„Wie arg es zugeht auf der Welt,wird auf Kongressen festgestellt.Man trinkt, man tanzt, man redet froh,und alles bleibt beim Status quo.“ (Erich Mühsam, Kalender 1913)
Redakteure der Zeitschrift „ak – analyse & kritik“ haben im vergangen Jahr einen öffentlichen, internationalen Kongress ukrainischer Linker im ukrainischen Lwiw besucht, von dem sie vor allem die Botschaft der 100 Mitglieder starken Organisation Sotsialnyi Rukh mitbrachten, die Linke im Westen möge sich doch bitte für vermehrte Waffenlieferungen ihrer Staaten an die Ukraine einsetzen.
Die Graswurzelrevolution hätte gerne in dieser Ausgabe einen Bericht vom Besuch einer Konferenz ukrainischer Kriegsgegner*innen veröffentlicht. Freilich: eine Anti-Kriegspolitik kann derzeit in der Ukraine nicht auf öffentlichen Konferenzen diskutiert werden. In einem Archiv in der Schweiz haben wir aber den Bericht von Anarchist*innen gefunden, die sich 1914, kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges auf den Weg nach Bielefeld gemacht haben, um sich mit den dortigen Sozialdemokraten darüber auszutauschen, wie sie zu dem Krieg stehen.
Ein Reisebericht von Leo J. Spar.
„Wir verstehen uns als Internationalist*innen, und wir vermissen den Austausch mit Linken aus anderen Ländern sehr”, herzlich begrüßen uns die Sozialisten in Bielefeld, zwei Monate nach Beginn der Invasion findet eine zweitägige Konferenz mit Aktivist*innen und Gewerkschafter*innen aus ganz Deutschland satt. Diese Konferenz kann während des Krieges stattfinden, denn trotz aller Kritik an der Regierung: in der Verteidigung gegen die russische Invasion unterstützen die Bielefelder Sozialisten ihre Regierung. Die Alternative wäre eine russische Besatzung des Landes – aus Sicht aller unserer Gesprächspartner*innen eine Katastrophe. „Es sind die …Russen gewesen, die den Bruch des Völkerrechts begangen haben“ (1), da halten wir „es nicht für angebracht, in diesem Augenblick, papierne Proteste gegen die Verletzung des Völkerrechts zu erheben, um sie von den Hufen der Kosakenpferde zerstampfen zu lassen, der Krieg ist da und wir haben uns zu wehren.“ (2) Natürlich ist der „Reichskanzler nicht unser Mann“, „gar oft haben wir in schroffem Gegensatz zu ihm gestanden. (3) Aber wir Sozialdemokraten sind entschlossen „den Petersburger Gewalthabern“ „in den Arm zu fallen und sich gegen das Kosakenregiment zu wehren, das die Folge eines räuberischen Überfalls auf Deutschland werden würde, wenn dieser Überfall keine entschiedene Abwehr fände“. Im Krieg gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg geht es nicht nur darum die deutsche Nation, sondern darum „die ganze menschliche Kultur zu verteidigen“. „Für unser Volk, seine freiheitliche Zukunft, steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten im eigenen Volk befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel.“ (4)
Aber steht das nicht in Widerspruch zu vielem was vor dem Krieg als linke Politik galt?
Genosse Konrad Haenisch ist um eine Antwort nicht verlegen: „Alle unseren großen Vorkämpfer, Lassalle, ebenso wie Marx und Engels, Liebknecht nicht weniger als Bebel waren davon überzeugt, dass die nationale Unabhängigkeit eines Staates die unerlässliche Vorbedingung seiner demokratischen Entwicklung sei. (…) Vor allem haben sie von jeher in einer Hegemonie Russlands über Deutschland nicht nur eine, sondern schlichtweg die Gefahr, die tödliche Gefahr für die demokratische Entwicklung unseres Landes gesehen. Wer aber die ungeheuere Bedeutung dieser nationalen Unabhängigkeit für die Demokratie als Vorbedingung des proletarischen Klassenkampfes erkannt hat – nun wohl, der muss auch die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis ziehen. Das heißt er darf es nicht mit einem platonischen Bekenntnis zu der nationalen Unversehrtheit bewenden lassen, im übrigen aber erklären, der Krieg geht uns nichts an…“. (5)
Uns überrascht das diverse Spektrum auf der Konferenz. Mit dabei sind Feministinnen, wie Lily Braun, die sonst ein „Ein-Küchen-Haus“ propagiert, eine kollektive Großküche in den Wohnhäusern statt privater Küchen soll die Hausarbeit überwinden und damit die patriarchal geprägte Kleinfamilie radikal verändern. Wie sieht diese Feministin den Krieg? „Früher waren wir der Ansicht, dass Krieg und Kultur sich unbedingt entgegen stehen. Dieser Krieg hat auf der anderen Seite Kultur geschaffen. Wir hatten bisher keine Volkskultur und geglaubt nur durch den Frieden dazu gelangen zu können. Wir müssen umlernen. Die Volkskultur wird ein notwendiges Ergebnis dieses Krieges sein. Manche Menschen sagen, sie hätten umsonst gelebt, denn alles, wofür sie strebten, habe dieser Krieg zerstört. Das sagen besonders die in der Friedensbewegung tätig gewesenen Personen. Nichts ist falscher. Der Krieg wird die Friedensbewegung aus der Vereinsmeierei herausheben. Die Grenzen der Nationen wollen wir nicht zerstören, aber die Verbrüderung der Völker als Zukunftsaufgabe vor uns sehen. Auch die Frauenbewegung muss sich nach dem Krieg mächtig entwickeln, damit man uns überall als Bürgerinnen anerkennt. Wir müssen unsere Aufgabe im Dienste des Volkes erfüllen. Ganz Frauen wollen wir sein, nicht mehr Damen”. (6) Tumber Nationalismus ist den Bielefelder Sozialdemokraten fern, sie warnen seit Beginn des Krieges vor „übertriebener Russenfurcht“, „es geht nicht an, in jedem Ausländer einen spionierenden Russen zu erblicken“. (7) Die bekannte Sozialistin Rosa Luxemburg können wir auf der Konferenz nicht treffen, da sie wegen ihrer Gegnerschaft zum Krieg im Gefängnis sitzt.
Auf der Rückreise aus Bielefeld geht uns viel durch den Kopf: Muss jetzt nicht Schluss sein mit einer rechthaberischen Kommentierung des Krieges aus der Ferne? Müssen wir angesichts der klaren Haltung der Genossen in Bielefeld internationalistische Politik nicht neu denken, wenn wir sie nicht dem geopolitischen Denken opfern wollen? Wie sieht eine linke Antikriegspolitik aus, die nach Handlungsmöglichkeiten von unten sucht, und sich nicht in der militärischen Logik auflöst? Unsere Reise war ein erster Schritt der Solidarität mit den Genoss*innen vor Ort. Bei einem imperialistischen Angriffskrieg muss die Botschaft der Linken Solidarität mit den Angegriffenen sein, nicht Verständnis für den Aggressor. Oder?