GWR: Was ist euer Konzept?
Leandra Myrkra: Wir wollen mit der Veranstaltungsreihe „Die widerliche Vereinigung. Deutschland, Rechtsruck und antifaschistische Perspektiven“ den Jahrestag der deutschen Einheit kritisch begleiten, der dieses Jahr zentral in Hamburg gefeiert wird. Unter Polizeihubschraubern und abgeschirmt durch ein Millionen Euro teures Sicherheitskonzept wird Hamburg als ‚internationale Metropole des Fortschritts‘ gefeiert.
Was sind eure Kritikpunkte?
Wir finden: Die Realität sieht anders aus. Auch in Hamburg weht ein autoritärer Wind durch die Straßen, von denen Polizei und SPD aktuell verstärkt obdachlose und andere Menschen vertreibt, deren Anblick Spießbürger bei der Shoppingtour stören könnte. Während sich die Bundesrepublik am 3. Oktober als bunt, weltoffen und fortschrittlich feiert, arbeitet die Ampel-Regierung daran, die Mauern um Europa noch höher zu ziehen. Im Programm der Feierlichkeiten werden Kunstausstellungen zum Thema Abfallrecycling angekündigt und Innovationen für Klimaschutz gepriesen – während Klima-Proteste im medialen Diskurs als „Klima-Terror“ diffamiert werden und Deutschland mehr CO2 ausstößt als jemals zuvor. An Deutschland als „Land der Chancen“ und gesellschaftlichen Teilhabe, wie die Feier beworben wird, glaubt niemand mehr.
Wie seid ihr dagegen aktiv geworden?
Wir haben deshalb im September und Oktober neun inhaltliche Veranstaltungen organisiert, die einen anderen Blick auf den Einheitsprozess werfen. Für die Veranstaltung „Deutscher Feiertag – deutsche Gewaltnacht“ haben wir Übergriffe von Rechten recherchiert, die in der Nacht zum 3. Oktober 1990 in zig deutschen Städten losschlugen. In Hamburg waren es damals etwa 300 Nazis und Hooligans, die versucht haben, die besetzten Häuser in der Hafenstraße anzugreifen.
Der Titel der Reihe „Die widerliche Vereinigung“ stammt aus der damaligen Zeit: So hieß eine linke Veranstaltung am 2. Oktober 1990, die mittendrin abgebrochen werden musste, damit die Besucher:innen den Angegriffenen in der Hafenstraße zur Hilfe kommen konnten.
Worum ging es in den weiteren Veranstaltungen?
Vor allem im Osten diente der Mauerfall als Startschuss der sogenannten Baseballschlägerjahre: Die Neunziger waren dort geprägt von rechter Dominanz auf der Straße und tödlicher Gewalt. Wir haben Zeitzeug:innen eingeladen, um gemeinsam zu diskutieren: Was ist damals passiert? Was können wir daraus für heute lernen?
Mit 500 Menschen haben wir im Juni diskutiert, wie Klassenkämpfe, feministische Kämpfe und Kämpfe für Klima und LGTBQ-Rechte zusammengehören.
Wir freuen uns über die große Resonanz, die unsere bisherigen Veranstaltungen ausgelöst haben und über das bunt gemischte Publikum: Ältere, die schon um 1989 politisch aktiv waren und Jüngere, deren erste Demo Fridays for Future war. Gestartet haben wir die Reihe mit einem
Open-Air-Konzert unter dem Motto Viva la Antifa, für das wir den Musiker Danger Dan gewinnen konnten. Wir sind nach wie vor überwältigt von der Resonanz! Bis zu 10.000 Menschen haben sich auf dem Schulterblatt vor die Rote Flora gedrängt, den Redebeiträgen gelauscht und Soli-Shirts gekauft, die wir extra für den Tag produziert haben. Alle Einnahmen gehen an Antifa-Projekte, vor allem in der Provinz.
Mit der Veranstaltungsreihe schlagt ihr einen Bogen von 1989 bis heute?
Unser Interesse an den Jahren nach dem Mauerfall ist kein rein historisches: Vieles mag heute anders sein als in den frühen Neunzigern, doch gut ist nichts. Wer damals Steine auf Häuser von Asylsuchenden geworfen hat, muss sich heute diese Mühe nicht mehr machen – mit der AfD sitzt eine mittlerweile lupenrein faschistische Partei im Bundestag, die nächstes Jahr in mehreren Bundesländern stärkste Kraft werden könnte. Sollte sie an die Macht kommen, dann auf dem gleichen Weg, wie Rechtsradikale und Faschisten seit jeher an die Macht kommen: Hofiert durch Konservative und Liberale, die sich alle Mühe geben, sich als die bessere Alternative zur Alternative für Deutschland zu positionieren. Die zentrale Frage lautet also: Wie organisieren wir uns heute gegen den Rechtsruck? Wir sehen diesen Kampf als keinen der Abwehr – verteidigen wollen wir eben nicht ein buntes, weltoffenes Deutschland gegen die Nazis. Wir glauben viel eher, dass alles zusammenhängt; die Krise des Kapitalismus, der modernisierte Standortnationalismus und der Rechtsruck, der bis weit in die Mitte Positionen gespült hat, die man noch vor wenigen Jahren selbst in rechten Kreisen nur hinter vorgehaltener Hand gesagt hätte. Unsere Perspektive ist eine Gesellschaft ohne die Zwangsgesetze der Konkurrenz; eine Gesellschaft, in der alle bestimmen, was und wofür wir produzieren – und in der wir nicht für die Profite der Wenigen Raubbau an unseren Körpern und dem Planeten betreiben. Mit Adorno: Eine Gesellschaft, in der wir ohne Angst verschieden sein können.
Wer organisiert das Ganze?
Hinter der Veranstaltungsreihe steht ein loses Bündnis von Gruppen aus dem antiautoritären Spektrum der radikalen Linken. Wir sind in der Roten Flora aktiv und haben bewusst die Reihe hier stattfinden lassen: Als besetztes Kulturzentrum bietet die Flora Möglichkeiten, die in einer gentrifizierten Stadt immer stärker schwinden. Sie ist Ort für zig Veranstaltungen jeden Monat, für Konzerte und Solipartys – Raum für Politgruppen, Bündnisse, Vernetzung und einen Alltag, in dem wir experimentieren können, es anders zu machen und zu denken als es uns die organisierte Traurigkeit des Kapitalismus sonst erlaubt.