die waffen nieder

Nicht nur über Israel reden

Ein Interview mit Meron Mendel

| Interview: Bernd Drücke

Beitragisrael
Foto: Lothar Hill

Am 7. Oktober 2023 durchbrachen Hamas-Terroristen die Grenze von Gaza nach Israel und ermordeten auf grausamste Weise 1.400 israelische Frauen, Kinder und Männer. Mehr als 200 Zivilist:innen wurden von den Massenmördern als Geiseln nach Gaza verschleppt. Als Reaktion auf den islamistischen Terrorangriff begann die israelische Armee Ziele im Gazastreifen zu bombardieren. Den anhaltenden Bombardements sind bis zum 15. Oktober bereits etwa 2.300 Palästinenser:innen zum Opfer gefallen. Das folgende Interview mit dem 1976 in Israel geborenen Meron Mendel entstand vor dem 7. Oktober. Seit über 20 Jahren lebt Meron Mendel in Deutschland. Am 14. September 2023 stellte der israelisch-deutsche Pädagoge, Professor für Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank sein neues Buch „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“ (1) im Geschichtsort Villa ten Hompel (2) vor. In seinem Bestseller zeigt Mendel auf, wie das Verhältnis zu Israel und zum Nahostkonflikt in Deutschland diskutiert wird, in der Politik und in den Medien, unter Linken, unter Migrant:innen und unter Jüdinnen und Juden. Vor der Lesung bot sich die Gelegenheit für ein Radio-Graswurzelrevolution-Interview (3), aus dem wir hier in einer überarbeiteten Version Auszüge abdrucken, als Teil des GWR-483-Schwerpunkts Israel/
Palästina. (GWR-Red.)

Graswurzelrevolution: Dein Buch „Über Israel reden“, das du im März 2023 veröffentlicht hast, landete im April auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste u.a. von Deutschlandfunk Kultur und ZDF. Es ist aus meiner Sicht eines der interessantesten Bücher des Jahres, obwohl ich auch Kritik habe. In einem vierstündigen Interview von „Jung & naiv“ (4) hast du erzählt, dass du in einem Kibbuz in der Negev Wüste egalitär aufgewachsen bist, ohne dass dann darauf vom Interviewer weiter eingegangen wurde. Mich interessiert das brennend, weil ich Redakteur einer gewaltfrei-anarchistischen Zeitschrift bin und die Kibbuz-Bewegung vor 120 Jahren aus einer freiheitlich-sozialistischen Bewegung heraus entstanden ist. Bis Anfang der 1930er-Jahre waren die Kibbuzim anarchistisch geprägt. Erst als die zionistisch-etatistische Strömung in der Kibbuzbewegung ab Ende der 1930er-Jahre die Oberhand gewann, wurde das anarchistische, freiheitlich-sozialistische Denken in den Kibbuzim zurückgedrängt. „Ganz erstarb es jedoch nie“, schreibt James Horrox in seinem Buch „Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung“ (5). Wie hast du deine Kindheit im Kibbuz erlebt? Wie bist du aufgewachsen? Wie viel vom anarchistischen, herrschaftsfrei-egalitären Geist steckte zu deiner Kibbuz-Zeit noch in den Kibbuzim? Und wie viel noch heute?

Meron Mendel: Zuallererst muss man zwischen der Zeit, als ich im Kibbuz aufgewachsen bin, also Ende der 1970er bis Ende der 80er Jahre, und der heutigen Zeit, unterscheiden. Die Kibbuzbewegung hat gerade in diesen letzten 30 Jahren einen großen Wandlungs-Prozess durchgemacht, einen Wandel von einer stark sozialistisch geprägten hin zu einem kapitalistischen, einem ein bisschen abgemilderten kapitalistischen Format. So ging es auch meinem Kibbuz. Ich sage „mein Kibbuz“, obwohl ich dort nicht mehr lebe, aber meine Eltern sind immer noch dort. Heutzutage sind viele von diesen Lebensformen, die wir damals erlebt haben, nicht mehr in der damaligen Form existent. Sie existieren aber immer noch.

Auch heutzutage werden im Kibbuz keine Gehälter in der Form gezahlt, wie wir das in der kapitalistischen Marktwirtschaft kennen, sondern irgendwie verteilt. Es ist in dieser Hinsicht immer noch egalitär. Also, der Fabrikleiter und der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin am Fließband bekommen genau das gleiche Gehalt. Ob das auch noch in fünf oder sechs Jahren Bestand haben wird, das würde ich mit einem großen Fragezeichen versehen. Soweit zur heutigen Situation.
Zur damaligen Situation: In meiner Kibbuz-Zeit war es tatsächlich sehr stark egalitär reglementiert. Ich tue mich ja ein bisschen schwer mit dem Anarchismus, weil es immer so die Frage ist, wie man Anarchismus definiert. Also, es war keine „Anarchie im Kibbuz“, wie man so in der Umgangssprache sagen würde. Es war aber insofern anarchistisch, dass die Menschen im Kibbuz alle gleichwertig waren. Da wurde sehr viel in der Kibbuz-Versammlung entschieden und an der Kibbuz-Versammlung nahmen alle Kibbuz-Mitglieder teil. Nicht wir als Kinder, sondern unsere Eltern, also alle ab 18 Jahren beziehungsweise eher ab 21 Jahren. Nach dem Militärdienst konnte man sich als Kibbuz-Mitglied bewerben und aufgenommen werden. Dann hat man eine gleiche, gleichwertige Stimmberechtigung wie jemand, der vielleicht das Kibbuz mitgegründet hat.
Und so versammelten sich alle Kibbuz-Mitglieder am Samstagabend im Speisesaal. Da  ging es um schwerwiegende Entscheidungen, zum Beispiel: „Wollen wir eine neue Fabrik aufbauen?“ oder „Sollen wir das Geld eher für Bildung oder für Konsum ausgegeben?“. Das waren große Entscheidungen. Dann wurden auch viele kleine Entscheidungen gemeinsam getroffen. Wenn ein Kibbuz-Mitglied studieren will, zum Beispiel Philosophie, dann wird abgestimmt, ob das sinnvoll ist oder ob er oder sie vielleicht lieber Landwirtschaft studieren soll, weil das eher dem Bedarf des Kibbuz entspricht. Genau über solche Sachen wurde entschieden.
Über das hinaus war die Kibbuz-Erziehung das, was mich betroffen hat. Die klassische Familie wurde praktisch in gewisser Weise abgeschafft. Jeder wusste natürlich, wer Mama und Papa sind, wer die Geschwister sind, man hat sich auch jeden Tag getroffen. Das war aber für eine relativ kurze Zeit, also von 16 Uhr bis 19:30 Uhr. Die restliche Zeit hat man mit den Gleichaltrigen in der Peergroup verbracht. Das begann sehr früh. Die Babys haben in den Kinder- oder den Babyhäusern geschlafen, die Mütter sind zu bestimmten Zeiten gekommen, um zum Beispiel zu Stillen. Das war der Alltag. Die Peer-Gruppe, also die Gleichaltrigen, hatten sogar eine fast schon größere Bedeutung als die Eltern oder die Geschwister.
Vielleicht noch der letzte Aspekt: Die Arbeit war immer ein wichtiger Teil unseres Alltags. Da hatte die körperliche Arbeit einen sehr hohen Stellenwert. Man wurde weniger nach geistigen, intellektuellen Fähigkeiten betrachtet. Wenn man jemanden loben wollte, dann sagte man: „Ja, er ist ein fleißiger Arbeiter“. Wenn man jemanden schlecht machen wollte, sagte man, er sei ein Faulenzer. Das war das Schlimmste überhaupt. Wir sind von klein auf in diese Arbeitswelt integriert worden. Heute würde man das als Kinderarbeit bezeichnen, aber es war damals überhaupt nicht negativ konnotiert. Man begann ganz früh, also schon in der ersten, zweiten Klasse in einer Art Kinderzoo. Sehr schnell wurde man dann integriert in den normalen Arbeitsbereich im Kibbuz. Am Anfang hat man nach der Schule nur zwei bis vier Stunden gearbeitet. Später hatten wir fünf Tage Schule und einen Arbeitstag, an dem wir ganz normal mit den Erwachsenen auf dem Feld gearbeitet haben, auf der Plantage, mit den Hühnern im Hühnerstall oder mit den Kühen, also, Arbeit war ein ganz wichtiger Aspekt.

GWR: Die aktuelle Situation in Israel ist krass. Auf der einen Seite gibt es eine starke außerparlamentarische soziale Massenbewegung, die mit bis zu 150.000 Menschen gegen die autokratischen Pläne der extrem rechten Netanjahu-Regierung demonstriert. Auf der anderen Seite versucht die Regierung durch die Abschaffung der Gewaltenteilung die Demokratie in Israel de facto abzuschaffen und eine Autokratie zu etablieren. Wie siehst du die momentane Situation? Die israelische Zivilgesellschaft stemmt sich gegen die anti-demokratischen Pläne der Regierung. Wie siehst du die Möglichkeiten, die sozialen Bewegungen einerseits in Israel und auch hier zu unterstützen? Welche Perspektiven siehst du?

Meron Mendel: Das sind viele Fragen. Erstmal zu dieser Situation vor Ort. Das ist tatsächlich die unbestritten am weitesten rechts stehende Regierung, die es je in der Geschichte Israels gab. In Israel sind seit 1977 tendenziell eher rechte, wenn wir wohlwollend sind, konservative Regierungen an der Macht, die schon Prozesse angefangen haben, die uns jetzt in ihrer gesamten Hässlichkeit vorgeführt werden. Das hat nicht Ende Dezember letzten Jahres angefangen. Es sind viele Prozesse, die schon lange andauern: Radikalisierung vor allem auch von Religiösen, sowohl der ultraorthodoxen Juden als auch bei den sogenannten National-Religiösen, was häufig als Siedler-Bewegung bezeichnet wird. Diese Bevölkerungsgruppen, die tendenziell immer größer werden, aus dem einfachen Grund, weil sie einfach sehr viele Kinder haben. Wir reden von knapp acht Kindern pro Familie, nicht erst seit gestern, sondern seit der Gründung des Staates 1948. Diese Bevölkerungsgruppen sind immer mehr nach rechts abgerückt. Jetzt stehen sie ganz weit rechts im politischen Spektrum. Gerade auch die Siedlungsbewegungen, die seit den 1980er und 90er Jahren immer größer wurden, drängen auch in verschiedene Machtzentren in Israel vor, im Militär, in der Verwaltung, in der Politik. Die Früchte dieser Entwicklung sind jetzt deutlich zu sehen. Wenn man sich die erste Regierung Israels unter David Ben-Gurion anguckt, da gab es im gesamten Kabinett zwei Minister, die die Kippa getragen haben, also gemäßigte Religiöse waren. Das war eine ganz andere Art Religiosität als heute. Heutzutage sind dreiviertel der Mitglieder im Netanjahu-Kabinett Orthodoxe oder Ultraorthodoxe. Wenn man sich die einzelnen Kabinettsminister anschaut, muss man feststellen, dass für sie Demokratie nicht unbedingt zu ihrem Wertekanon zählt, milde ausgedrückt.

GWR: Wie geht man damit um?

Meron Mendel: Das ist immer so die Frage, wie man zu Israel steht. Also, ich meine, man kann auch gleichgültig sein, das gehört zu unserer Realität. Ich bedauere sehr, was im Südsudan passiert oder in Berg-Karabach oder in vielen Teilen des Globus. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich aber so gut wie nichts tue, um den Menschen dort zu helfen. Von daher gibt es keinen Imperativ, dass man Israel unterstützen oder der Demokratie-Bewegung in Israel Vorschub leisten muss. Aber weil gerade in Deutschland diese Freundschaft zu Israel immer hoch gehalten wird, besonders seit 2008, seitdem Merkel vor der Knesset gesprochen und gesagt hat, dass Israels Sicherheit deutsche Staatsräson sei, kann man diese Begriffe auch kritisch betrachten. Das tue ich auch sehr ausführlich im Buch. Aber wenn man das ernst nehmen will, dann muss man auch gestehen, dass Israel sich heutzutage in einer existenziellen Krise befindet, dass die Existenz auf der Kippe steht.
Natürlich hat Israel immer noch eine sehr starke Armee und kann Feinde von außen gut abwehren, aber das ganze System, zumindest das demokratische System in Israel war vermutlich nie eine reine liberale Demokratie. Die liberalen Teile in dieser Demokratie drohen aber jetzt komplett zu verschwinden. Für diejenigen, die sich als Freunde Israels definieren, gilt es dann an allererster Stelle, auch für unsere Politikerinnen und Politiker, die Beziehung und Positionen neu zu denken: Wie kann man zu einer solchen Art Israel ein Verhältnis auf- oder ausbauen? Wie es ist, wenn es eine Art von „weiter so“ gibt, haben wir im März dieses Jahres gesehen. Einer der ersten Staatsmänner, die Benjamin Netanjahu zu einem Staatsbesuch eingeladen haben, war unser Bundeskanzler Olaf Scholz. Das war eine Entscheidung, die nicht nur ich, sondern auch tausende israelische Intellektuelle, unter anderem der Schriftsteller David Grossmann, aufs Schärfste kritisiert haben. Insofern hat sich Scholz aus dem Fenster gelehnt pro Netanjahu, während beispielsweise der US-amerikanische Präsident Joe Biden ganz klar und deutlich gesagt hat, dass er Netanjahu nicht nach Washington einlädt, solange seine Pläne zur Entmachtung der Justiz nicht zurückgenommen werden. Meine Interpretation daraus ist, dass gerade diese Denkmuster, dass wir auf der Seite Israels stehen müssen, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist und so weiter und so fort, dafür sorgen, dass unsere Politikerinnen und Politiker glauben, dass sie gezwungen werden, immer auf der Seite der israelischen Politik zu stehen. Aber wenn auf der Seite der israelischen Regierungspolitik zu stehen bedeutet, der demokratischen Gesellschaft in Israel in den Rücken zu fallen, dann ist das eine verheerende Politik.

GWR: Die Zeitschrift Graswurzelrevolution ist seit 50 Jahren assoziiertes Mitglied der War Resisters’ International (WRI), also der Internationale der Kriegsgegner:innen, die aus 90 Organisationen in 40 Ländern besteht (6). In Israel sind wir vernetzt mit der antimilitaristischen Bewegung New Profile, und wir haben Anarchist:innen wie den „Anarchists Against the Wall“ unterstützt. Wir gucken, wo gibt es antimilitaristische, emanzipatorische und anarchistische Gruppen, die wir unterstützen können. In Israel gab es lange Zeit eine relativ große Graswurzelbewegung. Wir haben gute Kontakte gehabt mit Kriegsdienst-verweigerer:innen in Israel. Sogar ein Neffe von Netanjahu hat den Kriegsdienst verweigert und ist dafür ins Gefängnis gekommen. Wir haben damals für ihn mit anderen WRI-Gruppen eine Soli-Kampagne gemacht. Es gibt soziale Bewegungen und eine starke Zivilgesellschaft in Israel. Wenn dort 150.000 Menschen auf der Straße demonstrieren, dann ist das so, gemessen an der Einwohner:innenzahl, als wenn hier 1,5 Millionen auf die Straße gehen. Welche emanzipatorischen Gruppen würdest du unterstützen?

Meron Mendel: An erster Stelle würde ich sagen, es ist sinnvoll, gerade die Gruppen zu unterstützen, die die Verbindung herstellen nicht nur zur Demokratie und den liberalen Rechten innerhalb des israelischen Kernlands. Unterstützenswert sind diejenigen, die zudem darauf aufmerksam machen, dass die mehr als 55 Jahre andauernde Besatzung der West Bank und das Verhältnis zu Gaza dazu beitragen, dass Israel so weit nach unten gekommen ist. Diese Linke ist auch in dieser großen und beeindruckenden Protestbewegung noch relativ klein. Ich glaube, dass da gerade einiges in Bewegung ist. In vielen Gesprächen, die ich im Land führe, merke ich, dass da ein gewisser Perspektivwechsel langsam ansetzt.

Wenn auf der Seite der israelischen Regierungspolitik zu stehen bedeutet, der demokratischen Gesellschaft in Israel in den Rücken zu fallen, dann ist das eine verheerende Politik.

Man sieht auch in den Demonstrationen immer mehr Gruppen, die auf die Besatzung hinweisen. Wir haben von hier und zusammen mit Wissenschaftler:innen aus den USA ein Schreiben verfasst mit dem Titel „The Elefant in the room“, in dem wir gesagt haben, der Elefant im Raum ist die Besatzung, also kann man nicht über den Zerfall der israelischen Demokratie reden, ohne gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass er Hand in Hand geht mit der Besatzung. Wenn man in den Protesten den Slogan „Die Besatzung besetzt uns“ sieht, dann meinen diejenigen, die das sagen, die Tatsache, dass viele junge Israelis in die Rolle versetzt werden, andere Menschen zu besetzen. Das sind viele subtile oder nicht subtile Formen der Gewalt und Unterdrückung. Auf der anderen Seite sehen wir auch, dass diese Siedlerbewegung immer hungriger wird. Man könnte denken, okay, sie sind auf der anderen Seite der grünen Linie, also in den palästinensischen Gebieten, die haben dort alle Privilegien, die kriegen viel Geld und die werden sozusagen das Kernland Israel in Ruhe lassen. Das ist mitnichten so, denn sie wollen alles vernichten, was sie daran hindert, eine Apartheid dort umzusetzen. An allererster Stelle ist das Oberste Gericht aus der Sicht der Siedler ein Hindernis, weiteres palästinensisches Land zu rauben, weitere Siedlungen noch weiter auszubauen. Der Hunger der Siedler kennt keine Grenzen. Deshalb sind sie die Speerspitze derjenigen, die die israelische Demokratie aushöhlen und die Justiz abbauen wollen. Ich denke, dass man genau schauen muss, welche Ziele sich gesellschaftliche Organisationen auf die Fahne geschrieben haben, gleichermaßen die Rettung der israelischen Demokratie und die Forderung nach einem Ende der Besatzung.

GWR: Kennst du in diesem Zusammenhang Gruppen, die du uns empfehlen kannst?

Meron Mendel: Also gut, ich kenne eine Menge, aber wenn ich jetzt fünf nenne, dann werde ich zehn nicht benennen. Das wäre gemein. Ich komme aus der Pädagogik. Dort schlägt mein Herz und vielleicht sage ich, wo ich etwas unterstütze. Ich unterstütze mit Spenden eine Schule nicht weit von meinem Geburtsort, wo gleichermaßen palästinensische und jüdische Kinder lernen. In jeder Schulklasse gibt es immer eine Arabisch sprechende und eine Hebräisch sprechende Lehrkraft. Ich kenne und begleite diese Schule seit einigen Jahren. Die Schulleiterin ist eine bewundernswerte Frau. Man kann sagen, das ist kein politisch brisantes Projekt, aber das fängt wirklich bei den Grundschulkindern an. Das ist vielleicht auch für die Geschichte, die ich mir erzähle. Wenn ich durch die Schule laufe und ich sehe die Erstklässler, die gerade sechs sind, dann denke ich, wie sie in zwölf Jahren als 18-Jährige sind. Der eine ist dann vielleicht Soldat und der andere steht auf der anderen Seite, dann werden sie vielleicht anders handeln. Deshalb ist mein Herz, wo dieses Projekt ist.

GWR: Das hört sich gut an. Du lebst seit 2001 in Deutschland, hast in München und Frankfurt studiert, bist jetzt Professor und Leiter der Bildungsstätte Anne Frank. Im Buch „Über Israel reden“ analysierst du treffend die Politik der AfD, auch ihr Verständnis von Antisemitismus. Kannst du das kurz skizzieren? Wie siehst du die Politik der AfD?

Meron Mendel: Die AfD geriert sich als die treueste und beste Freundin Israels, als die Partei, die auf der Seite Israels steht. Die wenigsten wissen wahrscheinlich, dass beispielsweise der erste Entwurf zum Bundestagsbeschluss für die Ächtung der BDS (7) von der AfD kam. Die AfD hat einen Entwurf gemacht und der wurde abgelehnt. Aber dann sahen sich die anderen Parteien in der Pflicht, etwas zu verfassen und so ist 2019 die Bundestagsresolution, mit der der Bundestag die BDS-Boykottaufrufe gegen Israel verurteilt und Aktivitäten von BDS-Gruppen verhindern will, verabschiedet worden. Im Buch kann man nachlesen, warum ich diese Resolution sehr kritisch betrachte. Es ist interessant, dass die AfD sich einerseits angeblich total auf die Seite von Israel schlägt und auch aus welchem Grund. Also, zum einen klar, das funktioniert, unter dem Motto mit Juden gegen Muslime. Die AfD bekämpft Antisemitismus, natürlich nicht den rechtsextremistischen Antisemitismus, der am meisten verbreitet ist unter den Wähler:nnen der AfD, sondern der Antisemitismus ist immer nur bei den anderen zu finden, nämlich bei den Muslimen, bei den Arabern. Das ist eine Schiene und das ist auch die Grundlage dafür, dass immer mehr Kooperationen entstehen zwischen der AfD und den Rechten in Israel. Wenn man 2020 den Sohn von Netanjahu auf den Wahlplakaten der AfD gesehen hat, dann ist das kein Zufall. Er ist ein lauter AfD-Unterstützer in Israel. Man sagt in Israel, wenn man wissen will, was der Vater Netanjahu denkt, muss man einfach lesen, was sein Sohn sagt. Das ist der Fall. Netanjahu könnte es nicht laut sagen, aber er lässt seinen Sohn das tun. Vor einigen Monaten ist ein Buch von Eldad Beck erschienen, das ist der Korrespondent der Hauszeitung von Netanjahu in Berlin, ein Buch über die AfD, wo er dafür plädiert, dass die israelische Politik, die israelische Rechte, sich Richtung AfD bewegen soll. Das ist sein Vorschlag und er sagt, das sind unsere wahren Freunde. Seine Hauptaussagen bestehen darin: „Wir schauen nicht genau hin, wie ihr die Geschichte seht und was ihr über den Nationalsozialismus denkt – und ihr unterstützt uns, wenn wir gegen die Araber sind.“

GWR: Im Buch „Über Israel reden“ stellst du die Frage: „Wird es jemals möglich sein, hier in Deutschland eine sachliche Debatte über Israel zu führen?“ Wird es?

Meron Mendel: Ich habe mir die Mühe gemacht, das Buch so zu schreiben und darüber auch mit vielen Leuten zu sprechen, weil ich denke, es gibt auf jeden Fall eine Möglichkeit, vernünftig über Israel zu sprechen. Wo ich vor allem das Problem sehe, ist in der bundesdeutschen Politik. Seit Merkel die Eckpfeiler gesetzt hat, traut sich kaum jemand in der Bundespolitik, das zu hinterfragen. Was würde das bedeuten angesichts der Änderungen in Israel? Deswegen bin ich auch oft mit Politikerinnen und Politikern im Gespräch und versuche da, Leuten mehr Mut zuzusprechen. Es ist verheerend: Wenn die Türen zu sind und es keine Aufnahmegeräte gibt, hört man ganz andere Sachen, als wenn sie dann in der Öffentlichkeit reden. Man kann sagen, dass das vielleicht bei vielen Themen so ist, aber ich denke in Bezug auf Israel hat das verheerende Folgen.

GWR: Im Buch nimmst du auch zwei linke Strömungen unter die Lupe, die Antideutschen und die Anti-Imps. Was aus meiner Sicht zu kurz kommt, sind die Anarchist:innen. Gewaltfreie 
Anarchist:innen haben ja ganz andere Positionen als die 
Anti-Imps oder die Antideutschen. Das heißt, wir bekämpfen jeden Nationalismus, unterstützen keine Staaten, sondern vor allem gewaltfrei-anarchistische und antimilitaristische Gruppen aus den sozialen Bewegungen weltweit. Wir sitzen sozusagen zwischen allen Stühlen. Das fehlt mir in deinem Buch. Ansonsten finde ich deine Analyse auch gerade der antideutschen und antiimperialistischen Gruppen treffend. Du hast das gut und humorvoll zusammengefasst. Dein Buch habe ich mit großem Gewinn gelesen und möchte die Lektüre auch den GWR-Leser:innen ans Herz legen.
Herzlichen Dank für das Gespräch und die Musik, die du für die Radio Graswurzelrevolution-Sendung ausgesucht hast.

Meron Mendel: Ich habe zu danken. Vielen Dank.

(1) Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023
(2) https://villatenhompel.com/2023/09/07/uber-israel-reden/
(3) Radio Graswurzelrevolution ist die Bürgerfunksendung der GWR. Die 55-minütige Radio Graswurzelrevolution-Sendung mit Meron Mendel wird im November 2023 u.a. im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz.) ausgestrahlt und ist danach auch online zu hören auf:
https://www.nrwision.de/mediathek/
sendungen/radio-graswurzelrevolution/
Videomitschnitt von MünsterTube: https://www.youtube.com/watch?v=08l6UXvs000
(4) Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=Z6ndeiNDzUE
(5) James Horrox: Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2022
(6) Siehe: https://wri-irg.org/en/network/affiliates
(7) BDS ist eine transnationale politische Kampagne, die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will. BDS steht für Boycott, Divestment and Sanctions („Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“). Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Boycott,_Divestment_and_Sanctions

Meron Mendel: „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“, kiwi, Köln 2023, 224 Seiten, 22 Euro, ISBN 9783462003512

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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