„Da ist kein Ende“

Die Briefe des Anarchisten Gustav Landauer

| Jan Rolletschek

Gustav Landauer: Briefe 1899-1919, 7 Bände (Bd. 1 bis 3: Briefe, Bd. 4 bis 6: Kommentar, Bd. 7: Verzeichnisse und Register) Herausgegeben und kommentiert von Hanna Delf von Wolzogen, V&R unipress, Göttingen 2023, 4631 Seiten, 800 Euro, ISBN 978-3-8471-0457-5

Am 12. Juni 2023 ist die große Gustav-Landauer-Briefausgabe der Jahre 1899 bis 1919 erschienen.Sie gliedert sich in drei Bände mit Briefen, denen drei Bände erläuternder Stellenkommentar entsprechen. Ein weiterer Band ist mit Verzeichnissen angefüllt, wobei ein kommentiertes Personenverzeichnis und -register den meisten Platz einnimmt. Sieben dicke Bände; aber man bräuchte dazu noch eine Bibliothek, um den Hinweisen nachzusteigen, mit denen der Kommentar aufwartet. Woran sich ermessen lässt, wie tief die Herausgeberin Landauer mit dieser Ausgabe in die Kultur- und Geistesgeschichte der vorvergangenen Jahrhundertwende eingeschrieben hat.
Bereits ediert waren seine Briefwechsel mit Fritz Mauthner und Erich Mühsam; die Briefe an Ludwig Berndl digital immerhin zugänglich als Typoskript. Was nicht in der „Lebensgang“-Ausgabe von 1929 enthalten war, lag ansonsten zumeist nur handschriftlich und verstreut über verschiedene Archive vor. Dass Mauthner, Mühsam oder Martin Buber zu Landauers Briefpartnern zählten, war hinlänglich bekannt. Sein Umgang mit Max Beckmann, Lou Andreas-
Salomé oder Wieland Herzfelde dürfte es weniger gewesen sein. Wir erfahren von Reibereien mit Hugo Ball und Richard Hülsenbeck, die um „Unterstützung bei einer kuriosen politischen Aktion“ (III, 79) ansuchten, von Spaziergängen mit Karl Tomys, Gruppenwart der Gruppe „Grund und Boden“ des Sozialistischen Bundes, Silvio Gesell und Paulus Klüpfel in Eden bei Oranienburg, von Zwistigkeiten mit Kurt Hiller oder Pierre Ramus.
Knapp 2.800 Dokumente werden präsentiert; nur in Auswahl geboten werden lediglich Briefe familiären Charakters an die Eltern und die erste Tochter Charlotte. Einige Briefe des Jahres 1899, die schon in der 2017 von Christoph Knüppel besorgten Ausgabe der „Briefe und Tagebücher 1884-1900“ enthalten sind (vgl. GWR 422), wurden aufgenommen, sofern sie zum Verständnis von Landauers Situation zu dieser Zeit notwendig sind.
In einer längeren Einleitung reflektiert Hanna Delf von Wolzogen den Brief als Medium und literarische Gattung, die Art, wie Landauer ihn verwendet und die Bedeutung, die das Briefeschreiben für ihn hat. Verschiedene „Schreibszenen“ (IV, 33) werden eingeführt: Studentenbrief, Liebesbrief, Gefängnisbrief – offiziell oder als „Kassiber“ (IV, 42) herausgeschmuggelt – die geschäftliche und freundschaftliche Korrespondenz. Landauer nutzte das Medium – und seine Unterarten von Karte bis Telegramm – ausgiebig. Es diente der knappen Verabredung und prosaischen Kommunikation mit Verlegern ebenso wie der Bewältigung des Gefängnisalltags mittels seiner distanzierenden Beobachtung. Immer wieder wird Landauers „bewährte Briefschreiberegel“ (VI, 61) zitiert, der zufolge die in einem Brief aufgeworfenen Fragen im Antwortbrief „Punkt für Punkt“ (III, 438) zu erledigen sind. Das Schreiben von Briefen war ihm in jeder Hinsicht „eine Sache der Praxis“ (IV, 37).
Auch die wichtigsten Briefpartner*innen stellt die Herausgeberin kurz vor: darunter Auguste Hauschner, die Schriftstellerin und Salonnière, die seine „größte Förderin und Mäzenin“ (IV, 83) werden sollte; Max Nettlau, der Landauer erstmals 1892 während eines Aufenthalts in Zürich als Redner erlebte (IV, 175) und zu dem später ein freundschaftliches Verhältnis entstand; Constantin Brunner, der im Nachbarort lebende Philosoph, den Landauer zeitweilig unter seine wichtigsten Menschen zählte und dessen Hauptwerk er zu veröffentlichen half, mit dem er jedoch reuelos brach, als er darin ein System der „Menschenregistratur“ (II, 190) erkannte; Ludwig Berndl, Philosophiestudent aus proletarischer Familie, Indologe und später Übersetzer Leo Tolstois, den Landauer als Gesprächspartner schätzte, auch wenn er philosophisch nicht mit ihm einig wurde.
Zwischen den mündlichen Gesprächen, den Briefen und öffentlichen Äußerungen Landauers besteht eine Kontinuität des Wollens und der Diskussion. Theoreme, die im Austausch mit Brunner eine Rolle spielen, durchdringen auch die frühe Korrespondenz mit Berndl, wenn es etwa darum geht, eine zeitliche von einer unzeitlichen Perspektive zu unterscheiden. Ein Brief an den Gesellianer Paulus Klüpfel, worin Landauer ihm seinen Gedankengang in gedrängter Form anschaulich zu machen sucht, wird kurzerhand in einen Artikel für die Zeitschrift Ernst Joëls umgearbeitet. Gelegentlich seiner Rezension von Tolstois Tagebuch in Berndls Übersetzung teilt er Mauthner brieflich mit, dass er sich darin ein wenig mit ihm unterhalte und bittet, das „kleine Impromtu“ (III, 485) gegen den Skeptizismus nicht übel aufzufassen. Landauers Briefe sind von seinen übrigen Äußerungen ganz selbstverständlich nicht getrennt, und daher eine umso wichtigere Ergänzung zu deren Verständnis. Dokumente einer seltenen Briefkunst sind sie ohnehin.