Topographie der Shoa in Breslau/Wrocław

| Horst Blume

Tim Buchen / Maria Luft (Hg.): Breslau / Wrocław 1933–1949. Studien zur Topographie der Shoah, Neofelis Verlag, Berlin 2023, 624 Seiten, 270 Abb. und Karten, 44 Euro, ISBN 978-3-95808-422-3

Als ich 2007 Breslau besuchte, suchte ich den in einem Außenbezirk liegenden Neuen Jüdischen Friedhof zunächst vergeblich. Weil mir sogar die Einheimischen nicht weiterhelfen konnten, wurde mir bewusst, dass auch Teilen der polnischen Bevölkerung im heutigen Wrocław die Geschichte dieses Ortes nicht bekannt ist.
Das Buch „Breslau/Wrocław 1933 – 1949. Studien zur Topographie der Shoa“ macht in 27 Beiträgen die von den Nazis zerstörten und damit im Stadtbild nicht mehr existierenden Orte jüdischen Lebens wieder sichtbar und dokumentiert die dramatische Geschichte der drittgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands.
Breslau liegt in Schlesien und war nach der NS-Ideologie eine „Grenzregion“, von der aus nach 1933 raumpolitische Forderungen gegenüber Polen artikuliert wurden. Eine besondere Rolle nahm hierbei der in Breslau stationierte Radiosender mit der grenznahen Zweigstelle in Gleiwitz ein. Während die jüdische Bevölkerung ihre Radios abgeben musste und somit aus dem Kommunikationsraum der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen wurde, errichtete Breslau als erste Stadt in Deutschland flächendeckend einhundert je fünf Meter hohe Reichslautsprechersäulen, mit denen die Menschen mit Propaganda beschallt wurden. Wenige sind heute noch erhalten, allerdings ohne erklärende Hinweistafeln.
In Breslau existierten zahlreiche unterschiedliche jüdische Vereine und gemeinnützige Einrichtungen. Dem hier besonders starken deutschpatriotischen „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ widmet dieses Buch einen eigenen Beitrag. Er weist darauf hin, dass dieser Centralverein sogar noch zwei Monate nach der NS-Machtergreifung „feierlich Verwahrung“ gegen „angebliche Sensationsberichte“ im Ausland über Ausschreitungen gegen Juden und Jüdinnen einlegte. Und sich nach Ansicht des Autors damit „zum Handlanger des nationalsozialistischen Regimes“ machte. Dieser Centralverein musste in einem schmerzhaften Prozess die folgenden Jahre erfahren, dass selbst nationalistische Anbiederung nicht vor Verfolgung und Vernichtung schützte.

Kampf um Würde bis zuletzt

Seit 1933 wurde aufgrund der weitergehenden Verbote im öffentlichen Raum die jüdische Lebenswelt immer kleiner und beengter. Ausführlich wird im Buch dargestellt, dass Jüdinnen und Juden trotzdem versuchten, ihre Würde zu bewahren, indem sie ihr Leben, so gut es ging, weiterführten. Ausgrenzungser-fahrungen bewirkten ein verstärktes Geschichtsbewusstsein. Sogar noch am 19. November 1933 war es möglich, das Jüdische Museum mit einer umfangreichen Dauerausstellung über jüdisches Leben in Schlesien zu eröffnen. Museen, Bibliotheken, Synagogen und jüdische Friedhöfe wurden zu Rückzugsräumen, in denen sie sich zunächst noch relativ geschützt aufhalten konnten. In der eigenen Wohnung fand aufgrund zunehmender Gewalttätigkeiten durch die deutsche Mehrheitsbevölkerung der größte Teil des Lebens statt, bis nur noch der „Tagebuchraum als persönliche Insel“ übrigblieb.
Da im 19. Jahrhundert die Stadt Breslau der jüdischen Bevölkerung die Integration in öffentliche Fürsorge- und Wohlfahrtssysteme verweigerte, entstanden, 
aus dem religiösen Gebot Zedaka (Verpflichtung zur Wohltätigkeit) gespeist, zahlreiche jüdische Einrichtungen. Das Buch zeichnet nach, wie durch das Zusammenwirken von gezielter wirtschaftlicher Verdrängung und Restriktion sowie direkter Verfolgung die Situation prekärer wurde. Zum einen, weil es immer mehr Hilfsbedürftige gab, zum anderen, weil ihnen die Räumlichkeiten weggenommen wurden. Die von jüdischen Stiftungen unterhaltenen Wohnhäuser für Arme standen zur Hälfte nichtjüdischen Menschen offen. Das bekannte jüdische Krankenhaus war ebenfalls für alle zugänglich und vor 1933 ein wichtiger Kontaktraum zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung, der nun wegfiel. In dem Buch werden die einzelnen Stationen dargestellt, wie das NS-Regime durch Separation und Zusammenpferchen der Jüdinnen und Juden in immer kleinere Räumlichkeiten ihre Erfassung und zukünftige Deportation vorbereitete. Einige der Verfolgten hofften noch auf eine Ausreisemöglichkeit und opferten für ihre nicht reisefähigen und kranken Verwandten Hab und Gut für Unterbringung und Verpflegung. Sie wurden alle ermordet.

Der Bahnhof als „Nicht-Ort“

In einem Beitrag schreibt Maria Luft beeindruckend, wie der Hauptbahnhof von Breslau und der Güterbahnhof bis heute ein viel zu wenig beachteter „Nicht-Ort“ zur Vorbereitung und Durchführung der Shoa blieb. Ob Urlaubsreise oder als Transitstation bei dem Weg in den Tod, der größte Eisenbahnknotenpunkt im Deutschen Reich wurde vielseitig genutzt. Für die jüdische Bevölkerung war der Bahnhof, der unter der Kontrolle der Gestapo stand, ein Ort von Angst, Erniedrigung und Tod. Ohne Schienennetz und Bahnhöfe hätten die Massenmorde in diesem Umfang nicht so schnell durchgeführt werden können. Es waren „Bahnhöfe mit angeschlossenen Gaskammern“.
Die jüdische Bevölkerung Breslaus hat an vielen Stellen durch ihre Einrichtungen das Stadtbild geprägt. Nach 1933 wurde in den neu erschienen Karten alles getilgt, was auf ihre Existenz hindeutete: Straßennamen, Krankenhäuser, Synagogen, Gebäude. Das neu präsentierte suggestive und manipulierte NS-Kartenmaterial sollte der nationalistischen Identitätsstiftung dienen. Intern nutzte der NS-Apparat allerdings Kartenmaterial von Osteuropa, in dem jüdische Siedlungsgebiete eingezeichnet waren, um die jüdische Bevölkerung zu ermorden.
Den neuen jüdischen Friedhof, der auf der Landkarte unsichtbar war, hatte ich bei meinem Besuch vor 17 Jahren erst nach längerer Suche gefunden. 1938 flüchteten während einer Verhaftungswelle Hunderte für Tage hierher, erfahre ich in dem Buch. Bis 1944 überlebten in der benachbarten Krankenstation noch einige Jüdinnen und Juden, vorläufig geschützt durch den Status der „Mischehe“, bis auch sie 1945 fast alle ermordet wurden. Die Einschusslöcher, die ich auf den Grabsteinen fand, zeugten von den heftigen Kämpfen, die noch in den letzten Wochen des Krieges um die „Festung Breslau“ geführt wurden.

Kibbuzim in Schlesien

Nur 160 von ursprünglich 20.000 Jüdinnen und Juden haben in Breslau überlebt. Von 1945 bis 1948 fand ein Bevölkerungsaustausch statt. Neben neu angesiedelten PolInnen kam aus der Sowjetunion die dorthin geflüchtete jüdische Bevölkerung nach Breslau, da sie im alten Polen auch nach 1945 oft durch antisemitische Pogrome verfolgt wurde. In Schlesien siedelten sich 220.000 Jüdinnen und Juden neu an. In Breslau entstand für wenige Jahre ein blühendes jüdisches Leben mit eigenen Zeitungen in jiddischer Sprache, Schulen, Gebetshäusern, Theatern. Die Geflüchteten aus den verschiedensten Regionen organisierten ihre Selbsthilfe in 120 jüdischen „Landsmannschaften“. Auf wirtschaftlicher Ebene entstanden in Schlesien viele Kibbuzim, allein dreizehn in Breslau. Diese kurze Blütezeit wurde ab 1949 von der Kommunistischen Partei Polens beendet und sie löste den angeblichen „institutionellen Separatismus der jüdischen Bevölkerung“ auf. Fast alle Jüdinnen und Juden Schlesiens verließen daraufhin Polen.
Dieses gut recherchierte, verdienstvolle Buch berichtet aus Sicht der Opfer facettenreich über die bisher in der Geschichtsschreibung viel zu kurz gekommene und heute nur noch rudimentär sichtbare jüdische „Erinnerungslandschaft“ im heutigen Wrocław.
Ein jüdischer Überlebender schildert im Interview-Kapitel des Buches seine bestürzende Erfahrung, wie schnell sich in der ursprünglich auch sozialdemokratisch und kommunistisch geprägten Stadt nach der Wahl 1933 ein Großteil der nichtjüdischen Bevölkerung der NS-Ideologie angepasst hat und zu offenen Feindseligkeiten übergegangen ist. Das ist auch als Warnung für heute zu verstehen.