In ihrer 1918 erschienenen Schrift „Die Kampfmittel der sozialen Revolution“ entwickelte die niederländische Sozialistin Henriette Roland Holst (1869-1952) mitten im Ersten Weltkrieg im Hinblick auf den revolutionären Kampf gegen den Krieg und für die Weltrevolution ein leidenschaftliches Plädoyer für den Vorrang der geistigen vor der physischen Gewalt. Dieses Plädoyer beruht auf der Analyse einer realistischen Auflösung des Dilemmas der sozialen Revolution in der Gewaltfrage. Dieses Dilemma besteht darin, dass einerseits der Kampf um eine neue Rechtsordnung, um neue politische Formen, um neue Produktions- und Eigentumsverhältnisse immer zugleich als Machtkampf geführt wird. Niemals in der Geschichte, so zeigt Henriette Roland Holst, hat eine herrschende Klasse, die in einem zum Teil generationenlangen Prozess der Enteignung und Ausbeutung von Arbeitern und Bauern zu Eigentümern der Produktionsmittel geworden war, freiwillig auf ihre Macht verzichtet, immer hat sie sich mit Gewalt an sie geklammert. Die Gewalt als Mittel der sozialrevolutionären Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, so notwendig sie also letztlich ist, bedeutet jedoch dabei zugleich, dass sich die soziale Revolution im Kampf um die Befreiung von Unterdrückung und Lohnarbeit in der Konkurrenz um die überlegene Gewalt derselben Gewaltlogik unterwerfen muss, die sie bekämpft.
„Mit der Kriegsvorbereitung“, schreibt Henriette Roland Holst, „verhält es sich nicht anders als mit dem Krieg selbst“. Weder die Art der Kriegführung noch die Ausdehnung des Kriegsgebietes können von den Krieg führenden Parteien bestimmt werden, beides wird ihnen von der militärischen Notwendigkeit aufgezwungen. In ihrer Gegenüberstellung der imperialistischen Gewalt (Kapitel 5) und der Gewalt in der proletarischen Revolution (Kapitel 6) zeigt Henriette Roland Holst in diesem Sinne eindrucksvoll, warum Gewalt, so sehr sie auch der sozialrevolutionären Umwälzung aufgezwungen wird, kein vorrangiges Mittel der sozialen Revolution sein kann.
Die Auflösung des Dilemmas in der Gewaltfrage sieht Henriette Roland Holst in der geistigen Gewalt, die in der Massenbewegung von der Massendemonstration zum Massenstreik als zentrales Mittel der sozialen Revolution entwickelt werden muss.
Die Räteorganisation als die entscheidende Organisationsform der selbständigen Klassenbewegung, die dem Proletariat letztlich den bewussten Einsatz seiner Klassenkräfte ermöglicht, erwähnt sie in ihrer Schrift nur am Rande. In ihrer Analyse gipfelt die notwendige Entwicklung der geistigen Gewalt im Massenstreik. Dieser Mangel ihrer Analyse schmälert jedoch nicht die Bedeutung des historischen Werkes von Henriette Roland Holst im Sinne ihrer dialektischen Auflösung des Widerspruchs in der Gewaltfrage.
Im Juli 1918 war Henriette Roland Holst wie die meisten Marxist*innen in Europa eine glühende Anhängerin der bolschewistischen Revolution, die gerade vorgeführt hatte, dass der Massenkampf nicht im Gegensatz zum bewaffneten Aufstand steht, sondern in einem von Arbeiter- und Soldatenräten organisierten Aufstand gipfelt. Dass sich das Wirtschaftsprogramm der bolschewistischen Partei unter Lenin mehr an Rudolf Hilferding als an Marx und Engels orientierte, war Henriette Roland Holst sicher nicht bewusst. Für sie wie für die meisten ihrer marxistischen Genossen war es Aufgabe des Staates, die Wirtschaft zu organisieren, eine Vorstellung, der Anton Pannekoek schon 1911 eine Absage erteilte, als er schrieb: „Mit dem Umschlag des Charakters der Arbeit schlägt auch die Organisation der Verwaltung um. An die Stelle der Zentralisation tritt Dezentralisation, an die Stelle des Fabrikdespotismus tritt die Selbstverwaltung.“ (1)
Demgegenüber waren für Henriette Roland Holst noch 1918 die „revolutionäre Entschlossenheit der Vorhut und die Disziplin des gesamten Proletariats“ im Sinne der führenden Rolle der Partei vorbehaltlos Garanten der sozialen Revolution. Der Einwand, den Rosa Luxemburg im selben Jahr in ihren Gefängnisaufzeichnungen festhielt, dass mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen muss, war für Henriette Roland Holst 1918 nicht präsent. Allein im Kult der Gewalt sah sie bereits die Gefahr der Entartung der russischen Revolution.
Während Pannekoek, dem Henriette Roland Holst ihre Schrift gewidmet hatte, Mitte der zwanziger Jahre zusammen mit der Gruppe Internationaler Kommunisten die Kritik der politischen Ökonomie des Bolschewismus und die damit verbundene Kritik der führenden Rolle der Partei entwickelte, fiel Roland Holst aus Enttäuschung über die Gewalt unter dem Bolschewismus hinter ihre dialektische Analyse der Gewaltfrage zurück auf die moralisch religiöse Verurteilung der Gewalt. 1927 trat sie aus der Kommunistischen Partei aus und kehrte schließlich nicht nur dem Bolschewismus, sondern auch dem Marxismus den Rücken. Dessen ungeachtet verbleibt ihre Schrift „Die Kampfmittel der sozialen Revolution“ ein auch heute noch lesenswertes sozialrevolutionäres Werk, ein leidenschaftliches und argumentativ überzeugendes Plädoyer für den Vorrang der geistigen vor der physischen Gewalt.
(1) A. Pannekoek, Die Abschaffung des Eigentums, des Staates und der Religion, Vorträge gehalten im Oktober 1911 in Stuttgart, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1911/10/abschaffung.htm