Ich schreibe diesen Artikel, weil ich kurz davor bin zum zweiten Mal „kaputtzugehen“.
Das erste Mal war in den 1990er Jahren. Ich hatte damals das Gefühl, dass fast täglich irgendwo in Deutschland ein Haus brennt und Menschen aus rassistischen Gründen ermordet werden. Ich „rannte“ von Antifa-Demo zu Antifa-Demo und zwischendurch machte ich beim Saalschutz für die lokale Antifa mit. Die Politiker:innen taten das, was Politiker:innen eben so tun. Jenseits jedes echten Mitgefühls oder gar wirksamer Aktivität gegen die Ursachen all dieser durch Nazis begangenen Morde, war ihre Hauptsorge „das Ansehen Deutschlands in der Welt“.
Ich rettete mich damals mit einer kleinen Flucht auf eine Insel. Wochenlang blickte ich auf das Meer und genoss, was die lokale Küche zu bieten hatte. Danach kam ich zurück und konnte „weiter machen“. Nicht so wie bisher, aber immerhin.
Das zweite Mal
Und jetzt befürchte ich ein zweites Mal „kaputtzugehen“. Ich verbinde das mit dem 07.10.2023 – obwohl es schon vorher anfing. Am Anfang stand eine Demo „Gegen die NATO“. Diese Demo aus dem stalinistischen Anti-Imp-Spektrum diverser roter Sekten (YS, MLPD, ROSA,….) wurde von der Plattform Ruhr nicht nur unterstützt, sondern im Rahmen eines offiziellen Bündnisses sogar mitgetragen. Die Plattform Ruhr ist Teil der anarchokommunistischen Föderation Die Plattform und nutzte für die Werbung in den „sozialen“ Medien (Instagram, X,…) das Logo der Föderation.
Es scheint gängige Praxis zu sein, dass die Ortsgruppen der Plattform bei Veranstaltungen, Bündnissen usw. uneingeschränkt das Föderationslogo benutzen. So wird jedes Mal vermittelt, dass die Föderation als solche ein bestimmtes Bündnis mitträgt, und nicht nur die jeweilige Ortsgruppe. Das scheint im Sinne einer „anarchistischen Einheitsorganisation“ gewollt zu sein.
Ich war erstaunt darüber, wie ignorant gegenüber der aktuellen Situation und der historischen Erfahrungen (das meint auch die Erfahrungen der letzten 25 Jahre) die Plattform Ruhr hier gehandelt hat. Ausgerechnet ein Bündnis mit Gruppen und Parteien, die nichts sehnlicher wünschen als die Macht im Staate zu erlangen, die Arbeiter:innen mit ihren Weisheiten und einer zentralistischen Staatsmacht zu beglücken. Gruppen und Parteien, die sich darüber hinaus immer wieder positiv auf nationale Befreiungskämpfe bezogen haben und beziehen. Gerade so als ob die Nation auch nur ansatzweise ein positiver Bezugspunkt sein könnte. Gruppen und Parteien, die darüber hinaus immer wieder durch ihren Antisemitismus aufgefallen sind. Ich erspare mir an dieser Stelle eine Auflistung von Beispielen. Ihr könnt für alles selbst, mit nur wenigen Klicks und den richtigen Stichwörtern, in der Suchmaschine Belege finden.
Und dann der 07.10.2023
Das Massaker der Hamas an „den Juden“. Anstatt dass es die sich selbst als „radikal“ definierende „Linke“ schafft, an diesem Tag klare Worte zu dem Angriff der islamistischen Hamas-Klerikalfaschisten, ihrem eliminatorischen Antisemitismus und ihrem Frauenhass zu finden, phantasieren sich zahlreiche dieser sogenannten „Linken“ in diesen brutalen Akt der Barbarei irgendeinen „gerechtfertigten Widerstand“ hinein. Leider ist auch die globale anarchistische Bewegung hier auf einem Tiefpunkt angelangt. Zu viele schaffen es nicht, den Angriff der Hamas einfach als das zu bezeichnen, was er ist. Stattdessen hört man oft auch aus der „anarchistischen Familie“ viel zu oft das rhetorische Muster des „What about …“ – Hier konkret „Was ist mit Israel?“ Im Sinne eines „Israel ist (selbst) Schuld“.
Es ist ja nicht so, dass ich von einer Position des „Ich habe es schon immer richtig gemacht“ argumentiere. So sicher ich mir sein kann, noch niemals Antisemit gewesen zu sein, so sicher weiß ich, dass ich in der Vergangenheit öfter als mir im Nachhinein lieb ist, antisemitische Figuren bedient habe. Auch jetzt bin ich sicher nicht frei davon. Trotzdem käme es mir nie in den Sinn, einen solchen Massenmord als irgendwie gerechtfertigten Akt irgendeines als positiv zu bewertenden Widerstandes zu sehen.
Was tun?
Nun, ich habe keine Antwort darauf. Dies ist ein Grund für meine Verzweiflung. Ich habe das Gefühl, vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Seit Jahrzehnten beobachte ich, wie sich die Gesellschaft nach rechts entwickelt, wie Nazis Themen besetzten, ohne dabei auf nennenswerten Widerstand zu treffen. Ich beobachte, wie die anarchistische Bewegung Bündnisse mit autoritäre und antisemitische Positionen vertretenden Staatsfetischist:innen eingeht. Seit einem viertel Jahrhundert beobachte ich, wie alter Wein in recycelten Schläuchen als der neueste Scheiß verkauft wird. Dabei habe ich noch nicht von Themen wie Frauenemanzipation, Klimakatastrophe und den vielen anderen Baustellen gesprochen. Überall sehe ich mehr Rück- als Fortschritte.
Im Moment reagiere ich auf zwei Arten. Zum einen ziehe ich mich immer stärker zurück, zum anderen versuche ich, Kontakt zu denjenigen zu halten, mit denen man zumindest noch ehrlich streiten kann. Bei einem „ehrlichen Streit“ geht es nicht darum „Recht zu haben“, sondern gemeinsam um „Wahrheit“ zu ringen. Dabei ist das „Ringen“ selbst das Ziel. Es ist nicht notwendig, dass sich am Ende auch „die eine Wahrheit“ einstellt. Das geht allerdings nur mit Menschen, mit denen man am Ende einige Prinzipien gemeinsam hat. Dabei sind nicht irgendwelche Verlautbarungen gemeint, sondern gelebte Prinzipien.
Ich denke, dass es heute noch viel notwendiger ist als vor 25 Jahren, ganz unten anzufangen. Es braucht ein paar Schritte „zurück“, bevor wir auch nur in Erwägung ziehen können, den Sprung zu wagen. Dieses „Zurück“ ist nicht einfach und sicher gibt es mehr als einen Weg. Es braucht wieder einen Begriff von „Anarchie“. Konkrete Vorstellungen davon wie wir gesellschaftliche Zustände der „Anarchie“ erreichen können und welche „Anarchien“ denkbar sind. Es braucht Prinzipien. Nicht im Sinne toter Dogmen, sondern als notwendige Schlussfolgerungen aus den historischen Erfahrungen. Es braucht eine neue „anarchistische Bewegungskultur“. Nicht im Sinne einer Kleidervorschrift, einer Musikrichtung, eines Ernährungsstils und dergleichen oberflächlichen Sachen. Nein, es braucht eine neue Kultur im Sinne eines sozialen Miteinanders. Eine Kultur, die in der Lage ist, die Einzigartigkeit der Person ebenso anzuerkennen wie die Tatsache, dass wir kollektive Lebewesen sind. Eine Kultur, die es schafft, dass wir uns gemeinsam entwickeln, anstatt von den voneinander isolierten Menschen Anpassung an strikte Regeln zu verlangen.
*… ohne mich wieder „reparieren“ zu können
Rudolf Mühland ist aktiv in der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter:innen Union (FAU).