Sami Schalk: „Black Disability Politics“, Duke University Press, Durhum, USA, Oktober 2022, 224 Seiten, 24,95 US-Dollar, ISBN 978-1-4780-9268-1
Dieses Buch ist wichtig für aktivistische Gruppen und Bewegungen, und ich ermutige je- de*n, es zu lesen (1)! Bisher ist Sami Schalks „Black Disability Politics“ nur auf Englisch erschienen, und deshalb möchte ich hier einige wichtige Punkte mit euch teilen. Sami Schalk befasst sich mit der Frage, wie das Thema Behinderung in Schwarzem Organisationen in der Vergangenheit behandelt wurde und wie es heute behandelt wird. Um diese Rezension in Perspektive zu setzen: Ich schreibe als eine weiße, queere, nichtbinäre, neurodivergente und körperlich nicht-behinderte Person, geboren und wohnhaft in West-Europa.
Ohne die Schaffung von Netzwerken der Fürsorge und Unterstützung innerhalb unserer Bewegungen sind alle Versuche, nachhaltiger oder regenerativer zu werden, kaum mehr als Kosmetik.
Es besteht oft das Vorurteil, dass sich Schwarzes Organisieren historisch gesehen weniger mit dem Thema Behinderung befasst hat. Allerdings liegt das teilweise daran, dass andere Konzepte und Begriffe benutzt wurden als in der weiß-dominierten Behindertenrechtsbewegung. Wenn wir uns die Theorie und Praxis schwarzer Gruppen und Bewegungen ansehen, stellen wir fest, dass sie die Bedürfnisse behinderter Menschen oft auf sehr praktische Weise angegangen sind. Sie haben auch viel Verständnis für die Barrieren und die Unterdrückung gezeigt, denen diese Menschen ausgesetzt waren.
Historische Beispiele für Schwarze Behindertenpolitik
Im Buch werden einige Beispiele eingehend vorgestellt. Erstens werden einige Aktivitäten der Black Panther Party (BPP) beleuchtet: deren logistische Unterstützung (in Form von warmen Mahlzeiten) für das 504 Sit-in in San Francisco im Jahr 1977 (2), ihre kontinuierliche Unterstützung für inhaftierte und zwangsweise eingewiesene Psychiatriepatient*innen, sowie ihr ganzheitliches Verständnis, psychiatrische Einrichtungen als Erweiterung des Industriellen Gefängniskomplexes zu sehen.
Ein anderes wichtiges historisches Beispiel zeigt, wie das National Black Women’s Health Project (NBWHP) im Rahmen seiner verschiedenen Aktivitäten Schwarze behinderte Frauen unterstützte und ohne Stigmatisierung einbezog, insbesondere in seinen Selbsthilfegruppen und bei den in seinen Veröffentlichungen behandelten Themen.
Sami Schalk untersucht nicht nur die Stärken dieser Organisationen in Bezug auf ihren Umgang mit Behinderung, sondern scheut auch nicht davor zurück, ihre Schwächen und Limitationen zu analysieren. Ein Kritikpunkt, der mir besonders auffiel, war das fehlende Bewusstsein für die Vorteile der gemeinsamen Identität als Behinderte. Heutzutage wird viel mehr anerkannt, wie diese gemeinsame Identität Solidarität und den gemeinsamen Kampf gegen ableistische (3) Institutionen und Formen der Unterdrückung erleichtern kann.
Im Buch werden mehrere Faktoren genannt, die zu diesem anfänglich mangelhaften Fokus auf Behinderung als Identität in schwarzen Communities und bei der Organisierung beigetragen haben könnten.
– Die weiß-dominierte Behindertenrechtsbewegung hat es oft versäumt, sich mit sich überschneidenden Systemen der Unterdrückung auseinanderzusetzen. Dies führte dazu, dass ein Großteil ihres Aktivismus sich nicht mit den Realitäten und Bedürfnissen Schwarzer behinderter, gehörloser und neurodiverser Menschen befasste. Oft lag der Schwerpunkt auf den Bedürfnissen von weißen, männlichen Rollstuhlfahrern (die in der Bewegung oft die Machtpositionen besetzten). Dies ist in gewissem Maße auch heute noch der Fall. Kürzlich habe ich auch „This Bridge Called My Back“ gelesen, und es gibt sicherlich Parallelen zu den Kritiken am weißen Feminismus sowie an anderen Bewegungen, in denen Weiße dominanter und sichtbarer sind.
– Da ihre Realitäten und Bedürfnisse nicht in nennenswertem Umfang vertreten waren, konnten sich viele schwarze Behinderte nicht mit der Behindertenrechtsbewegung identifizieren. Deshalb hatten sie auch nicht das Gefühl, dass diese Bewegung etwas für sie war. Rassismus war und ist immer noch sehr präsent in der Gesellschaft. Deswegen überrascht es nicht, dass die von Weißen dominierten politischen Bewegungen immer noch rassistische Verhaltensweisen und Einstellungen propagieren. Ich gehe jetzt nicht weiter auf diesen Punkt ein, aber wer mehr wissen will, sollte das Buch lesen!
– Für Schwarze, die sich offen als behindert bezeichnen, bestanden und bestehen immer noch konkrete Gefahren. Dazu gehört zum Beispiel das höhere Risiko, zwangssterilisiert oder für gefährliche medizinische Experimente verwendet zu werden. Außerdem wird mensch noch stärker ausgegrenzt, als mensch es als Schwarzer ohnehin schon ist. Aufgrund von verinnerlichtem Rassismus und Behindertenfeindlichkeit könnte dies auch zu einer Stigmatisierung und Ausgrenzung innerhalb der Schwarzen Gemeinschaft führen.
– Dies hat auch mit rassistischen Stereotypen über Schwarze Menschen zu tun, die sich stark mit Behindertenfeindlichkeit überschneiden, z. B., dass sie „faul oder minderwertig“ seien.
– Gatekeeping und Bürokratie im medizinischen Establishment sowie von weißen behinderten Menschen werden ebenfalls als Grund genannt.
Schwarze Behindertenpolitik heute
Nach der Beleuchtung dieser Beispiele aus der Vergangenheit, vergleicht Sami Schalk diese mit dem heutigen Aktivismus und stützt sich dabei auf Interviews mit mehreren schwarzen behinderten Aktivist*innen und Kulturschaffenden sowie auf Aktionen und Mitteilungen von Gruppen wie dem Harriet Tubman Collective.
In der heutigen Zeit gibt es immer mehr Schwarze Behinderte, die sich als solche identifizieren und dies als etwas Wichtiges für sich selbst und ihre Organisierung ansehen. Gleichzeitig gibt es ein starkes Bewusstsein dafür, dass mensch sich nicht als behindert identifizieren muss, um Teil der Behindertenpolitik zu sein oder davon zu profitieren. (Einige Personen erwähnten auch, dass sie von weißen Behindertenaktivist*innen ermahnt wurden, dass mensch sich als behindert identifizieren sollte).
Sami Schalk erwähnt, stark von der Disability Justice-Bewegung beeinflusst zu sein, einem Rahmenkonzept, das von behinderten BIPOC (4), behinderten queeren Menschen und behinderten queeren BIPOC entwickelt wurde und das viele der Mängel der Behindertenrechtsbewegung ausgleicht.
Einer der zehn Grundsätze der Disability Justice (5) (auf deutsch Behindertengerechtigkeit) ist die Führung der am meisten Betroffenen. Diejenigen, die eine bestimmte Form der Unterdrückung am eigenen Leib erfahren haben, wissen am besten, wie sie funktioniert. Sie sollten deshalb die Ersten sein, auf die mensch hört, wenn es um die Bekämpfung der Unterdrückung geht. Das bedeutet, dass Schwarze Behinderte in den Bewegungen im Mittelpunkt stehen und sichtbar sein sollten, sei es in der Behindertenbewegung oder in der Schwarzen Organisierungsarbeit.
Laut Autor gibt es in vielen Schwarzen Aktivist*innengrup-pen immer noch eine Menge Behindertenfeindlichkeit. Genauso gibt es in vielen weiß dominierten Behindertenrechtsgruppen immer noch eine Menge Rassismus. Ohne diese Probleme anzugehen, können diese Gruppen niemals hoffen, die Freiheit von Unterdrückung für alle zu erreichen.
Zugängliche und nachhaltige Formen der Organisation
Vor allem in den letzten Kapiteln wird ein weiteres wichtiges Thema deutlich. Nämlich zugängliche und nachhaltige Organisationsformen und wie Schwarze Behinderten-Aktivist*innen und -gruppen Techniken und Ansätze dazu entwickelt und in ihre Praxis integriert haben.
In diesem Zusammenhang gefiel mir eine Assoziation besonders gut. Im Mainstream-Aktivismus gibt es oft die Tendenz, den bodymind („Körper-Geist“) ohne Rücksicht auf seine natürlichen Energiegrenzen zu strapazieren. Dies wird verglichen mit der Art und Weise, wie die Mainstream-Gesellschaft Mensch und Planet behandelt, als seien sie ein grenzenloses System mit unendlichen Ressourcen. In beiden Fällen führt dies zu nicht nachhaltigen Handlungs- und Lebensweisen auf dem Planeten und in unserem bodymind. Dadurch wird die Welt in den Klimakollaps und die Ressourcenverknappung getrieben, und unser bodymind in den Burnout.
Langsam verbreiten sich Care-Praktiken, die in BIPOC-Behindertenaktivismus wurzeln, auch in anderen Bewegungen. Wir sollten dies ermutigen und gleichzeitig daran denken, den Ursprung dieser Praktiken zu würdigen.
Im Buch wird ein persönliches Beispiel erwähnt, wie solche Praktiken aussehen können. Wegen einer Therapiesitzung musste Sami Schalk Aufgaben bei der Bewegungsarbeit absagen. Die Menschen in der Gruppe haben nicht nur ihre Akzeptanz dafür ausgedrückt und die Aufgaben übernommen. Sie haben es sogar explizit gefeiert, dass mensch für sich sorgt. Natürlich steht dieses Beispiel in krassem Gegensatz zu vielen Aktivist*innengruppen, in denen im besten Fall nichts gesagt wird. Nicht selten wird sogar der Vorwurf erhoben, mensch stelle sich selbst über das „größere Wohl“ der Sache.
Persönliche Gedanken nach der Lektüre des Buches
Ich fand dieses Thema besonders interessant, da wir uns seit über einem Jahrzehnt intensiv mit „nachhaltigem Aktivismus“, Care und Burnout im Aktivismus beschäftigen. Unser Kollektiv kam in der ZAD NddL zusammen, einer besetzten Zone im Kampf gegen den Bau eines Flughafens in der Nähe von Nantes, Frankreich. Dort, wie auch davor an anderen Orten des Kampfes, sahen wir, wie Burnout und unnachhaltige Organisationspraxen unsere Bewegungen schwächten und dazu führten, dass viele Freund*innen und Genoss*innen ausstiegen. Nach den Räumungen im Winter 2012 begannen wir mit der Arbeit an unserem Film zu diesem Thema: „Radical Resilience“. Kurz darauf wurde eine*r von uns chronisch krank, so dass wir den Film 2020 in crip time fertig gestellt haben. Crip time ist ein Konzept, das aus Behinderungsaktivismus kommt und besagt, dass wir die Zeit uns anpassen, und nicht wir uns dem Druck und den Zeitvorgaben. (6)
Mit der Zeit wurde uns immer deutlicher, wie wichtig ein kollektives Verständnis von Care ist. Ohne die Schaffung von Netzwerken der Fürsorge und Unterstützung innerhalb unserer Bewegungen sind alle Versuche, nachhaltiger oder regenerativer zu werden, kaum mehr als Kosmetik. Es ist wichtig, die komplizierten Verflechtungen von Privilegien und Unterdrückung, von verschiedenen Formen der Marginalisierung zu verstehen, um Care für alle zugänglich machen zu können. Es ist wichtig die Verhaltensweisen und Einstellungen zu verstehen, die wir reproduzieren. Ansonsten schließen wir Menschen aus, und schaffen unreflektierte Hierarchien, die die Verhältnisse in der Gesellschaft um uns herum widerspiegeln.
Gleichzeitig sahen wir im kapitalistischen Mainstream, wie das individualistische Narrativ der selfcare („Selbstfürsorge“) mehr und mehr propagiert wurde. Ein Narrativ, das vor allem für die Privilegiertesten funktioniert. Jene, die die Ressourcen und die Zeit haben, sich dieser Art von Care zu widmen. Und denjenigen, die ausbrennen, weil sie nicht über diese Ressourcen verfügen, wird gesagt, sie seien selbst schuld. Weil sie sich nicht „genug um sich selbst kümmern“, wobei die strukturelle Unterdrückung ignoriert wird.
Die Tendenz, die eigenen Bedürfnisse als eine private Angelegenheit zu betrachten, ist nicht neu. Sie ist Teil der Bemühungen, unsere kollektive Solidarität und Stärke zu brechen, uns zu isolieren und das kapitalistische System aufrechtzuerhalten. Wir haben es selbst gemerkt durch unsere eigenen Erfahrungen mit chronischer Krankheit. Wir versuchten, Teil der Bewegungen zu bleiben, in denen wir so lange aktiv waren. Es war unmöglich zu übersehen, dass Behinderung und (chronische) Krankheit als etwas angesehen wurden, um das sich der Einzelne, seine Familie oder sein Partner kümmern müssen, und nicht als etwas Kollektives.
Etwa 2019 las ich zum ersten Mal „Emergent Strategy“ (7) von Adrienne Maree Brown, einer queeren Schwarzen behinderten Autorin und Aktivistin. Ich war beeindruckt von dem ganzheitlichen und ausdrucksstarken Verständnis und der Darstellung dieser und vieler anderer Konzepte. Dies war ein ganz anderer Ansatz für „nachhaltigen Aktivismus“ als der, den ich kannte. Für mich ist dies ein großartiges Beispiel dafür, warum das Vorangehen der am stärksten Betroffenen so effektiv und so notwendig ist.
Wie Sami Schalk betont, ist es wichtig, unsere vergangenen und aktuellen Bewegungen zu betrachten. Ihre Stärken zu erkennen, aber auch ihre Limitierungen kritisch zu betrachten, um zu sehen, wie wir uns besser organisieren können. Für mich bedeutet das, dass wir das Gespräch fortsetzen, einander zuhören und lernen müssen. Vor allem sollten wir den am stärksten betroffenen Menschen zuhören. Es ist wichtig, die Quelle dieses Wissens und dieser Weisheit zu würdigen, um das zur Befreiung von uns allen einzusetzen. Auch indem wir unsere Aktivismus zugänglicher machen. Indem wir Barrieren abbauen, Rassismus, Behindertenfeindlichkeit und alle anderen Formen der Unterdrückung verlernen und Netze kollektiver Fürsorge aufbauen.
(1) Black Disability Politics (Duke University Press, Oktober 2022) ist hier zu kaufen: https://www.dukeupress.edu/black-disability-politics oder als kostenlose PDF: https://
library.oapen.org/handle/20.500.12657/62545
(2) https://www.innow.org/2021/02/12/black-panthers/ (DE)
(3) Ableismus ist das Fachwort für die Diskriminierung aufgrund einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung oder aufgrund von Lernschwierigkeiten. Es ist Ableismus, wenn ein Mensch aufgrund einer bestimmten, oft äußerlich wahrnehmbaren Eigenschaft oder einer Fähigkeit – seinem „Behindertsein“ – bewertet wird. Das Wort kommt aus dem Englischen und klingt ähnlich wie „Rassismus“ oder „Sexismus“. Das ist beabsichtigt. Es soll eine Form von Diskriminierung bezeichnen. Zum Thema siehe Ableismus-Schwerpunkt in GWR 453, November 2020, https://www.graswurzel.net/gwr/category/ausgaben/453-november-2020/
(4) Die Abkürzung BIPOC ist ein Begriff, der sich auf Schwarze, Indigene und People of Color bezieht. Mit dem Begriff sollen explizit Schwarze und indigene Identitäten sichtbar gemacht werden, um antischwarzem Rassismus und der Unsichtbarkeit indigener Gemeinschaften entgegenzuwirken.
(5) 10 principles of Disability Justice by Sins Invalid and Patty Berne https://www.sinsinvalid.org/blog/10-principles-of-disability-justice
(6) Crip Time ist ein Konzept von Alison Kafer. Siehe: https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/crip-time
(7) emergent strategy – https://adriennemareebrown.net/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.