Das Vergessen ist keine Option

Erworbenes Wissen und notwendiges Tun für Gegenwart und Zukunft. Berneckers „Geschichte und Erinnerungskultur“

| Wolfgang Haug

Walther L. Bernecker: Geschichte und Erinnerungskultur. Spaniens anhaltender Deutungskampf um Vergangenheit und Gegenwart, Reihe „Auf den Punkt“, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2023, 78 Seiten, 10,90 Euro, ISBN 978-3-939045-51-9

Nimmt man eine Recherche- und Vorbereitungszeit von zwei Jahren für eine Buchveröffentlichung an, dann geht Walter L. Berneckers Beschäftigung mit der Erinnerungskultur Spaniens inzwischen ins 20. Jahr. (1)
Eine Obsession oder die Einsicht in eine Notwendigkeit? Die aktuelle Diskussion um die AfD und die Remigrationspläne zwingt aktuell zur Einsicht in die Notwendigkeit. Hört man sich die Reden bei den „Nie wieder ist jetzt“-Demos an, dann sind die beeindruckendsten Beiträge diejenigen, denen es gelingt, einen Mosaikstein aus der Vergangenheit hervorzuzerren, der zeigt, wohin denn ein „Wieder“ führen würde. Etwa wenn die jüdische Professorin aufzeigt wieviele Mitbürger*innen an einem Tag in den Zügen aus einer Stadt für immer verschwanden oder der Vertreter der Behindertenverbände daran erinnert, dass die ersten 28 behinderten Menschen, die 1939 im württembergischen Grafeneck umgebracht wurden, aus Bayern angekarrt wurden. Die Organisatoren der mörderischen T-4-Aktion handelten schnell.
1933, kaum an der Macht, handelten die Nazis sofort, der Polizeiapparat unter Göring wurde zügig von demokratisch orientierten Beamt*innen gesäubert. Historische Erinnerungsarbeit, die den baden-württembergischen AfD-Vorsitzenden dazu veranlasst, zu glauben, dass ein AfD-Innenminister sofort die Beobachtung seiner Partei durch den Verfassungsschutz beenden und stattdessen die Grüne Jugend ins Visier nehmen würde. Vergessen die ehemalige Forderung den Verfassungsschutz abzuschaffen! Nun, kurz vor der erwarteten Machtausübung, wird er bereits als ganz brauchbar eingeschätzt, dienstbeflissen den eigenen Wünschen nachzukommen. Ob er dabei falsch liegt, darf bezweifelt werden, schließlich stand einst ein Herr Gehlen Pate.
Im 2020 wieder aufgelegten Buch „Kampf der Erinnerungen“ beschreiben Bernecker und Sören Brinkmann die verschiedenen Phasen der Erinnerungsarbeit in Spanien nach dem siegreichen Putsch Francos bis ins Jahr 2004. Berneckers neue Broschüre „Geschichte und Erinnerungskultur“ knüpft daran an und endet 2023 mit einem Ausblick, der prognostiziert, dass die Auseinandersetzungen weitergehen werden. „Der Kampf um die Erinnerung bleibt politisiert und wird die spanische Gesellschaft noch lange spalten.“ (S.68)
Kehren wir mit Berneckers fundiertem Wissen über den Spanischen Bürgerkrieg und seinen Organisationen zur tiefgreifenden Spaltung der Gesellschaft zurück. Mit dem Sieg des Franco-Faschismus 1939 in Spanien wurde die andere Hälfte der Gesellschaft völlig negiert, deren Geschichte sollte es nicht mehr geben und niemand sollte sich mehr daran erinnern, was z.B. die Erfahrungen der „Sozialen Revolution“ gebracht hatten. Der ultranationalistisch-klerikale Staat schuf seine Heldenverehrung, neue Rituale und eliminierte den anderen Teil der Gesellschaft durch Anpassungsdruck, Zwangsarbeit, Vereinnahmung, Massenerschießungen, Todesurteile und Kerker. Wer sich die Vielzahl staatlicher Repressalien zur Unterdrückung menschlicher Freiheit vergegenwärtigen will, findet in dem erstmals 2006 erschienenen Buch eine ausführlich recherchierte Sammlung über die Möglichkeiten eines faschistischen Regimes. Da totalitäre Herrschaft jedoch nicht ewig mit Repression gesichert werden kann, geht es im Anschluss um die Eroberung der Köpfe, um die Deutungshoheit über die vergangenen und zukünftigen Ereignisse. Ausführlich beschreiben die Autoren, wie sich der El Caudillo selbst inszenierte, welche Mythen und Geschichtsklitterungen wieder und wieder erzählt wurden, bis hin zum ungeniert verkündeten „Neuen Festkalender der Sieger“.
Was lange funktionierte, das begann mit den Nachwehen der weltweiten Jugendbewegung in den 1970er Jahren auch in Spanien zu bröckeln. Nach Francos Tod im November 1975 schien kurzzeitig alles möglich. Es war zu erleben, wie vielfältig eine junge Generation sich 1976 auf den Weg machte und 1977 die Straßen beherrschte, um alle unterdrückten Ideen und politischen Strömungen zu diskutieren und damit zu experimentieren. Initiativen wurden gestartet, Gewerkschaften und Organisationen entstanden neu, das Leben verlagerte sich auf die öffentlichen Plätze, auf Spontandemos und Straßencafés und der Anspruch setzte sich durch, das eigene Leben zu verändern, von Opus Dei zur Anarchie oder wenigstens zum Trotzkismus, überall war eine unglaubliche Kraft zu spüren. 600.000 Menschen nahmen vom 22. bis 25. Juli 1977 am internationalen anarchistischen Kongress Jornades Llibertàries Internacionals in Barcelona teil. Aber wer meinte, der Prozess gehe weiter, war fassungslos, dass schon 1978 fast nichts mehr davon zu finden war.
Die Transition hatte Einkehr gehalten. Die Forderung nach Amnestie aller politischen Verbrechen betraf und beruhigte die Mehrheit auf beiden Seiten der Gesellschaft, zumal keine Totalamnestie für politische Gewalttaten umgesetzt wurde, die vielleicht den ein oder anderen Widerspruch provoziert hätte. Verzeihen, Vergeben, Vergessen sollte die Gesellschaft versöhnen. Der Pakt von Moncloa schuf 1977 die wirtschaftspolitischen Eckdaten, um radikale Gewerkschaften am Aufschwung zu hindern. Die Bereitschaft, sich damit zufrieden zu geben, war groß. Aufgeschobene große Reformen, beruhigende kleine Reformen, erste Zugeständnisse bei regionalen Autonomierechten, wechselnde Regierungen taten das Übrige, eine Auseinandersetzung mit dem Geschehenen abzuwürgen. Damit war eine Verfolgung von Tätern genauso im Keim erstickt wie eine Wiedergutmachung für die Opfer.
Und sollten doch Fragen aufkommen, dienten kleine Ausnahmen als Beruhigung, dass doch alles irgendwie gut würde. 1977 erreichten Historiker*innen die Öffnung der Archive zur Zerstörung Guernicas durch die deutsche Luftwaffe; die Sichtung ergab 1978 eine Mitschuld Francos. Immerhin kam diese Information in der breiten Öffentlichkeit an, aber dies ließ nicht darauf schließen, dass sich eine wirklich tiefgreifende veränderte Sichtweise in der spanischen Gesellschaft durchsetzte. Das bewiesen die traditionellen Siegesfeiern der Franqisten, die weiterhin organisiert werden konnten. Bernecker stellte die Frage, weshalb das Verschweigen funktionierte, trotz der Tatsache, dass noch viele Zeitzeug*innen lebten? Er beantwortet sie mit der Angst der Verliererseite vor einem Wiederaufleben der Repressionen und der Enttäuschung über die ausgebliebenen Reformen. Der Historiker stellt eine um sich greifende Entpolitisierung fest. Im Nachwort zur großen Untersuchung von 2006 halten die beiden Autoren fest, dass im Jahr 2000 86% der Befragten stolz auf die Transition waren, dass eine Demokratie ohne Vergangenheitsbewältigung nicht nur akzeptiert, sondern begrüßt wurde.
Das Ende der Transition kam mit dem Wahlsieg der rechten Partido Popular 1996. Jetzt wurden die kleinen Veränderungen unter den sozialistisch geführten Regierungen in Frage gestellt. Und der Kampf um die Deutungshoheit der eigenen Geschichte nahm von Seiten der Nationalisten neue Fahrt auf. Erste Stimmen von Demokrat*innen ließen die beiden Autoren nicht unbeeindruckt: „Ist die Wiedergewinnung der historischen Erinnerung (… ) womöglich sogar kontraproduktiv, insofern sie die derzeitige politische Konfrontation zusätzlich anheizt und so auch die Spaltung der Gesellschaft befördert?“ (S.364) Eine vorsichtige Rettung für die Erinnerungsarbeit suchten beide Autoren in der Tatsache, dass Exhumierungen in einem Dorf, die Bewohner*innen anders zurücklassen. Diese Beobachtung, dass Wissen verändert, deutet aber an, um was es geht und gehen muss, die Wahrnehmung der Stärke von Erinnerungsarbeit.
Die neue Broschüre „Geschichte und Erinnerungskultur“ greift die Themen bruchlos wieder auf. Auf den ersten 32 Seiten erfahren Leser*innen, die das erste Buch kennen, nichts Neues. Auf den folgenden 36 Seiten versucht Bernecker die Analyse der Erinnerungsarbeit in Spanien bis in die 2020er Jahr fortzuschreiben. Er beschreibt die Regionalisierung, greift die endlich diskutierten Verbrechen an den „gestohlenen Kleinkindern“ auf, ein Trauma, dem heute ukrainische Kinder ausgesetzt sind. Der lange verzögerte Weg zu einem neuen „Gesetz zur demokratischen Erinnerung“ hat die Polarisierung der spanischen Gesellschaft zwischen rechts/nationalistisch und links/sozialistisch/regionalistisch wieder verstärkt. Wobei angesichts der weltweiten Entwicklungen in allen Demokratien die Frage zu stellen ist, wieviele spanische und wieviele europäische und ideologische Anteile die Spaltung der Gesellschaft mitverursachen. Letztlich wurde das Gesetz am 19.10.2022 verabschiedet und enthält die richtige Prämisse: „Das Vergessen ist keine Option für eine Demokratie.“ (S.56) Bernecker schließt seine neue Arbeit mit einer Kritik an der Mythisierung der spanischen Geschichte durch die konservativen und nationalistischen Parteien und sieht die Erinnerungsarbeit der Zukunft direkt abhängig vom jeweiligen Wahlausgang.
Was mir zu kurz kommt, ist eine explizite Analyse, dass Erinnerungsarbeit von allen jeweils an der gesellschaftlichen Macht befindlichen Regierungen instrumentalisiert wird. Egal ob von rechts oder von links, jede Regierung versucht aus ihrer Machtposition heraus, Gelder und politische Narrative in die gewünschte Richtung zu verschieben. Seine ausführlichen Analysen sind lesenswert und enthalten viel Wissenswertes. Trotzdem klebt gerade durch seine Schritt für Schritt vorgehende historische Aufarbeitung der gesellschaftlichen Verhältnisse die Erinnerungsarbeit an den jeweiligen politisch einflussreichen Narrativen und scheint keine eigene Kraft entwickeln zu können. Damit macht er Erinnerungsarbeit zum Spielball der Kräfte. Immer mal wieder scheint im Text durch, dass die Polarisierung der Gesellschaft bedauert wird.
Weshalb die Polarisierungen weltweit entstehen und Gewicht bekommen, lohnt sich zu untersuchen und zu verstehen, um die News gegen die Fake News zu verteidigen. Erinnerungskultur arbeitet mit belegten historischen Fakten, sie hat eine eigene Stärke, unabhängig von politischer Vereinnahmung. Eine Analyse muss das Ziel haben, die Vereinnahmungen zu entlarven, das gelingt Bernecker nur bei der Vereinnahmung von rechts. Es kann nicht um eine Erinnerungskultur gehen, die abhängig ist von rechts oder links, sondern um den Kampf, Wahrheiten und Geschehnisse öffentlich zu verteidigen, zu erforschen, abzusichern und zu verbreiten. Auch und gerade wenn sie unbequem sind. In diesem Sinn sind Stolpersteine in Deutschland wichtige Mahnungen an Verbrechen an der Menschlichkeit, in Deutschland ausgeübt von Deutschen. Stolpersteine in Spanien, die in erster Linie nur an die in die KZs – besonders zahlreich nach Mauthausen – verschleppten Menschen erinnern, haben noch nicht dieselbe Qualität, solange sie nicht an die Opfer in Spanien von Spaniern erinnern.
Wenn es bei der Erinnerungskultur deshalb ausschließlich um historische Fakten gehen muss, dann entsteht die Frage, wie diese an die Menschen kommen in Zeiten, in denen computergesteuerte Algorithmen die Handys mit manipulierenden YouTube-Clips überschwemmen.

(1) Bernecker, Walther L.; Brinkmann, Sören: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2006, ISBN 3-939045-02-0. In der 5. Auflage hat der Verlag Graswurzelrevolution diesen Band 2020 neu aufgelegt. ISBN 978-3-939045-16-8
2007 erschien Bernecker, Walther L.; Maihold, Günther (Hrsg.): España: del consenso a la polarización. Cambios en la democracia española. Madrid 2007, ISBN 978-84-8489-304-2
2023 folgte nun Walter L. Berneckers „Geschichte und Erinnerungskultur. Spaniens anhaltender Deutungskampf um Vergangenheit und Gegenwart“.