Der libertäre Antifaschist Paul Wulf starb 78-jährig am 03. Juli 1999 (s. GWR 243). Viele FreundInnen von Paul lernten sich erst während seiner Beisetzung kennen. Daraus bildete sich ein Kreis, der die hier geschilderte Gedächtnisveranstaltung vorbereitete. Mitveranstalter war u.a. die GWR-Redaktion Münster.
Ca. 250 BesucherInnen hören am 5.11. der Gedächtnisveranstaltung in der ESG-Aula und dem Café Die Weltbühne zu. Das Publikum bildet eine seltene Mischung: Exotische Gestalten, wohlsituierte Ehepaare, eine Familie mit kleinen Kindern, StudentInnen, Angestellte, Selbständige, Frauen und Männer im sog. besten Alter, RentnerInnen, Unterschicht, Oberschicht, Intellektuelle, ArbeiterInnen. Menschen, die nur ein besonderes Ereignis zusammenführen kann.
Werner Lindemann eröffnet die Veranstaltung. Vor Jahren hatte er Paul eine Ausstellung ermöglicht und sich dafür eingesetzt, daß ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde. Jetzt schildert er, worum es an diesem Abend geht. Es solle keine Trauerveranstaltung sein sondern ein Fest. Es sei etwas sehr erfreuliches, daß sich so viele FreundInnen von Paul zusammengefunden hätten, obgleich sie sich untereinander oft fremd seien. Es zeige sich, daß vieles vom Wirken Pauls noch sehr lebendig sei, das die Versammelten offenbar nicht in Vergessenheit geraten lassen wollten. Dann erläutert er die Programmpunkte des Abends.
Plötzlich der leise und intensive Klang einer Flöte. Das Duo Contraviento kommt in die Au-la. Die melancholischen Klänge der Quena, einem indianischen Instrument aus Südamerika, lassen die Anwesenden verstummen. Isabel Lipthay beginnt zu singen, das aus Ecuador stammende Lied: „Ich möchte, daß ihr mich begrabt in einem dunklen, frischen Krug aus Lehm.“ Kaum eineR der Anwesenden dürfte den Text verstanden haben, aber jedeR spürt, daß dieses Lied Trauer, Respekt und Liebe zum Ausdruck bringt.
Die Musik verstummt, Michael Holm, ein bekannter Theaterschauspieler, trägt Texte von Paul Wulf und von Erich Mühsam vor. Er lässt Pauls biographische Notizen lebendig werden und gibt zu Protokoll, wovon hier nur drei Passagen wiedergegeben werden sollen:
Passage 1: „Mit dem Jahr 1935 traten die Nürnberger Gesetze in Kraft, was sich auf die Tätigkeit des Pflegeperson auswirkte. Die Schwestern des Vincentiner-Ordens wurden von einer Welle der Diskriminierung erfaßt: den Sittlichkeitsprozessen. 1935, es kann auch 1936 gewesen sein, erschien ein berüchtigtes SS-Kommando von Arolsen, das uns Kinder fragte, ob die Schwestern uns sittlich mißbraucht hätten. Aber die Anwesenheit der SS-Banditen war nur von kurzer Dauer, was ich den zwei Ordensschwestern hoch anrechnen muß. Sie sagten nämlich, daß sie hier nichts zu suchen hätten und verwiesen sie des Hauses. (…) Als Vorbote der Euthanasie lief 1936 eine Aktion. Ich kann mich erinnern, daß einige Anstaltsinsassen durch Spritzen umgebracht wurden. Einer der Verantwortlichen war Dr. Kaldewey, der im Anschluß an diese Aktion die Gehirne der Getöteten zur Untersuchung nach Warstein brachte. Der dortige Arzt, Dr. Petermann, lehnte es jedoch ab, sich an dieser Leichenschändung zu beteiligen. So wußten wir Kinder schon frühzeitig, wohin die Reise ging und daß unser Leben in Gefahr war.“
Passage 2: „Der entscheidende Monat war der November 1937. Meine Eltern stellten einen Antrag auf Entlassung aus dem St. Johannisstift in Niedermarsberg, was aber ohne ein Erbgesundheitsverfahren nicht möglich war. Im Januar 1938 wurde von dem damaligen Erbgesundheitsgericht Arnsberg festgestellt, daß ich angeblich schwachsinnig sei. So nahm es seinen Lauf, daß ich im März 1938 im Landeskrankenhaus Paderborn zwangssterilisiert wurde. (…) Bis heute kann ich diese Leute nicht als Ärzte bezeichnen, höchstens als Gesundheitsinspektoren oder Rassezüchter.“
Passage 3: „Viel Zeit ist seit 1945 vergangen, seit der Niederlage des nationalsozialistischen Regimes. Viele für mich grausame Jahre sind vergangen, in denen ich als in der Jugend Verfolgter ohne Rechtsanspruch in diesem Rechtsstaat übergangen worden bin., Mit sechzehneinhalb Jahren wurde ich sterilisiert. Seit 1949 führe ich gegen diesen Rechtsstaat Prozesse, um meine Ansprüche geltend zu machen. Dabei mußte ich in all den Jahren erkennen, daß dieser Rechtsstaat in seinem Rechtsverständnis alles daran setzte, den Kreis der Sterilisationsgeschädigten auszuschließen – sei es durch die Ausrede, auch in anderen Ländern gebe es Sterilisationsgesetze, oder finanzielle Probleme würden eine Entschädigung unmöglich machen.
Aus diesen Gründen begann ich mir Gedanken zu machen, wer die Drahtzieher in unseren Rechtsinstitutionen waren, die eine Entschädigung dieser Opfer verunmöglichen. Die ehemaligen Sonderrichter der Erbgesundheitsgesetze trugen in der Nachkriegsära dazu bei, Nazi-Gesetze für rechtskräftig zu erklären. Sonderbare Vertreter waren in Gesundheitsdezernaten anzutreffen, die alles daran setzten, die Zwangssterilisierten auszuschließen. So unterstand das Gesundheitsdezernat am Oberfinanzpräsidium Münster einem Amtsrichter a. D., der in Berlin Erbgesundheitsrichter gewesen war. Der verstorbene Arzt Dr. Martini, der früher Leiter der vertrauensärztlichen Stelle der Landesversicherungsanstalt war, bemerkte mir gegenüber, als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß mir eine Entschädigung zustehe: ‚Solange ich lebe, werden Sie keine Entschädigung bekommen!‘ „
Nach dem autobiographischen Bericht spielt und singt Pit Budde (Cochise) ein Lied, eine Ballade „für das Volk der Dichter und Henker“. Das Lied „Der Henker“ erzählt die Geschichte der Ausflüchte, mit denen Täter, Mittäter, Henker sich zu rechtfertigen suchen. Es erzählt die Geschichten vom Befehlsnotstand, vom armen, kleinen Schräubchen in einer riesigen Maschinerie, von Pflicht und Gehorsam. – Was tun mit den Henkern, ohne sich von blinder Rache leiten zu lassen?
Es folgt der Vortrag von Ernst Klee. Er hat sich wie nur wenige mit der Geschichte der deutschen Psychiatrie vor und während der Nazi-Zeit beschäftigt und die „Euthanasie“-Verbrechen erforscht. Er stellt fest, daß die deutsche Psychiatrie nicht von den Nazis mißbraucht wurde: „die deutsche Psychiatrie brauchte die Nazis.“ Mit den Nazis wurde es ihr möglich, das umzusetzen, was sie schon seit Jahrzehnten gefordert hatte. Mit den Nazis waren jene an die Macht gekommen, die gewillt waren, „Rassenhygiene“ und „Erbpflege“ zu verwirklichen. Gesellschaftliche Gruppen wie z. B. die Kirchen und die Gewerkschaften hatten ihre MärtyrerInnen, hinter denen sie später ihre Schuld verstecken konnten; die deutsche Psychiatrie hatte keine MärtyrerInnen.
Es ist sehr still, während Klee das System der „Euthanasie“-Verbrechen und ihrer wissenschaftlichen Legitimierung erklärt. Und diese endeten 1945 nicht; noch bis 1947/48 ging das Morden in den Anstalten weiter. Das Personal setzte in der BRD seine Karrieren fort.
Klee beantwortet die Frage, was das für eine Stadt gewesen sei, in der Paul Wulf nach dem Kriege lebte, mit welchen Menschen er hier u. a. umgeben war. Es folgt eine nicht enden wollende Liste von Leuten, die bei den Nazis als Rasseforscher und -hygieniker, als Selektierer und „Euthanasie“-Verbrecher tätig waren und dann in Münster bei Behörden oder an der Uni unterkamen. Viele Opfer der Nazis sahen sich später mit denselben Gutachtern konfrontiert und mußten sich ein zweites Mal demütigen lassen.
Dann zeigt der Dokumentarfilmer Robert Krieg den beeindruckenden WDR-Film „Die nicht vorhersehbare Spätentwicklung des Paul W.“ (1).
Drei Szenen seien hier wiedergegeben.
Szene 1: Paul Wulf trifft nach Jahren wieder auf einen Mann, den er aus seiner Zeit in den 30er Jahren in Niedermarsberg kennt. Der Mann wohnt immer noch in dem Heim. Im Gespräch stellt sich heraus, daß beide zwangssterilisiert wurden. Paul fragt den Mann, was er gegen dieses Unrecht unternommen habe. Nichts habe er unternommen, antwortet der Mann, er habe keine Angehörigen und Freunde draußen, und er alleine habe nichts machen können. Die beiden schauen sich an. Paul schweigt und widerspricht nicht. Er weiß, wie gering die Chancen sind und wie aussichtslos ein Kampf, wenn man sozial isoliert ist.
Szene 2: Die Mutter von Paul erzählt mit stockender Stimme und Unterbrechungen von der Zwangssituation, in die sie geraten ist, als sie Paul aus dem Heim rausholen wollte. Nur wenn ihr Sohn zuvor sterilisiert würde, könne er entlassen werden, sei ihr gesagt worden. Um ihren Sohn vor der drohenden Ermordung zu bewahren, habe sie ja gesagt zu seiner Sterilisation. Während sie dies erzählt, sitzt Paul ihr stumm gegenüber. Er kennt die Geschichte. – Ich weiß, daß Paul seine Mutter sehr geliebt hat. Vielleicht hat ihn die Infamie, mit der ihr die Zustimmung zu dem Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte abgepreßt wurde, tiefer verletzt als die Sterilisation selbst. Ihr Vorwürfe zu machen liegt ihm fern.
Szene 3: Paul zeigt eine seiner Ausstellungen. Wenn er sich den Besuchern für weitere Erklärungen anbietet, fragen diese: „Wer sind sie denn?“ Daß er der Ausstellungsmacher ist, übersteigt deren Horizont. „Fassungslos steht die etwa 65jährige Frau, ganz in Schwarz gekleidet, adrettes Hütchen auf dem Haar, vor der Bildtafel und liest immer wieder den Text. ‚Also das kann ich nicht glauben, daß Dr. Schlaaf so etwas gemacht hat. – Ich bin seit dreißig Jahren Presbyterin, mein Vater war Mitglied der Bekennenden Kirche, ich habe zwanzig Jahre lang bei Dr. Schlaaf im Haushalt gearbeitet, also da hätte ich ja etwas merken müssen, wenn der so etwas gemacht hätte!‘ Was sie nicht glauben kann, hängt als Faksimile eines amtlichen Dokuments vor ihr: die genau geführte Liste der Zwangssterilisierten des Evangelischen Krankenhauses in Lippstadt, dem ihr Brötchengeber als Chefarzt vorstand. Die medizinischen Verbrechen, die unter dem Deckmantel der Erbgesundheitslehre begangen wurden, erzeugen trotz des Wissens um den nationalsozialistischen Holocaust eine besondere Fassungslosigkeit und Ungläubigkeit.“ (zit. aus d. Dokumentation (2) , S. 7)
Die Veranstaltung läuft nicht linear. Es wird in kleinen Gruppen diskutiert; es gibt Livemusikbeiträge, Texte gegen den Krieg, gegen die Klerisei, gegen das Philistertum werden vorgetragen. Es wird gegessen und getrunken. Junge Leute von der Volxküche und der anarchosyndikalistischen Freien ArbeiterInnen Union (FAU) haben ein wunderschönes Büfett vorbereitet und Getränkekisten herangeschafft; zum Selbstkostenpreis bewirten sie die Gäste. TeilnehmerInnen schildern über das offene Mikrophon ihre Erinnerungen an Paul. Ein langjähriger Freund von Paul, Volker Pade, der sich jetzt um die Sichtung und Aufbereitung seines Nachlasses kümmert, dankt Agathe, Pauls Schwester. Sie ist auf einen Gehstock angewiesen, trotzdem hat sie es sich nicht nehmen lassen, zur Gedächtnisveranstaltung ihres Bruders zu kommen. Volker wendet sich direkt an sie und dankt ihr für ihre praktische Solidarität, für ihre alltägliche Sorge, durch die sie Paul seine antifaschistische Arbeit erst ermöglicht habe. Allzu oft werde ihre Leistung übersehen; alle Anwesenden seien ihr verpflichtet.
Gegen Ende der Veranstaltung komme ich mit einer älteren Frau ins Gespräch. Mit Freunden aus Dortmund sei sie angereist, um an dieser Veranstaltung teilzunehmen, erzählt sie mir. Sie sei Jüdin und als Kind ins KZ Majdanek gekommen. Alle, die ihr Schicksal hätten bezeugen können, seien dort umgebracht worden. Nach dem Ende des Nationalsozialismus habe sie ähnliches erlebt wie Paul. Dann schaut sie mich an mit einem Blick voller Sorge, Angst und Hoffnung: „Noch nie in meinem ganzen Leben bin ich auf einer Versammlung mit so vielen Menschen gewesen, wo ich das sichere Gefühl hatte, jeder von ihnen ist wirklich ein Antifaschist.“
(1) Bestelladresse: World TV, Constantinstr. 80, 50679 Köln. Videofilm halbzoll s/w, Länge ca. 40 Min., 20 DM. Realisation: Robert Krieg, Dagmar Wünneberg, Paul Wulf, 1979.
(2) Paul Wulf, ein Antifaschist und Freidenker, Nov. '99, 52 DIN A4 S., 6 DM plus 2 DM Porto, bei GWR, Breul 43, 48143 Münster
Zum zweiten Todestag (03.07.2001) soll ein Buch zum Leben Paul Wulfs erscheinen. Kontakt/Vorbestellungen an: Verlag Klemm & Oelschläger, Pappelauer Weg 15, 89077 Ulm