoben. Frauenmagazine veröffentlichten damals Artikel über die Situation von Frauen in Indien und im Orient. Die Darstellung wurde von weißen Frauen genutzt, um für die eigene Gleichstellung mit weißen Männern und eine Besserstellung gegenüber „unzivilisierten“ Frauen zu streiten. Zugleich gab es in Indien bereits um 1850 eigene Frauenorganisationen und in den 1890ern machten indische Frauen Universitätsabschlüsse. Währenddessen hegten Europäerinnen die Erwartung, dass sich außereuropäische Frauen nach westlichen Werten verhalten. Den indischen Frauen war hingegen die koloniale Unabhängigkeit wichtiger als das Wahlrecht. Mit der Unabhängigkeit kam das Frauenwahlrecht in Indien und Pakistan.
Bei der Weltausstellung 1893 in den USA gab es zwar ein sogenanntes „Women’s Building“, doch dort wurden ausschließlich die Errungenschaften weißer Frauen ausgestellt. In den Konflikten zwischen reichen Society-
Frauen und den Suffragetten, war klar, dass Schwarze Frauen außen vor waren.
Alle Beteiligten und Besucher-*innen waren weiß, bis auf Dar-steller*innen in der Völkerschau in den Modell-„Dörfern“. Dort spielten Schwarze „afrikanische Wilde“. Dabei durften sie nicht sprechen, sondern nur trommeln und seltsame Laute von sich geben.
In den 1980er Jahren erarbeiten indische Feministinnen einen Entwicklungsansatz von unten. Dabei galt eine Gleichheit mit Männern, die unter Rassismus und schlechten Arbeitsbedingungen litten, nicht als anzustrebendes Ziel. Sie wollten Empowerment: die kollektive Macht der politischen Basis solle zur Erreichung politischer Ziele genutzt werden. Geldgeberorganisationen fanden diesen Ansatz zu radikal. Erst 1994 wurde der Empowerment-Begriff auf einer Entwicklungskonferenz anerkannt, womit auch seine zunehmende Verwässerung begann. Um 2000 verband die Weltbank Empowerment mit der Schaffung wirtschaftlicher Chancen und dem Streben nach Sicherheit. Bei der Investition in Frauen spielen in erster Linie wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle. Zakaria kritisiert Programme, die durch Haltung von Hühnern oder die Abschaffung von Holzöfen Entwicklung vorantreiben wollen. In der Regel helfen urbane Mitarbeiter*innen finanziell profitierenden westlichen Organisationen bei der Umsetzung, aber ländliche Meinungen werden nicht eingeholt. „Entwicklungshilfe“ sei nicht mit politischer Teilhabe vereinbar, bemerkt Zakaria, sie entpolitisiere politische Kämpfe und verschleiere vor allem die Folgen westlicher Ausbeutung. Die „Entwicklungshilfe“ sei mit 130 Milliarden Dollar jährlich ein riesiger rassistisch durchzogener Wirtschaftszweig. Sie schreibt: „Wenn wir beispielsweise auf Afghanistan blicken, müssen wir zunächst anerkennen, dass es sich um eine Gesellschaft handelt, deren familiäre und institutionelle Strukturen durch fünf Jahrzehnte sowjetischer und US-amerikanischer Besatzung zerstört wurden.“
In Afghanistan und dem Irak sollte die neokoloniale Umgestaltung der Gesellschaft nach US-amerikanischem Vorbild die Rechte der Frauen sichern. An deren Zustimmung zu westlichen Interessen wurde gemessen, wie „feministisch“ sie gesehen werden.
Die Eroberung von Männerdomänen
Der auf Lila Abu-Lughod zurückgehende Begriff des „Securo-Feminism“ beschreibt, wie der „Kampf gegen Terrorismus“ als Feminismus gelabelt wird. Beispielhaft zeigt Zakaria das Phänomen am Film „Zero Dark Thirty“, in dem die Beteiligung einer CIA-Ermittlerin an Folter als feministischer Akt gefeiert wird. Zakaria kritisiert, dass sich weiße Frauen somit auf Kosten von People of Color mit Staat und Herrschaftsstrukturen identifizieren, statt diese infrage zu stellen. Sie bemängelt auch den herablassenden Blick vieler westlicher Journalistinnen auf afghanische Frauen und die fehlende Auseinandersetzung mit der eigenen Macht. Die teils ohne Einholung von Zustimmung und ohne ausreichende Kenntnis der Sprache und Kultur verfassten Reportagen haben mitunter schwere Folgen für die Porträtierten, während sie ihren Verfasserinnen Prestige bringen. Diese haben sich dann im „harten Feld der Kriegsberichterstattung“ bewährt.
„Indem sie die rassistischen Hierarchien und die koloniale Ausbeutung zu ihrem Nutzen fortführen, haben weiße Feministinnen Fortschritt nicht als Verzicht auf Kriege und das Imperium verstanden, sondern als Konkurrenzfähigkeit mit weißen Männern bei neoimperialen Aufgaben.“
Definitionsmacht und feministische Vordenkerinnen
Ob ein Mord als Ehrenmord eingestuft wird, wird der Autorin zufolge durch die muslimische Identität des Opfers und des Täters bestimmt. Ähnlich wie Genitalbeschneidungen oder die im Indien des 17. bis 19. Jahrhunderts gelegentlich vorkommende Praxis der Witwenverbrennung, werde das Thema zur Legitimation (post)kolonialer Praxen genutzt, statt den Blick auf patriarchale Gewalt im Allgemeinen zu richten. Gleichzeitig bestimmen westliche Staaten über die Körper migrantischer Frauen. So wurde beispielsweise 2020 bekannt, dass in den USA eine hohe Anzahl von Hysterektomien (Gebärmutterentfernungen) an migrantischen Gefängnisinsassinnen ohne deren Einwilligung durchgeführt worden waren.
Zakaria argumentiert, dass patriarchale Gewalt unabhängig von Kultur und Hautfarbe sei. Dementsprechend sei statt der Hierarchisierung der Probleme ein kollektiver Kampf nötig.
Feministische Klassiker lassen wenig Raum für Verständnis von Frauen of Color und die Intersektionalität der Unterdrückung. Die Autorin wirft die Frage auf, ob ein kritisches Lesen der Texte möglich ist oder ob viele dieser Texte aus dem Kanon entfernt werden müssten.
Als Beispiel nennt sie Simone de Beauvoirs Werk „Das andere Geschlecht“. Dort wird die Position von Frauen mit der Position der „Anderen“, wie Beauvoir Jüd*innen, Schwarze, Proletarier*innen, usw. nennt, verglichen. Zakaria kritisiert, dass Beauvoir also mit Frauen immer weiße Frauen meint. Des weiteren nimmt Zakaria Bezug auf Kate Millett, die mit „Sexus und Herrschaft“ den männlichen literarischen Kanon in Frage und darüber hinaus auch für einen Schulterschluss mit Frauen im globalen Süden einstand. Doch im Zuge ihrer Solidarität mit iranischen Frauen machte sie sich zu deren Sprecherin gegenüber westlicher Presse, statt deren antiimperialistische Haltung nachzuvollziehen.
Privilegien in der Geschichte des Feminismus
Die Wellen des Feminismus stellen die Geschichte weißer Frauen dar. In der ersten Welle ging es ums Wahlrecht. Die zweite Welle hatte zwei Strömungen: Dem radikalen Feminismus, der strukturelle Veränderungen wollte, stand der Feminismus der arbeitenden Frau gegenüber, die individuell ihren Vorteil suchte. Die dritte Welle in den 1990er Jahren beschreibt Zakaria als nicht mehr radikal.
Die Autorin beschäftigt sich kritisch mit dem sexpositiven Feminismus, der die sexuelle Freiheit zur vermeintlichen Grundlage der Freiheit von Frauen macht. Kapitalistische Interessen führten in den 1970er und 80er Jahren zur Vermengung der Frauenbewegung und der sexuellen Befreiung. Sexualität sei zum „Stempel für feministische Legitimität“ geworden. Zakaria schreibt, in der US-amerikanischen Gesellschaft gelte eine muslimische Frau als grundsätzlich sexuell unterdrückt und damit auch als insgesamt unfrei. Sexuelle Befreiung weißer Frauen werde medial gefeiert. Schwarze Frauen gelten dagegen als zu aufreizend und sexuell und muslimische Frauen als zu verschleiert.
Anhand der Konzepte der „Zwangssexualität“ nach Kristina Gupta und „Sexusociety“ nach Ela Rpzyleylo diskutiert sie das Thema weiter. Zakaria argumentiert, dass sexuelle Offenheit möglich ist, ohne dass sie zentrales und sichtbares Merkmal einer Person ist.
1962 veröffentlichte Helen Gurley Brown „Sex und ledige Mädchen“. Darin empfahl sie finanzielle Unabhängigkeit und sexuelle Befreiung vor der Heirat. Helen Gurley Brown prägte das Narrativ der erreichbaren sexuellen und finanziellen Freiheit. Infolge wurde Sexualität als Konsumgut und Verhandlungsmasse betrachtet. Selbstbestimmung war nunmehr durch Kaufkraft möglich. Die Verantwortung für die eigene Zufriedenheit lag bei der Konsumentin selbst. Diese Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Konsum und berufliche Macht täuschten über real abnehmende Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Lebensgestaltung und strukturelle Fragen hinweg.
Die sexuelle Befreiung wird medial als Erfolg der weißen Frau dargestellt, der in andere, weniger „fortschrittliche“ Erdteile „exportiert“ werden müsse. Dadurch wurde auch ausgeblendet, dass vorkoloniale Kulturen oft sexuell freier waren. Während im Kolonialismus Menschen im globalen Süden oftmals als lüstern und sexuell ungezügelt dargestellt wurden, herrscht heute ein Stereotyp der Prüderie. Als Maßstab gelten die jeweiligen westlichen Werte, die auch mit Macht durchgesetzt werden. So gab es im Kolonialismus viele Formen der Kontrolle von Frauen und ihren Körpern, wie etwa Zwangs-Genitaluntersuchungen oder strikt durchgesetzte Abtreibungsverbote.
Die Dominanz der weißen Frauen findet sich auch im Aktivismus wieder. Seit 1866 ging in den USA der Aktivismus gegen Vergewaltigungen von schwarzen Frauen aus. Obwohl weiße Frauen erst viel später zu dem Thema aktiv wurden, richtet sich der historische Blick nur auf weißen Aktivismus.
Unter „choice feminism“ ist die Idee zu verstehen, dass der Feminismus freie Wahlmöglichkeiten schenken sollte. Zakaria bemängelt, dass dabei jede Entscheidung als feministisch gilt und dementsprechend keine Opfer und keine Veränderung nötig sind. Sie fordert, dass Frauen die Möglichkeit haben müssen, Entscheidungen zu treffen, die weit mehr betreffen als ihre Körper und Sexualität; und es muss okay sein, diese zu kritisieren, wenn sie unsolidarisch sind.
Der Begriff der Intersektionalität geht auf Kimberlé Crenshaw zurück, die damit die besondere Situation schwarzer Frauen aufzeigte. Obwohl die Idee der Intersektionalität vielfach angewendet und weiterentwickelt wurde, schreibt Zakaria: „Die Diskussion über die Überschneidung von Weißsein und Frausein ist nach wie vor ein Tabu, insbesondere dann, wenn sie die Mitschuld weißer Frauen, die von weißen Privilegien profitiert haben, an der Aufrechterhaltung eines rassistischen Systems aufzeigt.“ (S. 193)
Da People of Color besonders stark von Armut betroffen sind und das Justizsystem für arme Menschen oft nicht zugänglich ist, sei materielle Umverteilung besonders wichtig für die Stärkung von Frauen of Color. Oft verhindern finanzielle Gründe die Beteiligung marginalisierter Personen an feministischen oder antirassistischen Aktivitäten oder Konferenzen. Doch die Kritik an ausschließenden Organisationsformen fände selten Gehör.
Der Philosophin Nancy Fraser zufolge werden Anerkennung (Identitätspolitik) und Umverteilung (Sozialpolitik) getrennt gedacht und umgesetzt. Zugleich würden Mittelkürzungen zulasten von Frauen, beispielsweise eben für Rechtsbeistände oder Frauenhäuser oft nicht als politisch erkannt.
Die NGO-isierung der Frauenbewegung
Bei der Vorstandswahl von NOW, der ältestesten Frauenorganisation in den USA, wurde 2017 eine afroamerikanische Kandidatin während des Wahlkampfs durch feindselige Zwischenrufe unterbrochen. Weiße Frauen äußerten die Sorge, dass sie marginalisiert würden, wenn eine Schwarze Frau an der Spitze der Organisation stünde. Zakaria bemängelt, dass in vielen amerikanischen Frauenorganisationen sich ausschließlich auf die Probleme weißer Frauen der oberen Mittelschicht konzentriert und ihre Sorgen auf alle anderen übertragen werde. Doch das Weißsein kann Zakaria zufolge nur mit Unterstützung weißer Frauen aus dem Feminismus verdrängt werden.
Statt Bildung von Ausschüssen oder einzelne PoC in höheren Positionen zu setzten, brauche es ein komplettes Umdenken. Die Analyse, wo und wie dieser Wandel zu vollziehen ist, muss intersektional sein, sie muss race, Klasse und Gender berücksichtigen, und das Resultat muss sowohl umverteilend als auch anerkennend sein. Das sind die Forderungen der Stunde, aber keine von ihnen kann ohne eine Wiederbelebung des Kollektivs und vor allem ohne eine Rückkehr zum Politischen erfüllt werden.“
Die NGO-isierung des Feminismus ist Zakaria zufolge problematisch, weil Ziele und Arbeitsweisen der Nichtregierungsorganisation kaum beeinflussbar sind. Stattdessen sei ein Fokus auf aktivistische Organisationen nötig. Der Fokus müsse auf dem Kollektiv statt auf dem Individuum liegen. Nach 40 Jahren Akzeptanz des Neoliberalismus, sei eine Re-Politisierung des Feminismus nötig.
Viele Feministinnen of Color stehen Zakaria zufolge vor der Frage, ob sie für einer Umgestaltung der weißen Strukturen kämpfen wollen oder stattdessen einen eigenen Feminismus entwickeln. Sie stellt die Frage, wie Solidarität geschaffen werden könne. Dabei seien viele Formen von Wissen und dessen Anerkennung unabhängig von der Fähigkeit, dieses zu präsentieren, nötig. Es brauche klare gemeinsame politische Forderungen. Die Vorherrschaft des Kapitals sei schlecht für alle Frauen. Die Spaltung müsse überwunden werden. Doch Feministinnen of Color können nicht einfach einem bislang exklusiven System hinzugefügt werden. Feministische Ansätze von Frauen of Color sollen Einfluss auf die feministische Bewegung haben. Auch ein Abbau der inneren Grenze des Weißseins im Feminismus sei nötig. Weißsein ist dabei nicht als biologisch zu verstehen, sondern als imperialistisches Erbe. So wie weiße Frauen sich ihrer Privilegien bewusst werden müssten, ständen Frauen of Color vor der Schwierigkeit, zwischen systemischem Rassismus und der entsprechenden Deutung jeder Interaktion zu unterscheiden. Auch eine Infragestellung und Debatte zu den im Buch diskutierten Themen sei wichtig, ohne dass ein Rassismusvorwurf droht.