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Utopia 2.0 – Wir werden weiter träumen

Ein Gespräch mit dem Musiker Konstantin Wecker

| Interview: Sevgi Kosan-Drücke, Bernd Drücke

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Bernd Drücke, Konstantin Wecker, Sevgi Kosan-Drücke beim Interview - Foto: Lothar Hill

Im Oktober 2023 trafen sich Sevgi Kosan-Drücke und Bernd Drücke in einem Dortmunder Hotel mit dem am 1. Juni 1947 in München geborenen Liedermacher, Autor, Schauspieler und Anarchopazifisten Konstantin Wecker zum Interview. Die dabei entstandene Radio Graswurzelrevolution-Sendung wird voraussichtlich im Dezember 2023 ausgestrahlt. (1) Wir veröffentlichen in zwei Teilen Auszüge aus dem Gespräch. Teil 2 erscheint im Januar 2024 in der GWR 485. (GWR-Red.)

Bernd Drücke: Konstantin, wir haben gestern in der Konzerthalle Dortmund dein bewegendes Konzert besucht und sind froh, dass wir uns heute mit dir treffen können.

Konstantin Wecker: Das freut mich auch.

Sevgi Kosan-Drücke: Ich war begeistert von deinem Konzert. Das ging ins Herz und in den Kopf. Total viele Bilder wurden aufgerufen. Emotionalität und Zärtlichkeit spielen in deinen Liedern eine große Rolle. Mir ist aufgefallen, dass gestern das Thema „Liebe plus Utopie“ im Vordergrund stand. Was verstehst du darunter? Wie entstehen deine Lieder und Gedichte?

Konstantin: Mir wird das immer bewusster, vor allem im Alter, und ich habe es erstaunlicherweise schon als junger Mann gewusst, in meiner Poesie, und ich muss dazu sagen: meine Gedichte passieren mir, ich habe sie mir nie ausgedacht. Von 600 Liedern, die ich geschrieben habe, und von viel mehr Gedichten auch noch, gibt es ein Lied, das ich ganz bewusst geschrieben habe, das ist „Sage nein!“ Als die ersten Flüchtlingsheime brannten nach der Wende, da habe ich dieses Zitat von Wolfgang Borchert verwendet. Also, dieses Lied ist wirklich aus der Ratio gekommen. Alle anderen Lieder, auch die sogenannten politischen, sind mir passiert. Wie Joseph Beuys mal so schön sagte: „Jeder Mensch ist ein Künstler“, man muss nur den Zugang finden dazu. Ich habe dieses unglaubliche Glück gehabt und das fällt mir im Alter auf. Es war nichts als Glück, es war nicht mein Verdienst. Das einzige Verdienst ist, dass ich als junger Mann und schon als Knabe sehr viel gelesen habe. Das gehört dazu, weil ohne Lesen kann man nicht schreiben, aber ansonsten ist es nur ein großes Glück, dass ich diese Verse pflücken durfte.

Seit tausenden von Jahren werden wir von männlichen, zu 99,999% männlichen Psychopathen beherrscht. Es sind alles Psychopathen und sie reden uns ein, der Mensch sei schlecht und deswegen braucht man einen Herrscher.

Mir fällt heute auf, dass ich mit 18, 19 schon teilweise Gedichte geschrieben habe, die um 30, 40 Jahre weiser waren als ich damals. Ich war ein ziemlich typischer, egobelasteter, machomäßiger, junger Mann. Glücklicherweise in meinen Liedern und Gedichten nie so. Ich werde nie vergessen, wie früher oft Frauen zu mir kamen, die haben mich so angeschaut und ich sah halt genauso auch aus, und dann haben sie gesagt: „Und duuuu willst diese Lieder geschrieben haben? Das glaube ich nicht!“
In meinen Liedern habe ich meine Zerbrechlichkeit immer zugelassen und auch meine Weiblichkeit. In meinem Handeln und in meinem Sein als ganz junger Mann überhaupt nicht. Ich hatte auch das Glück, dass ich großartige Frauen kennenlernen durfte Joan Baez, Mercedes Sosa, Margarethe von Trotta, mit der ich meine ersten Filme gemacht habe. Die haben mich akzeptiert, trotz meines Aussehens und haben etwas Tieferes in mir gesehen. An denen konnte ich lernen und ich habe Jahrzehnte gebraucht, aber jetzt als 76-jähriger Mann kann ich sagen: „Ich bin bekennender Feminist.“ Aber es dauert wirklich für eine Macho-Generation wie mich aus den 47er Jahren.
Das war nur ein Beispiel jetzt. Meine Gedichte flogen mir zu und ich brauchte manchmal Jahre, manchmal Jahrzehnte, um sie zu verstehen. Auch damals habe ich schon viel von Liebe und Zärtlichkeit gesprochen, obwohl das vielleicht in meinem Handeln noch gar nicht so zu spüren war.
Mir wird heute immer bewuss-ter, dass wir uns zugestehen müssen, dass es nicht das Hirn ist, was das Bewusstsein ausmacht, sondern etwas, was tief in uns liegt. Und tief in uns, da ist sicher auch eine spirituelle Komponente. In den 70er Jahren, da war es verpönt, spirituell zu sein und links, das ging nicht. Aber ich war es, weil ich damals schon Meister Eckhart gelesen und geliebt habe. Auch mit den Buddhisten habe ich mich auseinandergesetzt, mit der buddhistischen Psychologie, weniger eigentlich mit der Religion. Ich sehe den Buddhismus gar nicht so als Religion.
Übrigens sagen die Buddhisten auch: „In jedem Menschen wohnt die Buddha-Natur“. Das ist etwas ähnliches wie der Beuys sagte, in uns allen wohnt es, in uns allen wohnt die Liebe, die Zärtlichkeit, die Sehnsucht nach einem liebevollen gleichberechtigten Miteinander. Aber wie finden wir den Zugang dazu?
Das ist auch eine Frage des Alters. Ich wehre mich heute genauso wie früher gegen krude Neonazi-Ideologien. Aber ich stelle mich nicht über diese Menschen. Ich frage mich gerade bei Neonazis: „Was muss der für eine schreckliche Kindheit gehabt haben, um zu so einer kruden, völlig verrückten Idee zu kommen, um dieser Ideologie hinterher zu rennen?“
Eigentlich ist es mittlerweile eher eine Art Mitgefühl, von dem ich dabei geprägt bin. Dass man sich dagegen wehren muss, ist gar keine Frage. Das tue ich auch vehement, aber ich glaube, es ist ein Unterschied, wie man sich wehrt, ob man sich mit Hass wehrt oder eigentlich doch fast eher mit Zärtlichkeit. Das wird mir jetzt immer bewusster und das ist übrigens auch mein Zugang zur Anarchie. Ich habe es ja gestern im Konzert auch gesagt, als 17-Jähriger habe ich bei Henry Miller, den ich glühend verehrt habe, gelesen: „Der wahre Künstler muss Anarchist sein.“ Das hat mich geprägt bis heute und ich bin heute fast noch mehr Anarcho als früher. (5) Ich nenne es immer gerne „Anarcho“, da wirst du mir Recht geben, weil „Anarchist“ ist schon wieder ein Ismus und Ismen mögen wir nicht. Und ja, diese Liebe und die Zärtlichkeit ist das, warum ich überhaupt politisch agiere.

Sevgi: Das kam gestern rüber und das ging mir auch gerade durch den Kopf, Liebe und Zärtlichkeit und dann Position ergreifen, was man will, welche Utopie man hat. Deine Utopie ist wichtig, die hast du gestern super gut formuliert. Vielleicht kannst du noch mehr darauf eingehen?

Konstantin: Die Utopie wird ja fast immer als etwas gesehen, das man eigentlich nicht verwirklichen kann, was irgendwo ein netter Traum ist, aber wir können ihn sowieso nie wahr werden lassen. Die jetzige Tournee heißt „Utopia 2.0 – Wir werden weiter träumen“, es ist eine Erweiterung. Es ist erstaunlich, als ich mich mit dem Thema Utopie intensiv beschäftigt habe, schon bei meiner letzten Tournee „Utopia“, da fiel mir auf, dass sich so viele Denkerinnen und Denker mit dem Thema beschäftigt haben, also Ernst Bloch natürlich. Wir beginnen am besten mit Thomas Morus und seinem wunderbaren Roman „Utopia“. (6) Da sagte man auch immer: „Das ist ein Traum, der nicht verwirklichbar ist.“ Aber bei Thomas Morus wird es einem deutlich, und vor allem bei diesem wunderbaren Roman von Stefan Zweig über Erasmus von Rotterdam, ach, ich liebe Stefan Zweigs „Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers“ (7). Es ist so wichtig das heute wieder zu lesen über den Ersten Weltkrieg. Es ist so wundervoll, Stefan Zweig zu lesen, also, ein Tipp: Lest Stefan Zweigs „Welt von gestern“!
In dem Erasmus von Rotterdam wird auch so klar, dass es die Herrschenden sind, die uns die Utopie ausreden wollen. Sicher ist es sehr vereinfacht, aber ich habe versucht, es mal auf einen Punkt zu bringen: Seit tausenden von Jahren werden wir von männlichen, zu 99,999% männlichen Psychopathen beherrscht. Es sind alles Psychopathen und sie reden uns ein, der Mensch sei schlecht und deswegen braucht man einen Herrscher. Dass der Herrscher viel schlechter ist als dieser Mensch, den er beherrscht, darüber wurde natürlich nie geredet. Ich glaube, es ist wichtig, dass einem das bewusst wird. Und auch, dass wir heutzutage hier noch nicht annähernd eine wirkliche Gleichberechtigung von Mann und Frau haben, das muss uns bewusst werden. Wir haben das Weibliche immer noch nicht zugelassen, da hilft auch Gendern nichts. Ich bin übrigens ein Freund des Genderns. Ich werde auch von meinem Publikum oft angegriffen, wenn ich jetzt gendere in meinen Texten, aber durch das Gendern wird uns bewusst wie männlich orientiert die Sprache ist. Es ist ein wichtiger Vorgang, dass einem das immer wieder bewusst wird. Darum habe ich auch „Sage nein!“ in meiner zweiten Version in dem zweiten Refrain, den ich gesungen habe, auch gegendert, weil im ersten ist der einzig weibliche Beruf die Hausfrau und das geht eigentlich wirklich nicht.

Bernd: Du stehst seit über 50 Jahren der Bühne. Ich habe dich gestern zum dritten Mal live gesehen. Das erste Mal war bei deinem Konzert am 20. Februar 2010 in Kassel. Damals hattest du die GWR-Redaktion zum ersten Mal eingeladen. Am nächsten Morgen habe ich dieses wunderschöne, zweistündige Interview mit dir gemacht. Das Gespräch war so lang und spannend, dass wir es in drei Teilen in den Graswurzelrevolution-Ausgaben 348 bis 350 abgedruckt haben. (2)
Das zweite Mal war am 19. Oktober 2017 in Bielefeld. Da hast du dich vor deinem Konzert mit Norbert Eilinghoff und mir getroffen, um eine – letztlich erfolgreiche – Kampagne für den dauerhaften Erhalt der Paul-Wulf-Skulptur in Münster öffentlichkeitswirksam zu unterstützen. (3)
Die Skulptur erinnert an den von den Nazis 1938 zwangssterilisierten Anarchisten Paul Wulf (1921-1999). (4)
Beim gestrigen Konzert ist mir aufgefallen, dass dein neues Programm „Utopia 2.0“ vielleicht das bisher radikalste ist. Auch wenn ich das vergleiche mit den vorherigen. Vielleicht fällt das noch stärker auf, weil der Mainstream in den letzten Jahren immer stärker nach rechts gekippt ist. Wir leben in einer Zeit, in der gerade auch Anarchismus und Pazifismus Schimpfwörter geworden sind, 
noch viel stärker als früher. Es ist extrem erfrischend, dass du dich in dieser finsteren Zeit offen auf der Bühne als Anarchopazifist bezeichnest und deine Fans da mitnimmst. Es war schön zu sehen, dass viele Menschen von den anarchistischen, gewaltfreien, antirassistischen und menschenfreundlichen Ideen, die du auf der Bühne vermittelt hast, berührt wurden.

Konstantin: Was mich sehr gefreut hat gestern, als ich das erzählt habe über den Henry Miller, dass es Beifall gab für den Satz „Ich bin ein bekennender Anarchist“. Das hätte ich selbst bei meinem Publikum eigentlich nicht erwartet. Aber ich muss dazu sagen, mir fällt in den letzten Jahren immer mehr auf, wie wichtig die Kunst ist, um Mut zu machen, Mut zu machen, zu sich selbst zu stehen.
Rückblickend möchte ich sagen, dass ich als Schüler im Gymnasium gemobbt wurde, wegen meiner kruden Ideen. Meine Eltern waren ja keine Nazis, also, da hatte ich einen großen Freiraum auch im Elternhaus. Ich habe mir dann damals immer schon gedacht: „Lese doch mal Dostojewski bitte, der kann zwar besser schreiben als ich, aber der will genau das gleiche wie ich.“ Ich fühlte mich durch die Kunst ermutigt, ein Verrückter zu sein, ein Einzelgänger. Von den meisten Mitschülern wurde ich verlacht. Aber es hat mir eigentlich nicht viel ausgemacht, weil mich meine Lyriker und die großen Literaten, die ich verehrt habe, ermutigt haben.
Vor drei Jahren schrieb mir eine Frau eine E-Mail, das ist so symptomatisch für viele Briefe, die ich bekomme: „Lieber Konstantin Wecker, ich werde ausgelacht in meiner Familie und meinem Freundeskreis, weil ich mich für Geflüchtete einsetze. Jetzt war ich in ihrem Konzert und ich verspreche Ihnen, ich engagiere mich weiter.“ Das ist wunderschön, also da habe ich gemerkt, dass ich dieser Frau Mut machen konnte zu sich zu stehen.

Bernd: Für die aktuelle Tournee hast Du 1.700 kostenlose „Sozialtickets“ zur Verfügung gestellt, damit auch Menschen mit geringem Einkommen an deinen Konzerten teilhaben können.

Konstantin: Ja, ich habe dieses Sozialticket eingeführt, weil mir klar ist, dass es viele Menschen gibt, die sich mein Konzert nicht leisten können und trotzdem gerne hingehen würden. Ich habe das früher auch gemacht für Hartz-4-Empfänger, aber dann habe ich gemerkt wie peinlich es den Leuten ist, am Ticket-Counter den Hartz-4-Ausweis zu zeigen. Dann habe ich gesagt: „Ich glaube euch. Ihr schreibt mir einfach, dass ihr das Geld nicht habt, um euch ein Ticket zu kaufen und dann bekommt ihr eins.“ Das funktioniert. Ich glaube, der Missbrauch wird sich in geringen Grenzen halten, weil die Milliardäre, die so etwas ausnutzen würden, nicht in meinem Konzert sitzen.
Kunst und Kultur müssen endlich wieder ein Menschenrecht für alle sein. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Pandemie, Krieg und soziale Kälte machen selbst in Europa immer mehr Menschen arm und schließen sie von der Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben aus.

(1) Radio Graswurzelrevolution ist die Bürgerfunksendung der GWR. Die 55-minütige Radio Graswurzelrevolution-Sendung mit Konstantin Wecker wird voraussichtlich im Dezember 2023 u.a. im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz.) ausgestrahlt und ist danach auch online zu hören auf: https://www.nrwision.de/mediathek/
sendungen/radio-graswurzelrevolution/
Lothar Hill hat für MünsterTube einen Videomitschnitt des Interviews gemacht und u. a. hier dokumentiert: https://www.youtube.
com/watch?v=symLK6R99no
(2) Teil 1 und 2 (von 3) des ersten-GWR-Interviews mit Konstantin Wecker finden sich auf: www.graswurzel.net/348/wecker.shtml und www.graswurzel.net/349/wecker.shtml; 
Das vollständige Interview findet sich in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung hier: „Eine andere Gesellschaft muss auch eine liebevollere sein“ – Ein Gespräch mit dem Liedermacher Konstantin Wecker, in: Bernd Drücke (Hg.), Anarchismus Hoch 2, Karin Kramer Verlag 2014, S. 112 ff.
(3) Siehe: Freundeskreis Paul Wulf (Hg.): „Ich lehre euch Gedächtnis“ Paul Wulf: NS-Opfer – Antifaschist – Aufklärer. Mit einem Vorwort von Konstantin Wecker, Unrast, Münster 2021
(4) Siehe: Poesie und Widerstand. Konstantin Wecker setzt sich für den dauerhaften Erhalt der Paul-Wulf-Skulptur ein, Artikel von Freundeskreis Paul Wulf, in: GWR 423, November 2017, https://www.graswurzel.net/gwr/2017/11/poesie-und-widerstand/
(5) Siehe dazu auch: Nimm Abschied von der Fremdbestimmung! Vorwort von Konstantin Wecker, in: Bernd Drücke (Hg.), „ja! Anarchismus“, Unrast 2018, Vorabdruck in der GWR 442, Okt. 2018: https://www.graswurzel.net/gwr/2018/09/nimm-abschied-von-der-fremdbestimmung/
In dem von Thomas Stölner, Uwe H. Bittlingmayer und Gözde Okcu herausgegebenen Sammelband „anarchistische gesellschaftsentwürfe“, Unrast 2023, ist Konstantin Wecker neben vielen anderen Autor:innen mit drei Beiträgen vertreten.
(6) Der 1515 erschienene Roman „Utopia“ von Thomas Morus ist als philosophischer Dialog aufgebaut und begründete das Genre des utopischen Romans.
(7) „Die Welt von Gestern“ – das war aus Sicht Stefan Zweigs die bürgerliche Welt im habsburgischen Österreich, die in zwei Weltkriegen unterging. Zweig schildert das alte Wien, das Leben seiner Generation und seine eigene Biografie. Im südamerikanischen Exil, in dem er von 1939 bis 1941 dieses persönliche Buch niederschrieb, erreichten ihn die Schreckensmeldungen aus Hitlers Drittem Reich. Die „Welt von Gestern“ war unwiederbringlich verloren – doch in diesem bewegenden Buch wurde sie für die Nachwelt aufgehoben.

Teil 2 des Interviews erscheint im Januar 2024 in der GWR 485

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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