In seinem 1992 veröffentlichten Bestseller „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ verarbeitet Peter Høeg die gängigen Klischees über Grönländer*innen in Dänemark: Sie sind entweder dumme, depressive Alkoholiker, die von Sozialhilfe leben und sich willenlos ausbeuten lassen. Oder aber individual-anarchistische edle Wilde wie Smilla, die Spuren lesen und auf Eisschollen im Kopenhagener Hafen balancieren können (1). Die rechtliche Situation hat sich seither geändert – die dänische Einstellung kaum.
Was macht man mit seinen Kolonien, wenn das Wort und der Tatbestand unzeitgemäß sind, man die Länder aber gern behalten will – obwohl die dort lebenden Menschen einem fremd und eher gleichgültig sind? Nun, man versucht, das Fremde durch „Modernisierung“ dem eigenen Wesen anzugleichen. Oder auszulöschen.
1940, als Dänemark von den Nazis besetzt wurde, hatte das Land noch zwei Kolonien: die Färöer und Grönland. Während die Färinger*innen ethnisch betrachtet ein skandinavisches Volk mit skandinavischer Sprache sind, fallen die Grönländer*innen schon optisch und sprachlich als anders auf. Und so nimmt es nicht Wunder, dass im formalen Dekolonialisierungsprozess nach dem Zweiten Weltkrieg den Färinger*innen neue Rechte gern ein paar Jahre früher als den Grönländer*innen zugestanden wurden.
1950 gab Dänemark sein Handelsmonopol auf, und am 5. Juni 1953 wurde Grönland offiziell dekolonialisiert und schließlich nach außen hin in mehreren Schritten über Jahrzehnte hinweg ein gleichwertiger Teil in der sogenannten „Reichsgemeinschaft“ mit zwei Sitzen im Kopenhagener Parlament und der dänischen Verfassung als Grundgesetz. Alle Grönländer*innen haben die dänische Staatsbürgerschaft.
Nur wenige Wochen vor dem 5. Juni wurden die Inuit, die nahe der Thule-US-Air Base lebten, noch schnell zwangsumgesiedelt. Sie erhielten dafür erst 1999 eine Entschädigung (2).
Danach griff dann die G50- bzw. G60-Politik Dänemarks. Ihr Ziel war es, grönländische Menschen in möglichst wenigen, möglichst großen Ortschaften zu konzentrieren, der dänischen Lebensweise anzupassen und die grassierende Tuberkulose einzudämmen, mit anderen Worten: Die Leute binnen weniger Jahre aus einem angeblichen Mittelalter in die westlich-urbanisierte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu katapultieren.
Durch die Ausrottung der Tuberkulose verdoppelte sich die Bevölkerungszahl binnen weniger Jahre. Und durch die forcierte Urbanisierung war es den Menschen nicht mehr möglich, ihrer traditionellen Beschäftigung, der Jagd, nachzugehen, da die Robben sich boshafterweise nicht mit zentralisieren ließen. Die neokolonialistische Politik der 1950er- und 60er-Jahre, die die Grönländer*innen zugleich dänisieren sollte, führte zu Kulturverlust und riesigen sozialen Problemen: Arbeitslosigkeit (denn ein fantastischer Jäger ist noch lange kein guter Architekt), Hoffnungslosigkeit (die grönländische Selbsttötungsrate ist die höchste der Welt), Alkoholismus und Gewalttätigkeit (häusliche Gewalt, Vergewaltigung, Vernachlässigung der Kinder).
Verschwundene Kinder und Spiralen
Um des Bevölkerungswachstums Herr zu werden (1.800 Babys pro Jahr kosteten Dänemark einfach mehr als die rund je 1.000 Babys in den Jahren 1900-1950), wandten die dänischen Behörden und Ärzte vor Ort zwei perfide Strategien an: Sie legten den ledigen Müttern (damals rund 25% aller Schwangeren) ans Herz, ihre Babys gleich vom Krankenhausbett heraus nach Dänemark adoptieren zu lassen (3). Und sie setzten vermutlich der Hälfte aller Frauen im gebärfähigen Alter die Spirale ein, unter Druck und oft ohne ihre Zustimmung, gern auch jungen Mädchen von 14 oder 15 Jahren. Überwiegend in den 60ern und 70ern, aber vereinzelt auch noch bis in die 90er Jahre hinein. Auch grönländische Mädchen, die in Dänemark zur Schule gingen, waren betroffen. Damit senkte sich die Zahl der lebendgeborenen Kinder schlagartig auf 800 pro Jahr.
Nicht alle vertrugen das Einsetzen der Spirale und leiden seitdem unter gesundheitlichen Problemen. Im Mai 2022 verlangte die grönländische Gesundheitsministerin den Einsatz einer Untersuchungskommission. Doch Dänemark sträubte sich. Da waren ja z.B. die Reichstagswahlen im November 2022. Und auch bis heute ist noch nicht viel passiert. Es sei so schwer, fachlich qualifizierte Forscher*innen zu
finden, meint die dänische Gesundheitsministerin Sophie Løhde. Inzwischen hat die Kommission zwar mit ihrer Arbeit begonnen, will aber erst im Mai 2025 ein Untersuchungsergebnis vorlegen.
Darauf wollen 77 Frauen nicht länger warten und haben den dänischen Staat verklagt, um wenigstens eine Gratistherapie zu erhalten (4). Weitere 67 Frauen verlangen jeweils einen Schadenersatz von 300.000 Kronen (gut 40.000€) (5) wegen Missachtung ihrer Menschenrechte.
Die grönländische Abgeordnete Aaja Chemnitz hätte gerne eine Entschuldigung vom dänischen Staat. Bisher Fehlanzeige. „Ich habe gefühlt, dass mein Körper kolonisiert worden ist“, sagt eine der betroffenen Frauen, die Psychologin und Aktivistin Naja Lyberth (6). Viele von ihren Mitschwestern, fährt sie fort, haben „die Fähigkeit verloren, überhaupt noch Kinder zu gebären“.
Uneheliche Kinder
Das ist nicht das einzige Problem, mit dem sich Staatsministerin Mette Frederiksen von den Sozialdemokraten herumschlagen muss. Auch die vaterlosen Grönländer*innen mit lediger grönländischer Mutter und dänischem Erzeuger begehren auf. Sie finden, dass sich Frederiksen um ihre Ansprüche nicht ausreichend kümmert. Bis 1974 hatten uneheliche grönländische Kinder nicht das Recht, ihren Erzeuger zu kennen. Dabei haben dänische uneheliche Kinder dieses Recht bereits seit den 1930er Jahren.
Hierbei geht es nicht nur um den Namen des Vaters und darum, ihn kennenzulernen, sondern auch um das Recht, ihn zu beerben. 2023 klagen nun 26 Grönländer*innen gegen den dänischen Staat. Reaktion unseres Staatsoberhauptes: Fehlanzeige (7).
Dass Grönländer*innen wegen Diskriminierung oder Verletzung der Menschenrechte klagen, ist relativ neu. Noch in einer Untersuchung aus dem Jahre 2015 mit dem Titel „Gleichbehandlung von Grönländern in Dänemark“ des Instituts für Menschenrechte (8), meint zwar die Hälfte der Befragten, dass die Grönländer*innen von den Dän*innen stigmatisiert werden, aber nur ein geringer Prozentsatz hat je deswegen geklagt.
Was macht man mit seinen Kolonien, wenn das Wort und der Tatbestand unzeitgemäß sind, man die Länder aber gern behalten will – obwohl die dort lebenden Menschen einem fremd und eher gleichgültig sind?
Gründe dafür gibt es viele: von mangelnder Kenntnis der dänischen Sprache und des dänischen Rechtssystems, der geringen Organisation in grönländischen Vereinen, bis hin zu einem geringen Selbstwertgefühl. „Ich bin ja doch nur ein dummer Grönländer“, heißt es dann.
Grönländer*innen in Dänemark haben es schwer: Ihr Beschäftigungsgrad liegt trotz dänischer Staatsbürger*innenschaft bei nur 33% (9) und ist damit etwa so hoch wie der von Somalier*innen und Syrer*innen. Wobei sie in der Hackordnung auf der Straße noch unter diesen stehen. Gleichzeitig ist die Obdachlosigkeit unter Grönländer*innen 40mal höher als unter ethnischen Dän*innen. Neben mangelnden Sprachkenntnissen und grönländischem Aussehen liegt das u.a. daran, dass Dänemark es in den ganzen Jahrzehnten nicht geschafft hat, grönländische Ausbildungsabschlüsse anzuerkennen.
Grönländischsprachige Hilfe vor Ort gibt es in Dänemark kaum. Das Land hat – trotz aller Ermahnungen seitens EU und UN – bisher nur die deutsche Minderheit als solche anerkannt. Damit haben wir Deutschstämmigen hier unter anderem deutsche Schulen, Kindergärten, Bibliotheken, Zeitungen und das Recht, auf den Ämtern Deutsch zu sprechen.
Bei Grönländer*innen hingegen entscheidet der jeweilige Sachbearbeiter, ob er es für notwendig hält, eine/n Dolmetscher*in hinzuzuziehen. Und qualifizierte Dolmetscher*innen (auch vor Gericht) sind immer wieder Mangelware.
Am 21. September 2023 kam es im dänischen Parlament zum Eklat, als die grönländische Abgeordnete Aki-Matilda Høegh-Dams es wagte, am Rednerpult grönländisch zu sprechen, und sich weigerte, dies zu übersetzen. Es dauerte anderthalb Monate, bis den Grönländer- und Färinger*innen im Parlament nun doch ein/e bezahlte/r Dolmetscher*in zugestanden wurde: 67.000 Kronen (knapp 9.000 €) werden jeder/m der vier Abgeordneten nun monatlich dafür bewilligt (10).
Im August 2023 hat die linke dänische Zeitung „Information“ die Debatte erneut gestartet, Grönländer*innen in Dänemark als nationale Minderheit anzuerkennen (11), nachdem der grönländische Abgeordnete Kuno Fenckers verlangt hatte, dass in Dänemark lebende Grönländer*innen dazu befragt werden sollten. Dän*innen reden sich bei diesem Thema gern damit heraus, dass man ja nicht wisse, wer Grönländer*in sei, da dies statistisch nicht erfasst würde (Danmarks Statistik gibt bisher keine Auskunft darüber). Verblüffend nur, dass dies bei der deutschen Minderheit so gut geglückt ist.
Wie es schon in Shakespeares „Hamlet“ heißt: „Da ist was faul im Staate Dänemark“. Aber es tut sich was, wenn auch nur im Schneckentempo.
(1) Peter Høeg: Fräulen Smillas Gespür für Schnee (dänisches Original 1992, auf deutsch als Rowohlt Taschenbuch 2004, ISBN 978-3499237010). Im Zusammenhang mit Diskriminierung definiere ich Grön-länder*innen als Menschen mit mindestens einer/m ethnisch grönländischen Vorfahrin/en, gleich wo geboren. Ansonsten jede*n, die/der sich (partiell) als grönländisch empfindet.
(2) Jean Malaurie berichtet in seinem Buch „Die letzten Könige von Thule“ über diese gemeinschaftliche Menschenrechtsverletzung von Dänen und Amerikanern (ISBN 978-3810512017).
(3) Der Film „Grønlands forsvundne børn“ (Grönlands verschwundene Kinder) berichtet von den Versuchen einiger dieser komplett dänisierten Kinder, ihre leiblichen Eltern wiederzufinden: https://www.dr.dk/soeg?query=Gr%C3%B8nlands%20forsvundne%20b%C3%B8rn&sort=Relevance
(4) https://www.dr.dk/nyheder/seneste/efter-spiralsagen-77-kvinder-har-henvendt-sig-benytte-tilbud-om-gratis-terapi
(5) https://www.dr.dk/nyheder/indland/groenlandske-kvinder-vil-ikke-vente-paa-udredning-af-spiralsag
(6) https://www.dr.dk/drtv/se/tegnnyt-baggrund_-spiralsagen_361487
(7) https://www.dr.dk/nyheder/seneste/juridisk-faderloese-og-beroerte-af-spiralsagen-vil-demonstrere-imod-mette
(8) Ligebehandling af Grønlændere i Danmark, © 2015 Institut for Menneskerettigheder, København, ISBN 978-87-93241-36-7
(9) siehe auch: https://www.dst.dk/da/informationsservice/blog/2018/10/gronlaendere
(10) https://www.dr.dk/nyheder/politik/selvtolkning-i-folketinget-faar-haarde-ord-med-paa-vejen-det-er-irriterende-og und https://www.dr.dk/nyheder/politik/hun-insisterede-paa-tale-groenlandsk-i-folketinget-nu-er-der-67000-om-maaneden-til
(11) https://www.information.dk/debat/2023/08/groenlaendere-danmark-anerkendes-nationalt-mindretal
P.S.: Dänemark hat schon vor Jahrzehnten alle internationalen Menschenrechtskonventionen, die dem Schutz von Minderheiten dienen, unterzeichnet.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.