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Ein passender Film zum militaristischen Zeitgeist

„Oppenheimer“ – der Mann, der den Menschen die Macht gegeben hat, sich selbst zu zerstören

| Wolfgang Haug

Der „Oppenheimer“-Film von Christopher Nolan kam in Deutschland am 20. Juli 2023 in die Kinos. In den USA wurde er zusammen mit „Barbie“ als Doppelfeature am 21. Juli zugänglich und von der Kritik gefeiert. Er spielte bereits 945 Millionen Dollar ein und wurde 2023 bislang zum drittgrößten Filmerfolg und – passend zum sich immer mehr ausbreitenden militaristischen Zeitgeist – zum größten Filmerfolg für einen Weltkriegsfilm bisher.

Im Mittelpunkt steht die Biografie J. Robert Oppenheimers (1904–1967) und das Wettrennen der USA mit den Nazis um den Bau der Atombombe. Angelehnt an die Biografie Martin J. Sherwins, der dafür 2005 den Pulitzer-Preis erhielt, wurde die Geschichte an Originalschauplätzen in Los Alamos, New Mexico und der Princeton University gedreht. Cillian Murphy spielt Oppenheimer, den Leiter des geheimen Manhattan-Projects. An diesem militärischen Atomforschungsprojekt waren über drei Jahre hinweg 150.000 Mitarbeiter*innen beteiligt und es endete so fatal mit der Atombombe 1945 und deren Einsatz in Hiroshima und Nagasaki. Der Physiker Oppenheimer und General Leslie R. Groves (gespielt von Matt Damon) suchten sich 1942 einen Ort, der „abgelegen und unbewohnt“ war, um das von US-Präsident Theodor D. Roosevelt protegierte und vom Kriegsministerium finanziell herausragend ausgestattete Manhattan Project durchzuführen. Los Alamos in New Mexico erfüllte für die Beiden diese Bedingungen für die Gebäude der Wissenschaftler. Auch für die etwas weiter entfernte, von Ihnen so benannte Trinity Test Site, in der die Bombe gezündet werden sollte, fanden sie in New Mexico einen „geeigneten“ Ort. Der Film gibt diese vorgebliche Abgelegenheit auch heute so wieder.
Und damit werden die damals offiziellen, aber grundverkehrten, Verlautbarungen bruchlos fortgeführt, denn als einziges bewohntes Hindernis für die Anlage, die entstand, taucht nur eine Ranch auf. Vielleicht muss der Regisseur an diesem Punkt sogar bis zu einem gewissen Punkt verstanden werden, denn die offizielle Sichtweise in den USA, die auch von Wikipedia kolportiert wird, erwähnt bis heute nur diese Ranch. Die Wirklichkeit sah anders aus. Die Menschen in New Mexico verloren ihr Land an die Atomforschungsbauten und viele unter den 150.000 Mitarbeiter*innen waren Ortsansässige, die für die Anlage arbeiteten und später Opfer des radioaktiven Fallouts des ersten Atomtests wurden.
Tina Cordova, eine Mitbegründerin des Tularosa Basin Downwinders Consortiums (1), sah den Film als „Überglorifizierung der Wissenschaft und der beteiligten Wissenschaftler“. Sie selbst war zum Zeitpunkt der Bombenexplosion vier Jahre alt und erkrankte mit 39 Jahren an Schilddrüsenkrebs. Ihr Vater Anastacio erkrankte an Prostata- und Zungenkrebs und starb mit 71 Jahren; ihre Mutter Rosalie bekam Tumore im Mund. Weitere Verwandte entwickelten Krebskrankheiten. Im Gegensatz zur Test Site in Nevada wurde in New Mexico über den ersten Test unter dem von Oppenheimer gewählten Codenamen „Trinity“ nie gesprochen. Erst die Gründung des Downwinders Consortiums durchbrach das Schweigen und benannte die Folgen.
Als Testgelände war das Tal Jornada del Muerto ausgewählt worden, ca. 35 Meilen (56 Kilometer) von der Stadt Socorro entfernt, nördlich der Stadt Thoreau. Die US-Regierung eignete sich 1942 das Land an, gepachtetes Land wurde aufgekündigt, Beweidungsrechte wurden außer Kraft gesetzt. Die Gegend lag im Socorro County und wurde nach dem Test in White Sands Proving Ground umbenannt. Obwohl bereits Richtlinien vorhanden waren, dass innerhalb von 50 Meilen niemand anwesend sein sollte, wurden die Bewohner*innen von Socorro und anderen Städten im weiteren Umkreis nicht evakuiert und nicht informiert.
Auf der Website melden sich Betroffene und berichten von Erkrankungen ihrer Eltern. Ein Post zeigt ein Foto vom 13. April 1946, auf dem ein großes Fest – „Play Day at White Sands“ – zu sehen ist, auf dem Testgelände neun Monate nach dem Trinity Test. Die Downwinders protestieren seit Jahren und erreichten, dass 2024 ein Zusatz zum National Defense Authorization Act (RECA) verabschiedet werden soll, mit dem den Opfern des Trinity Tests und Uranminenarbeiter*innen finanziell geholfen werden soll. Der Senat unterstützte das Vorhaben, aber bevor es auf Joe Bidens Agenda kommt, müsste es auch vom republikanisch kontrollierten Repräsentantenhaus gebilligt werden.
Tina Cordova kritisiert, dass im Film nicht darüber gesprochen wird, dass die New Mexicans und Navajos die dreckigsten Jobs erledigten: sie bauten die Straßen, Brücken und Gebäude und übernahmen während der Entwicklungsphase die gesundheitsschädlichsten Jobs in den Gebäuden. Zumindest im Abspann hätte erwartet werden können, dass auf die Situation der Betroffenen hingewiesen worden wäre. Cordova wurden Berichte bekannt, dass Menschen bei dem Trinity Test auf die Knie gefallen waren, weil sie dachten, das Ende der Welt sei gekommen oder dass z.B. eine Mutter ihre Kinder im Schlafzimmer um sich scharte und meinte, „wenn wir jetzt alle sterben müssen, dann sterben wir zusammen“.
Solche Posts der letzten Jahre zeigen, dass sich für einen aktuellen Film Fragen aufgedrängt hätten: „Was passierte nach dem Test mit der Umgebung, der Umwelt? Was waren die Folgen für die Menschen in New Mexico?“
Weder im Film noch im Nachspann wurde etwas davon thematisiert. Die Konzentration auf die Person Oppenheimer erlaubt dem Regisseur all die unangenehmen Seiten allein über dessen Gewissensbisse und seinem Ringen um die Zukunft seiner Entwicklung auf eine persönliche Ebene zu reduzieren und damit alle realen Fakten und Folgen auszublenden. Das beginnt im Film mit der „erfolgreichen“ Explosion am 16. Juli 1945 und der Reaktion Oppenheimers und der beteiligten Wissenschaftler. Kein Wort, kein Bild zu den tausenden Ortsansässigen, die innerhalb der 50 Meilen wohnten. Keine Erwähnung, dass der Fallout 46 US-Staaten erreichte und sogar von Kanada bis Mexiko registriert wurde.
In einem wichtigen Detail vergrößerte sich Oppenheimers persönliche Schuld für die Fallout-Folgen in New Mexico entscheidend. Das Gewinnen des Plutoniums war sehr kostenintensiv, so dass General Groves Angst bekam, dass eine fehlgeschlagene Explosion viel investiertes Geld vernichten würde und er sich kritischen Fragen stellen müsste. Ein Forscher des Laboratoriums, Norman Ramsey, untersuchte, wie die entstehenden Kettenreaktionen teilweise reduziert werden konnten und legte 1944 eine Lösung vor, die die Freisetzung von Plutonium bei der Explosion reduzieren und damit das Plutonium einsparen würde. U.a. die ins Exil vertriebenen Wissenschaftler Hans Bethe (2) und Victor Weisskopf (3) kalkulierten wie die Freisetzung des Plutoniums durch einen Stahlenmantel, „Jumbo“ genannt, begrenzt werden kann. Oppenheimer bestand jedoch darauf, dass die Bombe „in einer Form getestet werden muss, die dem letzten Einsatzzweck“ vergleichbar sein wird, um herauszufinden, wieviel Zerstörungskraft sich entwickeln würde.
Die Plutonium-Bombe „Gadget“ aus New Mexico lieferte das Design für „Fat Man“, die über Nagasaki detonierte und für „Little Boy“ über Hiroshima. Die Beobachter versammelten sich im Abstand von 20 Meilen (32 km) in Schutzräumen. Die Explosionswelle wurde über 100 Meilen gefühlt und die Explosion über 50 Meilen gehört, die Höhe des Atompilzes erreichte 12,1 Kilometer. Die Wissenschaftler führten anschließend glückselig Tänze auf. Von Oppenheimer wird berichtet, dass er sich bewegte wie der Westernheld aus dem Film „High Noon“ (12 Uhr mittags).
Die Zivilbevölkerung der weiteren Umgebung wurde mit Falschmeldungen in die Irre geführt. Gut vorbereitet durch General Groves veröffentlichten die Zeitungen, dass auf der Alamogordo Army Base ein Munitionslager mit Pyrotechnik explodiert sei. Dass aber niemand verletzt wurde. Die Explosion war sichtbar u.a. in El Paso, Gallup und Albuquerque, aus persönlichen Briefen wurde deutlich, dass sie bis zu 250 Meilen (400 Kilometer) weit sichtbar war. Bei der Explosion wurden drei Pfund Plutonium zerstört, zehn Pfund verblieben in der Atmosphäre und damit im Fallout. Die stärkste Verseuchung wurde an Rindern im Abstand von 30 Meilen (48 Kilometern) gemessen. Die fünf Counties (Landkreise) Guadalupe, Lincoln, San Miguel, Socorro und Torannce wurden am heftigsten kontaminiert. In dem 1990 verabschiedeten Radiation Exposure Compensation Act für die Nevada Test Site wurden diese Counties, deren Bewohner*innen nicht vorab informiert und evakuiert worden waren, nicht mitaufgenommen.
Die Daten aus dem Trinity Test ließen die Analyse zu, in welcher Höhe die Zündung erfolgen sollte, um den größten Wirkungsgrad zu erreichen. Für Hiroshima wurden 575 Meter, für Nagasaki 500 Meter festgelegt. Präsident Truman erfuhr von dem „erfolgreichen“ Trinity Test auf der Konferenz in Potsdam. Die Nazidiktatur, die das Rennen um die Entwicklung der US-Atombombe gegen die Entwicklung der deutschen Atombombe unter der Leitung von Werner Heisenberg, ganz wesentlich mitgeprägt hatte, war schon Geschichte. Oppenheimer glaubte jedoch, dass der Krieg in Asien durch den Einsatz der Atombombe verkürzt werden und amerikanische Menschenleben gerettet werden könnten. Präsident Truman gab den Einsatzbefehl.
Der Film beschäftigt sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Massenmord an der japanischen Zivilbevölkerung mit Oppenheimers Kehrtwendung, nun eine weitere Entwicklung von Atomwaffen zu stoppen. Jetzt prägte ihn seine Überzeugung, dass er eine Kettenreaktion ausgelöste habe, die dereinst die Welt zerstören würde. Da dies im sich entwickelnden „Kalten Krieg“ keine Resonanz fand, war es leicht für seine wissenschaftlichen Konkurrenten ihn auszugrenzen. Der Film konzentriert sich auf die Kontroversen über die Entwicklung der Wasserstoffbombe. Hinzu kamen in dieser Zeit die Überprüfungsprozesse zur politischen Zuverlässigkeit. Damit geriet Oppenheimer in den 1950er Jahren in die Defensive und Einflusslosigkeit. Filmreif geeignet und eigentlich klischeeverdächtig, aber historisch belegt, wurde dabei die ehemalige Mitgliedschaft seiner Frau Katherine Oppenheimer (geborene Puening), gespielt von Emily Blunt, in der kommunistischen Partei aufgegriffen. Hinzu kam seine intime Beziehung zu der aktiven Kommunistin Jean Tatlock, gespielt von Florence Pugh. US-Präsident Lyndon B. Johnson rehabilitierte ihn 1963. Auch an diesem Punkt hätte der Film noch ein letztes Mal die Chance gehabt von den Downwinders und deren Kampf um Wiedergutmachung zu erzählen.

(1) Als „Downwinder“ (downwind = windwärts) werden in den USA Menschen bezeichnet, die in Arizona, Nevada, New Mexico, Utah, Oregon, Washington und Idaho von radioaktiver Kontamination oder nuklearem Fallout betroffen sind.
(2) Hans Bethe (2.7.1906-6.3.2005), geb. in Strasbourg, 1932 Assistenzprofessur an der Universität Tübingen. Die Mutter Bethes war Jüdin, der Vater Protestant, Bethe selbst Atheist. Mit dem Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 wurde Bethe die Stelle entzogen. Er verließ 1933 Deutschland und wurde als Lehrkraft an der University Manchester in England angestellt. Ab 1935 lehrte er in den USA an der Cornell University in New York State. 1941 am MIT Radiation Labatory. 1967 Nobelpreis für Physik. In Los Alamos Leiter der theoretischen Abteilung, später wieder Professor an der Cornell University. Er beeinflusste die Präsidenten Kennedy und Nixon 1963 und 1972 die Verträge zu unterzeichnen, die zu dem Anti Balistc Missile Vertrag (SALT 1) führten.
(3) Victor Weisskopf (19.9.1908-22.4.2002), geb. in Wien, beide Eltern waren jüdischen Glaubens. 1931 Physiker an den Universitäten Göttingen und Kopenhagen. Er verließ Europa wegen des Antisemitismus frühzeitig 1930 und wurde Professor für Physik an der Rochester University. 1956 Max Planck Medaille. 1981 von Papst John Paul II zu US-Präsident Ronald Reagan gesandt, um ein Verbot von Nuklearwaffen einzufordern.