Voraussichtlich im Frühjahr 2024 erscheint in der edition assemblage das Buch „Postanarchismus, Glossen mit Fußnoten“ von Oskar Lubin. Als Vorabdruck veröffentlichen wir hier einen Auszug aus dem Geleitwort von Bernd Drücke. (GWR-Red.)
Wie bitte? Ich soll ein Vorwort für ein „postanarchistisches Buch“ schreiben? Gerne. Obwohl, ein „Nach-Wort“ wäre für ein „Post-Anarchismus“-Buch sicher passender.
Als mich mein alter Freund und Genosse Oskar Lubin bat, in meiner Funktion als Redakteur der Graswurzelrevolution (GWR) ein Vorwort zu seinem Buch „Stichworte zum Postanarchismus“ zu schreiben, habe ich sofort zugesagt. Oskar Lubins Glossen leben als knackige Kommentare zu aktuellen Ereignissen, Proble-men und Theorien nicht zuletzt von feinem Spott, von Selbstironie, Polemik und Witz. Sie alle sind bereits in loser Folge zwischen 2018 und 2023 in der Graswurzelrevolution erschienen. Als GWR-Redakteur hatte ich sie also schon gelesen und in Rücksprache mit Oskar und den GWR-Herausgeber:innen redigiert und lektoriert. Ich könnte hier also einiges zu den Inhalten der durch die Bank lesenswerten Einzelbeiträge sagen.
Stattdessen möchte ich dieses Geleitwort nutzen, um meine eigenen Vorurteile in Bezug auf den oft als „verkopft“ und „zu akademisch“ geschmähten Postanarchismus ein bisschen zu reflektieren. Vielleicht erkläre ich auch, warum ich mich nicht als Postanarchist verstehe, sondern immer noch als Anarchist.
Wie bin ich überhaupt mit dem Anarchismus und später mit dem Postanarchismus in Berührung gekommen?
Als langhaariger Schüler, Öko- und Friedensaktivist bin ich in den frühen 1980ern auf das Büchlein „Was ist eigentlich Anarchie?“ gestoßen. Es löste in meinem Kopf eine Art Initialzündung aus. Vorher wurde ich schon durch Bücher wie beispielsweise Ernst Friedrichs „Krieg dem Kriege“ und anarchistische Rockbands wie Cochise und Ton Steine Scherben anarchistisch-subkulturell geprägt, aber die Selbsterkenntnis – „Ich bin Anarchist“ – kam mit der Lektüre des vor allem von Horst Stowasser verantworteten schwarzen Einführungswerks aus dem legendären West-Berliner Karin Kramer Verlag. Seitdem versuche ich als Agitator, Lebenspartner, Vater und neuerdings Opa, Leseratte und Aktivist in den Neuen Sozialen Bewegungen mein Leben soweit wie möglich in den Dienst der Gegenseitigen Hilfe und freien Assoziation, für die Utopie einer gewaltfreien, herrschaftslosen, freiheitlich-sozialistischen, egalitären Gesellschaft zu stellen. Soweit das eben möglich ist unter den miesen Bedingungen des real existierenden, noch immer dringend zu überwindenden Kapitalismus. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, wie Adorno richtig feststellte, aber es gibt ein Leben, ein Leben für die Anarchie. Es lohnt sich zu streiten für die anarchistische Utopie, also für ein selbstbestimmtes, solidarisches Leben ohne Chef und Staat in einer grenzenlosen Welt.
Als Anarchist:innen wollen wir mit Hilfe direkter gewaltfreier Aktionen alle Kriege, das Artensterben und die Klimakatastrophe stoppen und jegliche Form von Nationalismus, Faschismus, Rassismus und Sexismus zurückdrängen: „System change, not climate change!“ Ziel aller Anarchist:innen ist ein menschenwürdiges und glückliches Leben für alle. Oder, so formulierte es Genosse David Graeber im Jahr 2013: „Im Grunde geht es im Anarchismus schlichtweg darum, wahrhaft demokratische Prinzipien im Alltag zu verwirklichen – jedoch mit dem bezeichnenden Unterschied, dass Anarchist:innen an eine Gesellschaft glauben, in der sich alles nach diesen Grundsätzen organisieren lässt und in der alle Gruppen auf dem freiwilligen Einverständnis ihrer Mitglieder gründen.“
Als jugendlicher Aktivist in der Schülervertretung am Geschwister-Scholl-Gymnasium im westfälischen Unna gründete ich 1984 mit Freundinnen und Freunden die ziemlich platt verbalradikale Schülerzeitung „Splash“, die immerhin so viel Aufsehen erregte, dass empörte, konservative Eltern ihren Kindern die Lektüre dieses „linksextremen Schmierblattes“ mit Nachdruck untersagten.
Die Gründung und Produktion kleiner anarchistischer Publikationen war dann während meines Studiums ab 1986 in Münster eine Leidenschaft, der ich unaufhörlich folgte. Bis heute habe ich ungefähr 300 anarchistische Zeitschriften (mit-)herausgegeben und es ist immer wieder ein tolles Gefühl, wenn mit jeder neuen Ausgabe auch ein Stück Gegenöffentlichkeit das Licht der Welt erblicken kann. Dem „Printmediensterben“ zum Trotz!
Meine Dissertation beschäftigte sich mit „Anarchismus und libertäre(r) Presse in Ost- und Westdeutschland“ und wurde im Oktober 1998 in den Libertären Buchseiten der Graswurzelrevolution Nr. 232 als „Meilenstein der Anarchismusforschung“ rezensiert. So war es wenig überraschend und für mich bis heute ein unglaubliches Glück, dass ich nach dem Ende meines Soziologie-, Pädagogik- und Politikstudiums im November 1998 von den GWR-Mitheraus-geber:innen zum GWR-Koordinationsredakteur gewählt wurde. Die Geschichte dieser seit 1972 erscheinenden Monatszeitschrift für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft hatte ich zuvor für meine Dissertation erforscht und alle Ausgaben gelesen. Nun verwandelte ich mich vom langjährigen Abonnenten und Fan zum Redakteur, seit Februar 1999 im kleinen GWR-Redaktionsbüro in Münster. „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“, sagt Albert Camus. Allerdings!
Als GWR-Koordinationsredakteur flatterte mir im Jahr 2000 auch der erste Artikel zum Thema „Postanarchismus“ in den Briefkasten. Ein Manuskript von Jürgen Mümken, dessen Abdruck ich, nach Rücksprache mit dem GWR-Heraus-geber:innenkreis, ablehnte, weil ich den vom Englischen „post-anarchism“ abgeleiteten Begriff „Postanarchismus“ als problematisch empfunden hatte.
Die Vorsilbe „Post“ im „Postanarchismus“ interpretierte ich als Distanzierung vom Anarchismus, als gehöre der Anarchismus der Vergangenheit an. Beim Begriff „Post-Anarchismus“ hatte ich sofort die Assoziation „Nach-Anarchismus“. Und das empfand ich geradezu als empörend, als gebe es heute keine anarchistische Bewegung mehr, als gehöre der Anarchismus auf den Misthaufen der Geschichte. Leute, die sich als „Postanarchist:innen“ bezeichneten, erweckten bei mir den Eindruck, als wollten sie sich vom Anarchismus, dieser lebendigen, vielfältig bunten und sozialrevolutionären globalen Bewegung, distanzieren. Und vielleicht auch von ihrer eigenen Vergangenheit als Anarchist:innen. „Postanarchismus“ als Abgrenzung zum Anarchismus? So war das doch gar nicht gemeint, oder? Aber für mich fühlte es sich so an.
Natürlich konnte mein rückblickend ziemlich peinlicher „Zensurversuch“ die Diskussion um den „Postanarchismus“ und die Einführung des Begriffs im deutschsprachigen Raum nicht aufhalten. Im Gegenteil. Besonders in der GWR wurde die Diskussion kontrovers und intensiv geführt. So verteidigte der Postanarchist Oskar Lubin den „Postanarchismus“ in der Graswurzelrevolution Nr. 258 vom April 2001: „Der klassische Anarchismus ist nicht passé, bedarf aber angesichts theoretischer Entwicklungen und veränderter Verhältnisse einiger Revisionen.“ Okay, damit lässt sich auch als Anarchist gut leben.
Ich finde ebenfalls, dass es die eigene anarchistische Theoriebildung bereichern kann, sich mit den Texten beispielsweise der „Postfeministin“ Judith Butler und den Theorien von „Poststrukturalisten“ wie Michel Foucault und Gilles Deleuze zu beschäftigen, auch wenn sie sich allesamt nicht als Anarchist:innen verstanden beziehungsweise verstehen. Trotzdem sorgte ich bei einigen Postanarchist:innen für Verärgerung, als ich mich in einem 2007 in der Wochenzeitung Jungle World veröffentlichten Interview ironisch zum „Telekom-Anarchismus“ äußerte: „Der moderne Anarchismus von heute ist natürlich nicht mehr der von Michail Bakunin. Ich halte den Begriff ‚Postanarchismus‘ für problematisch. Das erste, woran man bei diesem Begriff denkt, sind vielleicht Anarchisten, die sich bei der Telekom organisiert haben. Gemeint ist aber der Anarchismus in der Postmoderne.“
Tatsächlich finde ich es wünschenswert, wenn sich mehr Anarchist:innen auch bei Post und Telekom anarchosyndikalistisch organisieren und dann als „Telekom- und Post-Anarchist:innen“ mit Streiks und Arbeitskämpfen dafür sorgen, dass dort die Post abgeht. Schluss mit lustig. (…)
Postanarchismus? – Darüber lässt sich reden. – Auf jeden Fall aber: Anarchie und Glück!
Oskar Lubin: Postanarchismus, Glossen mit Fußnoten, ca. 176 Seiten, ca. 16,80 Euro, ISBN 978-3-96042-112-2. Erscheint ca. März 2024