Trotz der Gewalt – Hoffnung in Chiapas

Die aktuelle Situation der Zapatistas. Ein Bericht aus Mexiko

| Luz Kerkeling, Gruppe B.A.S.T.A. / Ya-Basta-Netz

Die Zapatistas sind eine sozialrevolutionäre indigene Gruppierung, die vor allem im südlichen mexikanischen Bundesstaat Chiapas aktiv ist. Weltweite Beachtung fanden sie 1994 durch den Aufstand der Ejército Zapatista de Liberación Nacional (EZLN), sowie durch die Schriften und das Auftreten von Subcomandante Marcos. Der Name der Zapatistas geht zurück auf den Sozialrevolutionär Emiliano Zapata (1879–1919), einen libertär-sozialistisch inspirierten Protagonisten der mexikanischen Revolution im Süden Mexikos, und seine Mitstreiter*innen. Wir veröffentlichen hier einen aktuellen Bericht aus Chiapas. (GWR-Red.)

Die politisch-soziale Situation in Mexiko ist hochkomplex und wird derzeit deutlich schwieriger für emanzipatorische Bewegungen wie die Zapatistas. Sie werden weiterhin mit heftiger Gewalt konfrontiert, damit kapitalistische Projekte durchgesetzt werden können. Diese sind meist mit patriarchalen, rassistischen und die Umwelt zerstörenden Vorgehensweisen verbunden. Zudem haben sich zwei Drogen- und Menschenhandels-Kartelle des organisierten Verbrechens in Chiapas ausgebreitet, wo es lange Jahre nicht zuletzt Dank der Zapatistas ruhiger geblieben war. Pedro Faro vom Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas betont dazu im Interview: „Chiapas ist wirklich gefährlicher geworden. Ein klarer Faktor ist die Gewalt durch mindestens zwei Drogenkartelle, die sich gegenseitig bekämpfen – Cartel Jalisco Nueva Generión und Sinaloa Sur -, worunter auch die Bevölkerung stark leidet. Hier gibt es seitens der offiziellen „Sicherheitskräfte“ häufig eine Duldung oder sogar Zusammenarbeit mit den Kartellen.“

Zweifelhafte „Entwicklungsprojekte“

Unter dem aktuellen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador – der als patriotisch-rechtslastiger und neoliberaler Pseudo-Sozialdemokrat einzuschätzen ist – werden weiterhin technikgläubige „Fortschrittsprojekte“ vorangetrieben. Der Politiker war in der autoritären Staatspartei PRI aktiv (Institutionelle revolutionäre Partei, die Mexiko 71 Jahre ohne Unterbrechung beherrschte, danach noch einmal sechs Jahre), danach in der sozialdemokratisch-neoliberalen PRD (Partei der demokratischen Revolution), war repressiver Bürgermeister von Mexiko-Stadt und übernahm 2018 die Herrschaft mit seiner von oben gegründeten Partei MORENA („Bewegung zur nationalen Erneuerung“). Pikant ist bei der Namenswahl, dass die bedeutendste anarchistische Zeitschrift Mexikos Anfang des 20. Jahrhunderts der Bewegung um Ricardo Flores Magón „Regeneración“ (dt.: Erneuerung) hieß. So will die Partei, in deren höheren Ebenen hauptsächlich alte PRI-Kader tätig sind, die Bevölkerung mitziehen, was auch häufig gelingt, vor allem in urbanen Kontexten.

Auch Konzerne aus sogenannten „Industrieländern“ wie Deutschland, weiteren EU-Ländern und den USA und Kanada profitieren weiterhin vom Verkauf von Waffen, Fahrzeugen, Chemikalien, der Anlegung von Monokulturen und vermeintlich ökologischer Elektrizitätsproduktion, desaströsem Tagebau oder gigantischen Tourismusprojekten wie dem (neo-kolonialistisch schlecht benannten) „Maya-Zug“ (span.: „Tren Maya“), an dem auch die Deutsche Bahn beteiligt ist.

Pedro Faro erläutert den Zusammenhang von Repression und kapitalistischen Projekten so: „Durch das Nichtstun bei Menschenrechtsverletzungen und die generelle Disfunktionalität des Staates und des Systems werden die Menschenrechte korrumpiert. Es gibt weiterhin willkürliche Festnahmen, Folter und Inhaftierungen unschuldiger Menschen, und eine Situation, die wir von vorherigen Regierungen kennen, sind die Zwangsumsiedlungen. Dies geht weiter, es gibt in Chiapas über 14.000 Vertriebene. Mehrere Faktoren konnten wir identifizieren: Eine Zunahme der Repression, der Vertreibung sowie des Menschenhandels – dies betrifft vor allem Personen aus Mittelamerika.Erschwerend kommt hinzu, dass den Zapatistas ehemals nahestehende kleinbäuerliche Gruppen nun Teil der Aufstandsbekämpfung bilden. Dafür erhalten sie Gelder und Posten. Das angebliche „Umweltprojekt“ zur Pflanzung von Obstbäumen „Sembrando Vida“ [„Leben säen“] führt zu einer starken Abholzung, zur Privatisierung der Gemeindeländereien und zu bisher kaum gekanntem Individualismus in den kleinbäuerlichen Gemeinden. Der Kollektivismus und die Subsistenzwirtschaft werden dadurch stark zurückgedrängt.“

Der Widerstand und die Vernetzung gehen weiter

Die Zapatistische Bewegung EZLN und der Nationale Indigene Kongress CNI (span.: Congreso Nacional Indígena) leisten weiterhin entschlossenen Widerstand mit pazifistischen Mitteln.
Von zapatistischen Genoss*innen wurde uns im März 2023 vor Ort noch einmal deutlich ein großes Dankeschön für die Organisierung der Europa-Reise von 2021 der EZLN und des CNI (die GWR berichtete) ausgedrückt, die ohne Zweifel ein wirklich historisches Ereignis war, denn zuvor gab es zwar viele Besuche von Aktivist*innen aus Europa und anderen Regionen nach Mexiko, aber noch keine derartig große antikoloniale Reise (ca. 180 sozialrevolutionäre indigene Aktivist*innen aus Südmexiko nahmen teil).
Die hiesigen Widerstandsbewegungen von links und unten und der Austausch mit ihnen wurden wertgeschätzt und in ihren zapatistischen Dörfern haben die Delegiert*innen bereits ausführlich Bericht erstattet. Es gab auch konstruktiv-kritische Anmerkungen zur Europa-Reise, so machen sich die Compas (Genoss*innen) Zapatistas Sorgen um die Situation in Europa, sie hörten von Selbstmorden aufgrund von Armut und der starken Repression gegen Geflüchtete. Es ist ihnen aufgefallen, dass eher wenig gelacht wird.

Der CNI findet klare Worte zur historischen und aktuellen Situation: „Die zapatistischen Pueblos [1], die weder kapitulieren noch sich verkaufen oder aufgeben, setzten entschlossen ihre Bemühungen fort, ihre Autonomie aufzubauen und für das Leben zu kämpfen. Heute − fast 30 Jahre nach ihrem YA BASTA − gibt es in den zapatistischen Gemeinden kein organisiertes Verbrechen, keinen Drogenhandel, keine Frauenmorde, kein gewaltsames Verschwindenlassen, keine Prostitution und auch nicht die vielen anderen Übel, die unser Land mit Blut und Schmerz überfluten. Der Zapatismus und seine ganz andere Lebensweise sind für viele Menschen in Mexiko und auf der ganzen Welt ein Bezugspunkt für soziale Organisation und politische Kongruenz und Ethik − ein konkretes Beispiel dafür, dass eine andere Welt möglich ist. Heute werden die zapatistischen Pueblos immer noch angegriffen. Die paramilitärische Gruppe ORCAO (Organización Regional de Cafeticultores de Ocosingo − Regionale Kaffeebauern-Organisation von Ocosingo) hat die zapatistische Gemeinde Moisés Gandhi seit 2019 mehr als ein Dutzend Mal angegriffen. Dabei wurden Schulen und Kaffeelager niedergebrannt, es gab Schießereien, Folter, Entführungen und schwere Schussverletzungen. All diese Angriffe wurden von den zapatistischen Pueblos, von Menschenrechtsorganisationen und Journalist*innen öffentlich gemacht und verurteilt, was allerdings bisher keine Wirkung gezeigt hat, da diese Gruppen ihre Angriffe unter dem Schutz der drei Regierungsebenen weiter ungestraft fortsetzen. Hinzu kommt, dass paramilitärische Gruppen wie die ORCAO Mittel aus Programmen wie Sembrando Vida erhalten, was sie dazu motiviert, Gemeinden anzugreifen, um ihnen Territorium wegzunehmen und für das Programm zu registrieren. Die Angriffe auf die zapatistischen Pueblos finden zudem vor einem besorgniserregenden Hintergrund statt: dem wachsenden Einfluss und Agieren von Gruppen des organisierten Verbrechens in Chiapas, der Reaktivierung paramilitärischer und narco-paramilitärischer Gruppen, der Bildung von Selbstverteidigungsgruppen sowie der Präsenz des Militärs und der Nationalgarde. Diese Akteure sowie die Auseinandersetzungen um Territorien für den Bergbau, Straßen, den Drogenverkauf, den Handel mit Migrant*innen, den Frauenhandel, Zwangsrekrutierungen, Zwangsvertreibungen, Verschwindenlassen, Massaker und vieles mehr bringen Chiapas an den Rand eines Bürgerkriegs, wie die Zapatistas selbst geäußert haben.
Angesichts der zunehmenden Gewalt, die von den drei Regierungsebenen mit leeren Äußerungen systematisch geleugnet und verschleiert wird, wie es schon die vorangegangenen Regierungen getan haben, rufen wir dazu auf, durch friedliche Aktionen ein Ende des Krieges gegen die zapatistischen Pueblos, ein Ende des Krieges in Chiapas und in ganz Mexiko zu fordern.
Es muss deutlich gesagt werden: In Mexiko herrscht bis heute ein grausamer Krieg, der sich in den mehr als 100.000 Verschwundenen, mehr als 30.000 Morden pro Jahr und 11 Morden an Frauen pro Tag zeigt. Im Norden und Süden des Landes sind durch die Zusammenstöße unter Kartellen und zwischen Kartellen und Militär ganze Gemeinden vertrieben worden. In diesem Krieg sind Frauen, junge Menschen, Migrant*innen und die Pueblos Originarios die direkten Opfer eines Systems, das das Leben bedroht. Und inmitten dieses Krieges erheben sich immer wieder Stimmen, die uns ihren Schmerz und ihre Hoffnung zurufen.“

Der CNI fordert die Auflösung der paramilitärischen Gruppen und die Bestrafung der materiellen und geistigen Urheber dieser Angriffe, eine gründliche Untersuchung der Regierung von Rutilio Escandón [Gouverneur der MORENA-Partei] in Chiapas, das Ende des Schweigens, mit dem Präsident López Obrador die Gewalt in Chiapas unterstützt sowie eine Garantie des Friedens mit Gerechtigkeit und Würde für Alle.

Die Hoffnung bleibt

Pedro Faro betont, dass die Hoffnung bleibt: „Den Zapatistas, den Gemeinden des CNI und auch den Abejas von Acteal [pazifistische Organisation, Anm. d. Autors] ist es wichtig, an keinerlei Staatsprogramm zu partizipieren, denn der Regierung geht es um die Kontrolle ihrer Leben und ihrer Territorien. Den Gemeinschaften geht es um den weiteren Aufbau ihrer Autonomie, es geht ihnen nicht um Konsum und Bereicherung. Heute sehen wir aus der Perspektive von Frayba, dass es, auch wenn das Panorama generell kritisch und düster ist, stets eine Perspektive der Hoffnung, der Alternativen und des Kampfes gibt. Das haben uns die Zapatistas gezeigt, die Abejas und die Genoss*innen vom CNI. Trotz dieser Düsterkeit gibt es Wege des Widerstands und der Alternativen für unsere Leben.“

Fest steht nach Aussagen der Compas Zapatistas selbst: Die Zapatistas waren immer und bleiben Internationalist*innen, arbeiten gerne mit allen basisdemokratischen linken Genoss*innen weltweit zusammen und schauen hoffnungsvoll und kämpferisch nach vorn. Und es gibt Gründe, dies zu feiern: Am 1. Januar 2024 jährt sich der 30. Jahrestag des „Aufstands der Würde“ der Zapatistas.

„Es ist unsere Überzeugung und unsere Praxis, dass es nicht nötig ist, Anführer, Oberhäupter oder einen Messias oder Retter zu haben, um zu rebellieren und zu kämpfen. Um zu kämpfen, sind lediglich ein wenig Anstand, ein bisschen Würde und viel Organisation notwendig.“
(EZLN)

[1] Pueblos (Originarios) − Als Eigenbezeichnung nicht übesetzt, dt.: etwa: ursprüngliche bzw. indigene Gemeinden/Völker/Bevölkerung.
(Übersetzung des CNI-Textes aus dem Spanischen von Katalina)

Surftipps:
https://carea-menschenrechte.de/ (Seite zur Menschenrechtsbeobachtung in Chiapas)
www.chiapas.eu (Seite zur Menschenrechtssituation in Mexiko, deutschsprachig)
www.congresonacionalindigena.org (Seite des CNI spanisch-/englisch-/deutsch-sprachig)
http://enlacezapatista.ezln.org.mx (Seite der EZLN spanisch-/englisch-/deutschsprachig)
www.gruppe-basta.de (Homepage der Gruppe B.A.S.T.A. Münster / deutschsprachig)
www.tierra-y-libertad.de (Homepage der Zeitschrift für Solidarität und Rebellion / deutschsprachig)
www.ya-basta-netz.org (Netzwerk für Solidarität und Rebellion / deutschsprachig)