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Die Freiheit der Freien Radios

Frequenzbesitzer und Frequenzbesetzer:innen – die andere Geschichte des Radios (in Deutschland)

| Jan, Alex und Armin

Beitragradio
Foto: John Georgiou via flick,com, https://flic.kr/p/9M8hkv, CC BY-SA 2.0 DEED

Vor gut 100 Jahren (genau am 29. Oktober 1923) ging das Radio in Deutschland auf Sendung. Vor nicht allzu großem Publikum, weil seinerzeit noch kaum jemand ein Empfangsgerät besaß, das auch noch genehmigungspflichtig und zudem sehr teuer zu erwerben war. Der Rundfunk war durch das Reichspostministerium, also staatlich kontrolliert, wenn auch wegen der geringen technischen Reichweite dezentral organisiert. Das Programm bestand inhaltlich hauptsächlich aus populärer Unterhaltung, aber auch aus Hochkultur (klassische Musik), dazu noch Informationen und Bildung, sollte sich also (zunächst) hauptsächlich aus der Politik heraushalten und politisch neutral bleiben. Später nutzten die Nazis die bereits bestehende staatliche Kontrolle, um den Rundfunk für ihre Propagandazwecke umzufunktionieren. Da war das Radio bereits ein Massenmedium mit einem Millionenpublikum. Und noch heute ist Radio ungemein populär. Es ist rechtlich als sogenanntes duales Rundfunksystem mit öffentlich-rechtlichem und privat-kommerziellem Rundfunk organisiert. Aber das ist nur der offizielle Teil der Rundfunkgeschichtsschreibung. (1)
Da war aber noch etwas, was besser und ausführlicher in einer anderen Historie zu erfahren ist: 100 Jahre anderes Radio.

Auf der vom Freundeskreis Freier Radios erstellten Webseite anderesradio.de erfährt man, dass es nicht nur Frequenzbesitzer:innen gibt, sondern auch Frequenzbesetzer:innen, und dass das Radio auch genutzt werden kann, um emanzipatorischen Dissens gegen die herrschenden Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen. In der Weimarer Republik wurden bereits anfangs der 1920er Jahre Arbeiterradios als Gegenprogramm entwickelt. Kleine Sender wurden selbst gebastelt, ein Arbeiter-Radio-Bund gegründet, aber die Reichspost und das Reichsinnenministerium unterbanden jedes Radio jenseits der staatlich kontrollierten Sender, um Versuche des Staatsumsturzes zu verhindern. (2)

„100 Jahre anderes Radio“ – das Dokumentationsprojekt

Das in Kooperation mit dem Bundesverband Freier Radios (BFR) entwickelte und durchgeführte Projekt „100 Jahre anderes Radio“ dokumentiert die alternative Rundfunkgeschichtsschreibung. Anlässlich des Jubiläumsjahres wurden zahlreiche Podiumsdiskussionen in verschiedenen Städten veranstaltet und ein von fast 30 Freien Radiosendern gemeinsam produziertes Jubiläumsprogramm gesendet.

Später, Ende der 1970er Jahre, entwickelten sich in Westdeutschland Freie Radios, nicht ganz dasselbe wie die ungleich berühmteren Piratenradios auf der Nordsee, aber häufig in einem Atemzug genannt. Die Musikpirat:innen auf hoher See sendeten in den 1960er Jahren kommerzielle Musikprogramme. Die Politpirat:innen der Freien-Radio-Bewegung hingegen beabsichtigten „marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen einen größeren Zugang zu öffentlichen Debatten zu ermöglichen, sie nicht nur zuhören, sondern selbst sprechen zu lassen.“ (3)
Die dritte Periode eines anderen Rundfunks wurde durch die Abwicklung der DDR 1990 in Ostdeutschland ermöglicht. Als der Beitritt zur BRD noch nicht völlig festgezurrt war, waren viele Freiheiten möglich, die später durch die Verrechtlichung wieder rückgängig gemacht wurden. Die „Freien Radios Ostdeutschland“ (FROST) sendeten zum Teil illegal, zum Teil waren sie motiviert, den zu DDR-Zeiten beliebten Jugendsender DT64, der in dieser Zeit abgewickelt wurde, zu ersetzen. Diese kurze freie Phase beflügelte auch im vereinigten Deutschland die Freie-Radio-Szene, die sich 1993 im Bundesverband Freier Radios zusammenschloss. Was ihnen bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam ist, „ist der Grundgedanke, sich kollektiv zu organisieren, ohne Gewinnstreben als Alternative zum öffentlich-rechtlichen sowie zum privat-kommerziellen Hörfunk zu agieren und sich kritisch mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen auseinanderzusetzen.“ (anderesradio.de/rueckblick).

Die umfangreiche Dokumentation „100 Jahre anderes Radio“ beleuchtet die vielen Merkmale von Freien Radios, die für Alternativmedien allgemein charakteristisch sind, und die viele Fragen aufwirft, die auch ein anarchistisches Medienverständnis betreffen. Einige Aspekte wollen wir hier diskutieren.

Das Vergessene, Verbotene, Ungesagt sagbar machen und es verbreiten

Was für alle Alternativmedien gilt, ist auch das Motiv, freies Radio zu machen. Wenn in den herkömmlichen Medien (Zeitung, öffentlich-rechtlicher Rundfunk) über politische Aktionen von sozialen Bewegungen berichtet wird, kommen die Aktivist:innen selbst kaum zu Wort, um ihre Sicht zu schildern. Typisch für Freie Radios war, dass sie in sozialen Bewegungen verankert waren. Die freien Radiomacher:innen wollten nicht über politische Aktivist:innen berichten, sozusagen aus professioneller Sicht auf politische Aktionen, und schon gar nicht objektiv oder ausgewogen. Vielmehr waren Freie Radios Bestandteil von sozialen Bewegungen, aktionsbezogen, oft live bei Demos, radikal subjektiv, Sprachrohr und Diskussionsorgan. Die Macher:innen waren selbst aktiv in der Bewegung – Freies Radio war Aktionsradio.
Die Sender waren lokal verortet, kamen also nicht von außen, sondern waren selbst Teil des örtlichen Geschehens. Die Sendungen entstanden häufig anlassbezogen und waren zumindest vom Konzept her nicht unbedingt als dauerhaft periodisches Medienorgan angelegt. Praktisch sah das meist so aus: loslegen, ausprobieren, experimentieren, ohne Masterplan, aber um kontinuierliche Verbesserung der Produktion bemüht, technisch wie inhaltlich.
Das ist zumindest die ursprüngliche Idee und Praxis, Freies Radio zu produzieren. Aber die Bedingungen und die Ziele können sich ändern: Freie Radios, die sich dauerhaft etablieren, organisieren ihre Sendestruktur, nehmen in ihr Programm vielfältige Themen auf, kurzum: Sie werden zu einem publizistischen Projekt. Damit verlieren sie ihren politischen Charakter nicht automatisch, aber sie verändern ihn. Denn sie sind nicht mehr das Sprachrohr einer Bewegung. Sie professionalisieren sich, benötigen dauerhaft finanzielle Ressourcen, wenngleich sie nach allen bisherigen praktischen Erfahrungen auch dann noch unter ökonomisch prekären Verhältnissen arbeiten.

Radio Dreyeckland – das langlebigste Freie Radio

Das bekannteste Beispiel ist Radio Dreyeckland (RDL), das aus dem Dreiländereck Deutschland, Frankreich, Schweiz sendet. RDL entstand 1977 aus der Anti-AKW-Bewegung, damals noch unter dem Namen Radio Verte Fessenheim, aus Anlass von Aktionen gegen das elsässische Atomkraftwerk Fessenheim. Das Programm ging bald über AKW-Themen hinaus. Der Sender berichtete auch aus der Freiburger Hausbesetzer:innenszene. RDL profitierte dabei von der Grenznähe, entzog sich einige Jahre erfolgreich den deutschen Repressionsorganen und sendete ein vergleichsweise umfangreiches und regelmäßiges Programm von der französischen Seite des Rheins. Als Mitte der 1980er Jahre in Baden-Württemberg Frequenzen für privat-kommerzielle Sender zur Verfügung gestellt wurden, beteiligte sich auch RDL am Frequenzpoker. Die Beharrlichkeit des Senders trotz weiterer polizeilicher Verfolgung führte 1988 zum Erfolg, eine legale Frequenz zu bekommen. Jetzt war der Sender endgültig etabliert, aber auch in der rauen Medienwelt angekommen, weil er sich dauerhaft finanzieren musste. Damit einher ging eine gewisse „Unabhängigkeit“ von sozialen Bewegungen, aber auch eine zunehmende Abhängigkeit von den Aufsichtsbehörden (Landesmedienanstalten), wenn die Verlängerung der Frequenz ansteht oder (staatliche) Fördergelder beantragt werden. Dennoch blieb der Sender auch in der Folgezeit politisch unbequem. Erst jüngst wurden die Redaktionsräume von der Polizei durchsucht.

Legal – illegal – überhaupt nicht egal

Historisch haben die Freien Radios ihren Sendebetrieb in der Illegalität aufgenommen. Grund dafür waren die (technisch) begrenzten Frequenzen und die staatliche Furcht vor Radikalisierung sozialer Bewegungen, die auch auf deren mediale Sprachrohre (nicht nur auf Freie Radios) zielten. Besonders fürchteten die Verfolgungsbehörden das Potenzial Freier Radios als Aktionssender, bei denen sie Aktivist:innen in Massenaktionen live Informationen zur Verfügung stellten – quasi wie ein Aktionssticker, bloß ohne Smartphone und multinationalen Internetkonzern im Rücken.
Interne Diskussionen innerhalb der Freien Radioszene über die juristische Frage lassen sich in zwei entgegengesetzte Auffassungen aufteilen: Für die Illegalität sprach der Wille, unabhängig von fremdbestimmten Strukturen und spontan zu agieren, unberechenbar für staatliche Behörden zu bleiben und sich keine Gedanken über die Gesetzmäßigkeit der Inhalte machen zu müssen. Sicherlich war auch Abenteuerlust dabei, das Piratenhafte des illegalen Sendens. Dagegen sprach die permanente Gefahr, erwischt und bestraft zu werden. Deshalb konnten nur kleine Teams Radio produzieren, und beim Senden musste zumeist der Ort des Senders gewechselt werden, weil die Sendegeräte gepeilt und bei Entdeckung konfisziert wurden. Jenseits besonderer Bewegungsmomente wie etwa bei Radio Hafenstraße im Jahr 1987 gerät das Senden durch die Bedingungen der Illegalität unter immensen Druck, kostet enorme Energie und kann kaum dauerhaft durchgehalten werden.
Die Legalität ermöglicht den Aufbau von Sendestrukturen und einer nicht nur sporadisch arbeitenden Redaktion. Wer nicht polizeilich verfolgt wird und eine feste Sendefrequenz hat, kann ein größeres Publikum erreichen. Aber das legale Senden schafft auch neue Abhängigkeiten und Herausforderungen: einen Verein gründen, Geld beschaffen, Redakteur:innen rekrutieren und ausbilden, vielleicht auch ab und zu Selbstzensur.

Katz- und Maus-Spiel mit der Post und der Polizei

Das Fernmeldeanlagengesetz, das bereits in der Weimarer Republik galt und heute Telekommunikationsgesetz heißt, begründet die staatliche Fernmeldehoheit. Damit regelte der Staat die Vergabe von Frequenzen an Rundfunksender und stellte das Betreiben nicht genehmigter Sendeanlagen unter Strafe. Wer illegal sendete, wurde von der Post, die bis in die 1980er für die Überwachung der staatlichen Rundfunkhoheit zuständig war, gepeilt und der Sender in Amtshilfe von der Polizei konfisziert. Wurde auch noch der/die Redakteur:in beim Senden erwischt, drohten im Fall der Verurteilung bis zu fünf Jahre Haft. Die Freien Radios der 1970er und 1980er Jahre organisierten sich deshalb arbeitsteilig. Eine klandestine Technikgruppe übernahm das illegale Senden, ein offener Freundeskreis übernahm die Redaktions- und Öffentlichkeitsarbeit. Er nahm die Sendung auf einer Tonkassette auf. Diese wurde konspirativ in einem „toten Briefkasten“ deponiert, dort von den Techniker:innen übernommen und später gesendet. Bei Livesendungen von Veranstaltungen, Demos oder anderen Massenaktionen bildeten oft die Menge und das Auftreten der Beteiligten einen gewissen Schutz.

Zwar ist heute eine UKW-Frequenz – ob legal oder illegal – nicht mehr notwendige Bedingung, um engagiertes Radio zu machen. Als Ergänzung oder gar Alternative bieten Webradio und Podcasts mittlerweile ganz eigene Möglichkeiten (mit anderen Herausforderungen). Dass aber die Strafverfolgung seitens staatlicher Behörden deshalb nicht aufhört, zeigen zwei Beispiele: zum einen das Hamburger „Freies Sender Kombinat“ (FSK) vor 20 Jahren, zum anderen das Freiburger „Radio Dreyeckland“ (RDL) vor einem Jahr. In beiden Fällen hat die Polizei die Redaktionsräume der legalen und lizenzierten Sender wegen der Berichterstattung durchsucht, um Beweismaterial zu sichern. (4)
Mittlerweile wurde auch bekannt, dass die Behörden beim FSK zusätzlich in besonderer Weise aktiv waren: Beim Freien Radio in Hamburg moderierte und recherchierte zwischen 2003 und 2006 eine Angestellte des Verfassungsschutzes. Sie spähte unter falscher Identität Lebensverhältnisse und Arbeitsweisen der am Sender Beteiligten aus.

Radio als soziales Medium – bevor es Social Media gab

Radio ist ein faszinierendes Medium: Die Reduktion auf das Hörbare scheint zwar rückständig gegenüber einem audiovisuellen Medium wie dem Fernsehen oder der Multimedialität des Internets. Aber die Konzentration auf die Stimme, die Möglichkeit des mündlichen Erzählens ohne die Hürden des Schriftlichen, die technische Einfachheit, das alles sind Vorteile für die Sendenden und für die Hörenden.
Schon Bertolt Brecht hatte in den 1920er Jahren gefordert, dass das damals neue Medium nicht nur Inhalte (ein Programm) verbreiten, sondern ein Kommunikationsinstrument sein solle. Diese Interaktivität, die wir heute mit Social Media verbinden, war im Radio schon immer angelegt, wurde aber im Lauf der Entwicklung nie richtig entfaltet. Es sind die Freien Radios, die seit den 1970er Jahren unter sich wandelnden Bedingungen mit diesem Ideal experimentieren. Das Senden eines Programms war und ist eben nicht Selbstzweck, um den eigenen Sender dauerhaft am Laufen zu halten. Nur wenn die Hörenden selbst auch senden können, wenn die Rollen des Sendens und Hörens prinzipiell vermischt sind, also wenn kommuniziert und nicht „empfangen“ wird, verwirklichen sich die Stärken des Mediums Radio. Damit einher geht auch eine andere Form des Hörens: nicht passiv Informationen konsumieren, sondern Radiosendungen über globales wie lokales gesellschaftspolitisches Geschehen dazu nutzen, sich zu politisieren, sich zu motivieren, politisch aktiv zu werden. Typisch für die Hörgewohnheiten von Sendungen Freier Radios ist auch die kollektive Nutzung – ganz im Gegensatz zum individualistischen Streaming, zu Podcasts, die das Publikum häufig noch mehr isolieren als das herkömmliche Radiohören.

Freies Radio – Bürgerradio – offener Kanal: die gar nicht so kleinen Unterschiede

An die Seite der Freien Radios sind heutzutage weitere nicht-kommerzielle Formen des Radiomachens getreten. Auf Offenen Kanälen und im Bürgerrundfunk ist es journalistischen Laien vielerorts möglich, Sendungen zu produzieren und ausstrahlen zu lassen. (5) Auch die Graswurzelrevolution macht davon Gebrauch über das medienforum münster. (6) „Radio Graswurzelrevolution“ (7) hat keine eigene Frequenz und kann nicht kontinuierlich senden, weil ganz unterschiedliche Gruppen im Offenen Kanal Programm machen dürfen. Die Sendungen sind also vom Rahmen des Bürgerfunks abhängig und damit auch von den rundfunkpolitischen Bedingungen des Bundeslandes (hier: NRW).

Rundfunkpolitische Grundlagen

In den 1980er Jahren wurden Bundesland für Bundesland neben dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk privat-kommerzielle Sender zugelassen. Dies war im Interesse der 1982 gebildeten CDU-FDP-Regierung. Sie wollte damit ein politisches Gegengewicht zum vermeintlich linken öffentlich-rechtlichen Rundfunk („Rotfunk“!) etablieren. Es gab aber auch große politische Skepsis gegenüber den Privat-Kommerziellen. SPD und Gewerkschaften fanden sich schließlich damit ab. Die damals neu entstandenen Grünen und die außerparlamentarische Linke lehnten sie rundweg ab. In der Legalisierung Freier Radios sahen sie eine Alternative zur Kommerzialisierung. Da Rundfunkpolitik in Deutschland Ländersache ist, haben viele Bundesländer kleine nicht-kommerzielle Gegengewichte, manche Beobachter:innen dieser Entwicklung sagen „demokratische Feigenblätter“, eingerichtet – die „Bürgerradios“. In sogenannten Offenen Kanälen können Laien Sendungen für Radio und Fernsehen produzieren, die allerdings in manchen Ländern nicht auf eigenen Frequenzen, sondern stundenweise auf den Frequenzen privat-kommerzieller Sender ausgestrahlt werden. Die Offenen Kanäle unterliegen der Aufsicht der Landesmedienanstalten, die sogar oft deren Träger sind und damit auch inhaltlich mitmischen können. Wie weit die offenen Kanäle inhaltlich freie Hand bei der Programmgestaltung haben, unterscheidet sich von Fall zu Fall und vom Anspruch der Medienwerkstätten, die den offenen Kanal organisieren. Sie haben zusätzlich den gesetzlichen Auftrag, zur bürgerlichen Medienbildung beizutragen.

Freie Radios senden mittlerweile nicht mehr nur terrestrisch auf UKW-Frequenzen oder DAB+, sondern auch digital als Internetradios. Das Dortmunder Radio Nordpol (8) hat sich etwa entschieden, nicht mehr um freie Frequenzen zu kämpfen, weil ihnen der rechtliche Rahmen auf UKW zu eng ist. Es streamt sein Programm ins Internet. UKW-Empfangsgeräte bleiben bewusst außen vor. Seine Macher:innen betonen jedoch die Vorteile gegenüber den existierenden Bedingungen des Bürgerfunks: Das eigene Programm kann einigermaßen unabhängig von einer übergeordneten und die Inhalte auf Gesetzmäßigkeit überprüfenden Instanz gestaltet und gesendet werden – und das kontinuierlich. Rein rechtlich sind aber auch Webradios genehmigungspflichtig. Es sei denn, sie werden als irrelevant für die öffentliche Meinungsbildung eingestuft. Aber auch diese Einstufung muss beantragt werden. Kein Witz. Freie Webradios werden also meist unter dem juristischen Radar segeln, weil sie von den Aufsichtsbehörden als politisch unbedeutend angesehen werden. Dennoch kann sich diese scheinbar bequeme Situation schnell ändern, sobald ein Internetsender von staatlicher Seite als politisch missliebig oder gar gefährlich eingestuft wird. Die Verbreitung über das Internet ermöglicht relativ einfach die Live-Berichterstattung bei aktuellen Ereignissen, zum Beispiel von Demos. Dies ist also Aktionsradio ganz im Geist des Arbeiterradios oder der Freien Radios der 1980er Jahre. Die Sendungen sind zudem jederzeit nachhörbar und „versenden“ sich nicht wie früher. Der Preis dafür ist jedoch, dass man sich von einer Großtechnologie (Internet, Streamingdienste) abhängig macht, während die klassischen Freien Radios mit ihren selbst gebauten Sendern wirklich autonom waren.
Die heutigen Rahmenbedingungen in der Legalität haben die Praxis Freier Radios verändert: Sie sind politisch nicht mehr so radikal wie in der Hochzeit in den 1980er Jahren im Westen und Anfang der 1990er Jahre im Osten. Mit der Legalisierung geht auch eine gewisse Professionalisierung einher: Die Redakteur:innen sind nicht mehr ausschließlich Teil linker politischer Bewegungen, sondern eigenständige lokale Medienprojekte. Sie müssen sich in einer digitalisierten Medienlandschaft mit gewandelten Hörgewohnheiten zurechtfinden und diese Rahmenbedingungen mit ihren Ambitionen, Motiven und politischen Vorstellungen in Einklang bringen.
Die Herstellung von Gegenöffentlichkeit durch das Medium Radio hat sich durch die zunehmenden technischen Möglichkeiten diversifiziert. Sie ergänzen einander eher, als dass sie miteinander konkurrieren. Sinnvoll ist aber auch, sie fortwährend genauer unter die Lupe zu nehmen und immer wieder neu zu bewerten, wo sie (medien)politisch nutzen oder schaden, wo sie Energie freisetzen oder Energie fesseln.

(1) Als Beispiel kann man diese Entwicklung in der Sendung vom öffentlich-rechtlichen Deutschlandfunk am 11. Oktober 2023 nachhören
(https://www.ardaudiothek.de/episode/
100-jahre-radio/rundfunkgeschichte-100-jahre-radio-in-deutschland/
deutschlandfunk/12805891/).
(2) Eine Radiosendung von Radio Z (Freies Radio aus Nürnberg) schildert anschaulich die Anfänge des anderen Radios in der Weimarer Republik (zwischenfaelle.radio-z.net/feature/arbeiterradiobewegung).
Weitere Audio-Ausschnitte finden sich unter anderesradio.de/rueckblick/.
(3) www.radioszene.de/180860/100-jahre-anderes-radio.html
(4) Grund beim Freiburger Sender war die Berichterstattung über das Verbot eines anderen linken Mediums, nämlich der Internetplattform „Indymedia linksunten“ (https://rdl.de/Hausdurchsuchungen). Die Hausdurchsuchung beim FSK wurde Jahre später vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft (https://www.fsk-hh.org/pressemitteilung/hausdurchsuchung_bei_hamburger_radiosender_fsk_war_verfasssungswidrig).
(5) Es gibt noch mehr Formen nicht-kommerzieller Radios. Dazu zählen die Campus- oder Uni-Radios, Veranstaltungsradios oder Einrichtungsrundfunk (z. B. in Krankenhäusern oder Pflegeanstalten), die aber keinen Anspruch haben, Gegenöffentlichkeit herzustellen.
(6) Das medienforum münster wurde 1986 gegründet, um die Medienpartizipation und Medienkompetenz zu fördern. Dies geschieht u. a. durch die Bereitstellung von Produktionshilfen und Weiterbildungsangeboten für Menschen, die Beiträge für den Bürgerfunk herstellen möchten. Der Verein ist mit mehreren Redaktionen und Radio-Formaten, darunter Antenne Antifa und Radio Graswurzelrevolution, bei NRWision vertreten. https://www.muenster.org/medienforum/
(7) Die Sendungen von Radio Graswurzelrevolution werden im Bürgerfunk bei Antenne Münster ausgestrahlt. Einige Radio-Graswurzelrevolution-Sendungen sind hier nachzuhören:
https://www.nrwision.de/mediathek/sendungen/radio-graswurzelrevolution/
(8) Siehe Radio-Nordpol-Artikel in dieser GWR

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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