Lesen mit Schmerzen

Oder: Über die Ukraine und eine notwendige anarchistisch-antimilitaristische Position

| Jochen Knoblauch

Gerald Grüneklee: Nur Lumpen werden überleben. Die Ukraine. Der Krieg und die antimilitaristische Perspektive. mandelbaum verlag, Berlin 2024, Reihe „kritik & utopie“, 156 Seiten, 15 Euro, ISBN 978-3-99136-509-9

Während ein Autor einem als Mensch durchaus sympathisch ist, kann es vorkommen, dass einem die Texte, die er schreibt, nicht gefallen, oder man selbst mit Vorurteilen an Texte rangeht. Ich mag keine Verrisse schreiben, eher Menschen zum Lesen anregen. Beim vorliegenden Buch „Nur Lumpen werden überleben“ hätte ich vermutlich spätestens beim sechsten Kapitel (von 19) das Buch beiseite gelegt, aber ich habe mich „durchgekämpft“ – manchmal eben mit Schmerzen (angelehnt an die Musik der „Einstürzenden Neubauten“ – „Hör mit Schmerzen“).

Es gibt also einiges zu kritisieren:

Es geht in diesem Buch fast ausschließlich um die Ukraine als einen nationalistischen, neoliberalen Staat, der mit Hilfe von Nato, EU und den USA einen Stellvertreterkrieg führt, der durch Russland – ebenfalls ein nationalistischer, neoliberaler, jedoch bereits autokratischer Staat mit Großmachtphantasien, aufoktroyiert wurde. Und alles in der Spiegelung deutscher Politik, insbesondere der Regierung und ihrer Parteien, und den Medien hier, die die Kriegsverherrlichung fast unwidersprochen mittragen. Bereits in der Einleitung verschreckt mich der Autor mit der Aussage, dass die einzigen Medien, die die Militarisierungskampagne des deutschen Verteidigungsministerium kritisieren, die „Nachdenkseiten“ und „Telepolis“ seien, die, so Grüneklee „dem ‚Querfront‘-Milieu zugerechnet werden“. Letzteres wird aber auch wieder relativiert, ebenso wie die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen, die gerne von Verschwörungstheoriker:innen und Rechtsradikalen gekapert wurden. Beim Überfliegen der 287 Anmerkungen ist allerdings zu beobachten, dass Grüneklee sich hier im Für und Wider hauptsächlich auf die Mainstream-Medien stützt, von der tagesschau, über den Spiegel bis hin zu Regionalzeitungen, während antimilitaristische Alternativ-Medien, wie etwa die Graswurzelrevolution, und die friedenspolitischen Aktivist:innen nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Mit quellenreichen Argumenten führt Grüneklee die Ukraine als ein neoliberales Projekt vor, und die Unterstützung durch den Westen, der hier meint, seine „Demokratie“ etc. verteidigen zu müssen. Selbst die Hinweise des Autors zwischendurch, dass der Aggressor Putin keinesfalls besser sei, machen die Einseitgkeit leider nicht besser. Ich hätte mir gewünscht, dass es mindestens auch ein Kapitel über die derzeitige politische Lage in Russland gegeben hätte. Auch problematisch finde ich die Darstellung des kriegsverherrlichenden Westens – allen voran der Grünen und ihrer Außenministerin Annalena Baerbock. Die Kriegspropaganda ist zweifelsohne vorhanden, aber hier habe ich das Gefühl, dass der Autor in eine Mentalität des „das darf man doch wohl noch sagen“ reinrutscht, wie die Querverweise zu den staatlichen Maßnahmen während der Corona-Pandemie, die Grüneklee als Test für eine Massenmanipulation zum (kriegerischen) Ausnahmezustand begreift. Die AfD, nicht die Grünen sind die „gefährlichste Partei im Bundestag“, auch wenn Wagenknecht letzteres behauptet. Der Abstieg der Grünen von der Friedenspartei zur Kriegstreiberin ist seit dem NATO-Angriffskrieg gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien 1999 bekannt.
Mich stört die Herangehensweise von Grüneklee, etwa in der Auseinandersetzung mit dem Sarah Wagenknecht / Alice Schwarzer-Aufruf, der mal wieder nicht zur Massen-Gegen-Bewegung wurde, wie vielleicht von den Initiatorinnen erhofft. Grüneklee setzt sich aber nicht mit dem Aufruf der beiden Frauen auseinander, sondern spricht beiden erstmal – durchaus zurecht – eine pazifistische Grundhaltung ab. Dann aber geht es mehr um die Reaktionen von politischer Seite her, die eher auf Diffamierung setzte statt auf Auseinandersetzung. Aber generell die derzeitige Streitkultur in unserer Gesellschaft und deren Verrohung wäre ein extra Thema. Weiterhin könnte ich in diverse Details eingehen – meine Notizen sind reichlich – aber dazu fehlt hier jetzt der Platz. Dass anarchistisch-antimiltaristische Argumente nicht zwingend in den Mainstream-Medien vertreten werden, kenne ich aus meiner rund 50jährigen Zugehörigkeit zur anarchistischen Bewegung zur Genüge. Da hilft auch kein Jammern.
Und jetzt das große Aber: Grüneklee ist kein Putin-Sympathisant, kein Verschwörer. Das Kapitel gegen Ende des Buches „Widerstand gegen den Krieg“ entspricht durchaus unseren Ansichten von einem sozialen, anarchistisch-antimiltaristischen Widerstand, doch deren Argumente werden ohne einen Aufstand in der Ukraine gegen die Kriegsrethorik und den Neoliberalismus den Krieg nicht beenden.
Auch das Kapitel „Nur Lumpen werden überleben“ am Anfang des Buches, ist leider nichts Neues, macht aber deutlich, dass Pazifisti:nnen, die sich gegen Krieg aussprechen, immer wieder diffamiert werden, etwa als „Lumpenpazifisten“. Pazifisti:nnen wird vorgeworfen, von der Couch aus zu agieren, wenngleich die Kriegstreiberei hier natürlich auch von der Couch aus agiert und – zynisch gesagt – auch noch beim Sterben zugesehen wird. Währenddessen kann sich der Aktienmarkt über die Gewinne von Rheinmetall und Co. die Hände reiben.
Nicht ganz klar ist mir, wen der Autor als Zielgruppe seines Buches sieht. Friedensaktivist:innen bekommen hier kaum neue Infos, wenngleich hier zahlreiche Fakten zusammengetragen wurden. Die Kriegstreiber:innen werden vermutlich Schaum vor dem Mund bekommen.
Es war ein Lesen mit Schmerzen, aber wer sich explizit mit der Ukraine beschäftigen will, sollte dieses Buch durchaus mal zur Hand nehmen.
Uns wünsche ich, dass wir mehr unsere Friedensvorschläge publizieren, statt nur negativ über die Situation zu lamentieren. Der Ukraine-Krieg kann noch lange dauern. Je nach Unterstützungswillen des Westens kann er auch schnell zu Ende gehen. Der Ausgang ist im Moment noch offen. Sorgen wir für zunehmende Kriegsmüdigkeit und Solidarität mit allen Deserteuren und Kriegsdientverweigerern.

(1) Aus: Schmerzen hören – Einstürzende Neubauten. Songwriter: Alexander Hacke / Andrew Chudy / Blixa Bargeld / F. M. Strauss / Mark Chung