Arbeitsrechte für alle

Darf der Blick aus 2023 auf die Streiks von 1973 ein nostalgischer sein? Das Kapital hat daraus gelernt...

| Mag Wompel

Im Oktober 2023 erinnerte erinnerte Thorsten Bewernitz in der GWR 482 an die „wilden“ Streiks 1973. Der folgende Artikel von Mag Wompel zeigt auf, dass diese Streiks auch deshalb so bedeutend waren, weil damals in vielen Betrieben erstmals internationale und geschlechterübergreifende Solidarität geübt wurde. Diese gelte es wieder zum Leben zu erwecken. (GWR-Red.)

Kaum etwas ist selbstverständlicher, als heute auf die Streikbewegung von 1973 in Deutschland zu blicken, ein 50-jähriges Jubiläum erfordert es geradezu. Entsprechend gibt es eine Fülle von Artikeln und Veranstaltungen, die auf die Streiks von damals zurückblicken. Und es ist nicht nur immer begrüßenswert aus der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung – ihren Erfolgen wie auch Fehlern – zu lernen. Es ist auch dringlich, wollen wir die AktivistInnen von damals noch zu Wort kommen lassen.
Schwieriger wird es bei der Frage, wie wir uns der Retrospektive nähern wollen. Mein Arbeitstitel für diesen Artikel lautete z.B.: „Wenn MigrantInnen 1973 wie heute deutsche Lohnabhängige zum Streik tragen müssen“. Das hat auf den ersten Blick in dieser Stoßrichtung seinen Charme, wirft aber schon auf den zweiten viele Probleme auf. Ja, bei Ford in Köln ging die Initiative eindeutig von den türkischen Kollegen aus und in Pierburg waren es migrantische Frauen,– doch schon bei Opel in Bochum sah es anders aus und es war ein gemeinsamer Streik der Belegschaft. Aber natürlich gilt noch schwerwiegender die Gefahr von Nationalismen, eng gefolgt vom drohenden Rassismusvorwurf. So wie es unter Einheimischen wie MigrantInnen ebenso Arschlöcher wie solidarische Menschen gibt, kann die Streikbereitschaft schwer mit nationalen Mentalitäten verallgemeinert werden.
Unterschiede gibt es dennoch, die sich wohl aber eher mit unterschiedlicher Sozialisierung erklären lassen. Hatte Lenin noch keine Probleme damit, „die Deutschen“ pauschal mit der berühmten Bahnsteigkarte in Verbindung zu bringen, würde ich vorsichtiger behaupten, dass viele immer noch einen Irrglauben an Ordnung und Hierarchien pflegen, und sei es aus Bequemlichkeit. Da es in Deutschland, grob geschätzt, weder mehr noch weniger Streiks als im Rest der Welt gibt, vermute ich die Gründe eher in unterschiedlicher Sozialisierung durch unterschiedliches Streikrecht. An dessen restriktiver Auslegung hat sich bekanntlich bis heute in Deutschland nichts geändert, wohl auch, weil die DGB-Gewerkschaften hieran kein Interesse haben.
Viele der Erzählungen von 1973 sind schon gekennzeichnet vom unterschiedlichen Blick auf den Betriebsrat, der für die meisten deutschen KollegInnen (zunächst) als der natürliche Ansprechpartner bei der bestehenden Unzufriedenheit mit dem Lohnniveau und den Arbeitsbedingungen erschien. Ansprechpartner und Akteur zugleich. Was dem Selbstbild vieler Betriebsräte durchaus entgegen kam: „Ich regle das für Dich, Kollege“, klang noch vor kurzem durch die Werkshallen. Die migrantischen KollegInnen hatten damals kaum eine Chance, sich überhaupt vom Betriebsrat vertreten zu fühlen und entsprechend geringere Erwartungen an diesen. Die Streiks von 1973 fungierten ja als „wilde“, weil viele Gewerkschaftsapparate und Betriebsräte ihnen ihre Unterstützung versagten und sie viel zu oft Hand in Hand mit Kapital und Polizei niederschlugen (vgl. GWR 482).
Gewerkschaftspolitisch waren es daher die ersten Widerstände gegen Betriebsräte und teilweise auch gegen die Vertrauensleutekörper (wenn diese nicht mit den MigrantInnen gemeinsam kämpften). 1973 hießen sie noch einfach „Verräter“, später, als eine der Lehren des Kapitals, wurde ihre Vereinnahmung und Einbindung in die Betriebs- und Standortinteressen bis weit über die Vorgaben des Betriebsverfassungsgesetzes hinaus professionalisiert und das „Co-Management“ geboren. Dies geschah teilweise schleichend durch kleine Privilegien, wie z.B. Normalarbeitszeit in einem Schichtbetrieb, oder durch direkte Korruption durch Gehälter und Ausstattung auf Managementebene bis hin zu den berühmten Puffbesuchen im Fall VW. Allerdings galt diese Strategie vor allem in Großbetrieben der Auto-, Stahl- oder Chemieindustrie, während in Kleinbetrieben die Betriebsratsgründung möglichst behindert wurde und immer noch wird, nun unter dem Namen „Union Busting“. Dies fällt umso leichter, als die kleine „Führungsspanne“ in kleinen Betrieben viele der Lohnabhängigen zur Illusion verleitet, Konflikte direkt und auf gleicher Augenhöhe mit „dem Chef“ lösen zu können, denn ginge es diesem gut…
Auch heute noch sind die Belegschaften in jungen Dienstleistungsbetrieben (Call Center z.B.) und „Startups“ dafür bekannt, nach Gewerkschaft und Betriebsrat erst zu rufen, wenn es ihnen existenziell an den Kragen geht. Auch deshalb wird in Großkonzernen der Einbindung der Betriebsräte nicht ganz vertraut und zusätzlich versucht, arbeitsorganisatorisch kleinbetriebliche Strukturen zu simulieren.
Denn die Lehren des Kapitals bezogen sich, über die Domestizierung der Betriebsräte hinaus, auch auf die Einbindung der Belegschaften – und ihre Spaltung. Hierfür gab es im Laufe der Jahrzehnte mehrere Schritte auf verschiedenen Handlungsebenen.
Die auffälligsten betrieblichen Veränderungen folgten hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und Arbeitsorganisation – hier zeigte sich auch am besten die bekannte Fähigkeit des Kapitals, empanzipatorische Forderungen aufzugreifen, anzueignen und gegen uns zu wenden.
Ursache für die betrieblichen Aufstände von 1973 waren ja bekanntlich nicht nur die Inflation („Eine Mark mehr!“) und (doppelte) Lohndiskriminierung, der Kampf galt auch der Diktatur des Fließbandes. Dieses gibt es bekanntlich bis heute, doch in den 1970er bis 90er Jahren tummelten sich viele ArbeitssoziologInnen (ich war eine davon), ArbeitsmedizinerInnen und ArbeitspsychologInnen in staatlich finanzierten Projekten mit den wohlklingenden Zielen der „Humanisierung der Arbeitswelt“ und der „Zeitsouveränität“. Die entgrenzenden Folgen von „Vertrauensarbeitszeit“, Gleitzeit und flexiblen Arbeitszeiten können auch heute beobachtet werden. Doch vor allem die damalige Einführung der Gruppenarbeit in den Fabriken wurde dabei als Erfolg gefeiert und (meine) Kritik daran auch von KollegInnen scharf kritisiert. Dabei war schon damals offensichtlich, dass die Forderungen der Belegschaften nur vorgeblich aufgegriffen wurden und auch ihre Aufwertung durch verbale Wertschätzung (z.B. im kontinuierlichem Verbesserungsprozess) das „Gold in den Köpfen“ derjenigen abschöpfen sollte, die bislang nicht zum Denken in die Fabrik kommen, sich aber nun selbst wegrationalisieren sollten.
Natürlich galten die revolutionär klingenden Veränderungen den Zielen der Kostenersparnis auf allen Ebenen (Material, Arbeitskraft, Platz und Zeit), der sich die Lean Production / schlanke Produktion verschrieben hatte – zunächst in den Fabriken, schnell auch in Dienstleistung und Verwaltung. Was mir damals niemand glauben wollte, ist heute allseits bekannt, auch als der Überausbeutung dienender permanenter Personalmangel.
Für unseren Zusammenhang sind die psychologischen Nebeneffekte dieser Strategien bedeutsamer, denn sie wirken bis heute und haben meines Erachtens großen Anteil an unseren heutigen gewerkschaftlichen Mobilisierungsproblemen.
Denn mit der Dezentralisierung der Arbeitssturkturen, v.a. mit Hilfe der gewerkschaftlich geforderten Gruppenarbeit, ist es gelungen, Konkurrenz nicht mehr „nur“ zwischen Nationen, Unternehmen und gar ihren internationalen Standorten, sondern sogar innerhalb eines Betriebes, zwischen den einzelnen Arbeitsgruppen zu verankern. Steuerung durch Zahlen und Arbeitsvorgaben („es ist uns egal, wie ihr das macht“) macht offen autoritäre Führung überfüssig – nun perfektioniert in der Steuerung durch eine App, wie sie vor allem die EssenslieferantInnen erleben. Fast nebenbei wurden alltägliche Konflikte vom direkten Vorgesetzten zu den KollegInnen umgeleitet: Sei es die nun den Gruppen selbst überlassene Urlaubsplanung, sei es die Jagd auf Kranke. Letzte entstand als Konfliktherd untereinander durch konzernweiten Wettbewerb der Krankheitsquoten einerseits und die Abschaffung der früheren „Personalreserven“ andererseits. Heute kann bis zum Gesundheitswesen der perverse Druck aufeinander zur „Anwesenheit im Krankheitsfall“ beobachtet werden.
Solche Internalisierung der Unternehmensziele und Dezentralisierung von Führung und Kontrolle geschah durch die konstruierte Nähe zum Markt und dessen Sachzwängen, wie sie in einem kleinen Handwerksbetrieb meist leider erlebt werden. Doch kamen und kommen die KollegInnen z.B. in kleinen Klitschen nicht in den „Genuss“ von Unternehmensaktien, die diese gezielte Identifikation verstärken: „Wir müssen mir kündigen, weil ich zu oft krank gefeiert habe“.
Natürlich gibt es solche Einbindungstrategien auch hinsichtlich der Entlohnung. „Eine Mark mehr!“ oder „300 Mark und keinen Pfennig weniger!“ bei Opel in Bochum − in dieser Forderung für Teuerungszulagen hatten sich 1973 MigrantInnen und Deutsche, Frauen und Männer verbündet. Vor allem bei Pierburg in Neuß kämpften migrantische Frauen zudem erfolgreich gegen die Diskriminierung durch sogenannte Leichtlohngruppen und für einen bezahlten Hausfrauentag im Monat.
Natürlich sind wir 2023 leider immer noch weit entfernt von echter Gleichstellung, doch offene Lohndiskriminierung gibt es nicht mehr – diese wäre zu platt, zu angreifbar – und ist auch nicht mehr nötig. Denn wurden 1973 noch offen untereinander die Lohnzettel verglichen (wenn nicht oder wenn auch arbeitsvertraglich verboten), hat diese Offenheit untereinander spätestens seit der Leanproduction und den „Nasenprämien“, Leistungszulagen, Anwesenheitsprämien etc. leider meist aufgehört. Dies ist keine Bagatelle, sondern lediglich ein Indiz von vielen, wie es dem Kapital gelungen ist, gewünschte Spaltungslinien zu internalisieren und die Individualisierung im Kampf untereinander um den Götzen „Arbeitsplatz“ voranzutreiben – auch wenn dieser längst nicht die Existenz sichert.
Denn: Werden die Streiks von 1973 oft als Arbeitskämpfe gegen das System gespaltener Belegschaften bezeichnet, sind seitdem viele weitere Spaltungslinien im Betrieb hinzugekommen – Entlohnung ist nur der offensichtlichste Faktor davon. Die damals offen rassistische Betriebshierarchie ist nun verdeckter, die Spaltungslinien verlaufen nicht mehr offensichtlich entlang der Nationalität oder des Geschlechtes, sondern zwischen den „Kernbelegschaften“ und der zunehmenden Anzahl ihrer Ränder von Befristungen bis zu Leiharbeit. Diese Spaltungen samt Unterschieden in Entlohnung, Arbeitsplatzsicherheit, Urlaubsansprüchen etc. werden als Erfolg der betrieblichen Wettbewerbsstrategien von Stammbelegschaften und ihren gewerkschaftlichen Interessenvertretungen mitgetragen als vermeintliches „Sicherheitspuffer“ gegen Entlassungen oder auch nur Lohnabbau. Auch deshalb hat es z. B. unsere Leiharbeitskampagne so schwer, auch bei vielen Gewerkschaftslinken…
Bei so vielen Spaltungslinien innerhalb der Klassen (Erwerbslose habe ich ausnahmsweise aus der Betrachtung ausgenommen), gerät die rassistische schnell aus dem Blick. Und ja, Gewerkschaftsapparate haben seitdem vieles gegen Rassismus unternommen, nicht nur die berühmte Gelbe-Hand-Kampagne. Doch faktisch sind MitgrantInnen in Betriebsräten oder gar Gewerkschaftsvorständen Mangelware.

Kürzlich sorgte ein Urteil für Empörung, das den Belegschaftsversammlungen eine Übersetzung versagt – aber auch ver.di tut sich schwer, z. B. Rider zu organisieren – mit Verweis auf sprachliche Hürden… Über rechte Betriebsräte oder die erschreckenden überdurchschnittlichen Anteile von Gewerkschaftsmitgliedern an den AfD-WählerInnen wird ungern gesprochen.
Allerdings werden erneut dringend Arbeitskräfte benötigt, um den „Standort Deutschland“ zu retten – die weltweite Anwerbung von Fachkräften (und nur diesen!) findet aber nun unter anderen Voraussetzungen statt, denn mittlerweile hat eine breite „Migrantisierung“ der Arbeitsbedingungen stattgefunden im Sinne ihrer Prekarisierung – aller Konzentration der Gewerkschaften auf diese zum Trotz auch in den Kernbelegschaften. Und die betriebliche Integration der ArbeitsmigrantInnen findet nun vor dem Hintergrund einer angeblich antiautoritären Unternehmenskultur des mitdenkenden und mitverantwortlichen „Mitarbeiters“ statt. Solche haben Solidarität lediglich als diejenige mit den Unternehmenszielen im weltweiten Wirtschaftskampf zu verstehen – und tun es leider oft genug.
Gewerkschaften haben dem nichts entgegen zu setzen–. Sie wollen es auch nicht, solange auch sie die nationalen Wirtschaftsinteressen zu ihren machen. Es regt mich spätestens seit der zaghaften Ablehnung der Hartz-4-Gesetze durch den DGB auf, als Erwerbslose als Träger von Kaufkraft betrachtet werden mussten, um die skandalöse Höhe der sog. Grundsicherung zu kritisieren. Auch bei jeder Tarifrunde stellen Löhne nicht das dar, was die Menschen brauchen, sondern potenzielle Nachfrage. Statt vielen weiteren Beispielen sei hier nur das neueste genannt, der verbilligte Strompreis für die Industrie und nicht für die Lohnabhängigen. Solch ein instrumentelles Menschenbild spielt dem Kapital in die Hände und steht jeglicher Form der Solidarität der Klasse untereinander entgegen.
Wenn heute ein Rider in der 4. Etage ein Essen oder vergessenes Lebensmittel liefert (und oft dafür kein Trinkgeld bekommt), stehen an der Tür zwei Lohnabhängige gegenüber, vermittelt über eine vermeintlich anonyme und neutrale App. Der unsichere Aufenthalt des einen wird jedoch durch das gleiche Kapital ausgebeutet, wie die unbezahlten Überstunden der anderen. Und sie sind aufeinander angewiesen: „Wärst Du nicht hungrig (müde oder träge), wäre ich längst ausgewiesen“. Eine Gewerkschaft, die in meinen Augen aus 1973 (und der Entwicklung danach) gelernt hätte, würde uns den (unnötigen) Verzicht nicht mit dem Verweis auf kapitalistische Sachzwänge und unsere vermeintlichen Konsumwünsche schmackhaft machen wollen. Sie würde für Bedingungen kämpfen, die beiden ein würdiges und gesundes Leben und (Nicht)Arbeiten ermöglichen.
So aber besteht die Gefahr, dass die aktuell vielen Artikel und Veranstaltungen zu 1973 bei einem rein nostalgischen Charakter verbleiben. Es ist gefährlich, weil die bestehende Krise einer Gewerkschaftsbewegung, die auf die Kapitalstrategien und ihre Spaltungen immer noch keine durchschlagende Antwort gefunden hat (oder gar diese mitträgt), schon lange zu oft den Blick zurück verfälscht. So nachvollziehbar es ist, sich in Zeiten zurückzusehnen, in denen Tariferhöhungen rituellen Charakter hatten, die angeblich „goldenen 70er Jahre“ der Gewerkschaften beruhten auf der Systemkonkurrenz und nicht unserer Stärke. Zu viele ältere und v. a. männliche Gewerkschafter vergessen seit Jahrzehnten, dass es diese angeblich „goldenen“ Jahre nur für männliche und deutsche Facharbeiter gab, nicht für Frauen, nicht für Migranten und für migrantische Frauen schon gar nicht. Besser und für uns zielführender wäre, den Streiks von 1973 als denjenigen zu gedenken, in denen in vielen Betrieben erstmals internationale und geschlechterübergreifende Solidarität geübt wurde. Diese gilt es nämlich wieder zum Leben zu erwecken.
Es gibt keine Arbeitsrechte, es sei denn für alle.
Es gibt keinen Sozialstaat, es sei denn für alle.
Es gibt keine Menschenrechte, es sei denn für alle.
Wenn wir das, wofür wir kämpfen, für alle wollen, hat der Faschismus keine Chance.

Mag Wompel ist Labournet-Redakteurin, Industriesoziologin und freie Journalistin.
Kontakt: www.labournet.de

Mehr zum Thema