"Damit der Globalismus funktioniert, darf Amerika sich nicht scheuen, als die allmächtige Supermacht aufzutreten, die es ist. Die unsichtbare Hand des Marktes wird nie ohne eine unsichtbare Faust funktionieren. McDonald kann nicht ohne den F-15-Konstrukteur McDonell Douglas florieren. Und die unsichtbare Faust, die dafür sorgt, daß die Welt für Silicon Valley- Technologien sicher ist, heißt Heer, Luftwaffe, Marine und Marineinfanterie der USA", meint Thomas Friedmann, Berater von US-Außenministerin Madeleine Albright (1).
Getreu dieser sehr offenen und im wahrsten Sinne des Wortes schonungslosen außenpolitischen „Leitlinie“ zeigen die USA und Großbritannien seit vielen Jahren im Irak ihre unsichtbaren „sichtbaren Fäuste“. Das mehr als einjährige, fast ununterbrochene Bombardement seit Ende Dezember 1998 kostet allein die USA nach Angaben des Pentagon täglich rund 2,6 Millionen US-Dollar (2).
Bis Herbst 1999 waren bereits mindestens 1400 Bomben und Raketen (manche Quellen nennen sehr viel höhere Zahlen) eingesetzt worden, um – nach US-Angaben – angeblich 375 militärische Ziele zu zerstören. Seit Herbst 1999 setzt die US Air-Force dabei erstmals auch lasergesteuerte Betonbomben ein, die die Schäden unter der Zivilbevölkerung geringer halten sollen. Laut Baghdad Observer wurden bis November 1999 seit dem 4-Tagebombardement vom 16. bis 19.12.98 (Operation Wüstenfuchs) 187 Menschen getötet und 494 verletzt. Ein dem Autor vorliegender UN Security Bericht beziffert die zivilen Schäden und Zerstörungen zwischen Dezember 1998 und Mai 1999 auf 73 Tote, 257 Verletzte und 60 zerstörte Häuser.
Der Zermürbungskrieg im Irak stellt für die kriegführenden angelsächsischen Länder zunehmend ein Problem dar, da er das Scheitern jeglicher rational verantwortbarer Politik bedeutet. Genau dieses aber scheuen Bill Clinton und Tony Blair sich selbst und der Öffentlichkeit offen einzugestehen. „Saddam hat sicherlich seine Fähigkeiten zu Überleben unter Beweis gestellt“, meinte Peter Felstead in der Fachzeitschrift „Janes’s Intelligence Review“. Außer der Potenzierung der Leiden der Zivilbevölkerung haben die andauernden Angriffe bisher keine weiteren Ergebnisse gebracht.
Das Schweigen der Medien
„Das große Schweigen – US-Medien berichten kaum noch über die Bomben auf Irak“, titelte am 20.12.99 die Frankfurter Rundschau. In diesem Bericht wird der Washington-Korrespondent der New York Times, Steven Lee Myers, über die Gründe für die merkwürdige Stille vor allem in den US-Medien folgendermaßen zitiert: „Man wolle die diplomatischen Sensibilitäten in der Region nicht verletzen, vor allem da, wo es amerikanische Militärstationen gibt, wie in Saudi-Arabien, Kuweit und der Türkei“.
Da keine Piloten oder Flugzeuge abgeschossen werden, wird der Krieg laut des US-Monatsmagazins „The New Republic“ als „Desert yawn“ („Wüstengähnen“) abgetan.
In Deutschland durchbrach am 4. November „Die Zeit“ das öffentliche Todschweigen: Theo Sommer persönlich erregte sich unter der „Zeit“-ungewöhnlichen Überschrift: „Der Irak darf nicht hungern – Amerikas Sanktionspolitik ist eine Schande“, mit scharfen Worten: „Es ist eine Schande, wie die Vereinigten Staaten Hunderte von Anträgen auf Einfuhrgenehmigungen für lebensnotwendige Güter, die unter dem Erdöl-für-Nahrung-Programm erlaubt wären, unbearbeitet liegen lassen. Nicht einmal Wasserpumpen aus rostfreiem Stahl werden genehmigt“.
Neue Kontakte der Bundesregierung zu irakischen Gästen
Anfang Oktober ‘99 empfing Staatsminister Ludger Volmer in Berlin den Patriarchen der chaldäischen Kirche im Irak, Raphael Bidawid, der die Auswirkungen des Embargos drastisch darstellte und gemeinsam mit Wolfgang Fritz, dem für Irak zuständigen Projektreferenten von Caritas International, eine neue Politik bezüglich der Sanktionen forderte. Seit ca. zwei Jahren versuchen eine Reihe europäischer Staaten, darunter auch Deutschland, wieder (halb-)diplomatische Beziehungen zu Irak aufzubauen. So wurde zu einer Konferenz der Interparlamentarischen Union vom 10.-16.10.99 der Vorsitzende der irakischen Nationalversammlung, Sadum Hamadi – ein enger Vertrauter Saddam Husseins -, als Delegationsleiter von der Bundesregierung nach Berlin eingeladen.
Humanitäre Situation im Irak
Für eine groß angelegte repräsentative Studie zwischen Februar und Mai 1999 befragten UNICEF und die Weltgesundheitsorganisation WHO 24 000 Frauen aus den südlichen und zentralen Gebieten Iraks und 16 000 Frauen aus dem Nordirak zur humanitären Situation. Das Ergebnis war niederschmetternd: Die Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren hatte sich von 56 Todesfällen pro 1000 Geburten im Zeitraum 1984-1989 auf 131 Todesfälle im Zeitraum 1994- 1999 mehr als verdoppelt. Laut UNICEF-Direktorin Carol Bellamy offenbare die Studie vom 12.8.99 die andauernde humanitäre Notlage im Irak. Mehr als eine halbe Million Kinder könnten noch am Leben sein, so die Studie. Im Bereich Kindersterblichkeit ist Irak heute vergleichbar mit Ländern wie Haiti oder Pakistan. Aufgrund der unabhängigen Durchführung der Umfrage könnten „die Ergebnisse der Studie nicht als Versuch der Regierung des Irak abgetan werden, Kritik an den UN-Sanktionen zu mobilisieren“, so die UNICEF-Direktorin. Das Trinkwasser-Problem in Irak verschärft sich von Woche zu Woche und fordert inzwischen eine erhebliche Anzahl von Toten unter der Bevölkerung, von der wegen einer anhaltenden Dürre, sowie mangelnder Ersatzteile für Pumpen und Rohre, schon jetzt ca. 20 Prozent nicht mehr ausreichend mit Wasser versorgt werden kann.
Kritik am Embargo auch von UN-Koordinatoren
Im September 1998 trat der Ire Dennis Halliday als UN-Koordinator des „Erdöl-für-Lebensmittel-Programms“ aus Protest gegen die Folgen des Embargos zurück. „Jeden Monat sterben aufgrund der Sanktionen 4000 bis 5000 Kinder, sagte Halliday“ (FR, 1.10.98). Sein Nachfolger wurde der deutsche UN-Beamte Hans Graf Sponeck, der seit Herbst 1999 – ähnlich wie Halliday – „in aller Öffentlichkeit die verheerenden Auswirkungen der westlichen Sanktionspolitik beklagt“ (Die Zeit, 4.11.99). Dafür wollten ihn die Regierungen der USA und Großbritanniens aus dem Amt jagen, UN-Generalsekretär Kofi Annan stellte sich jedoch demonstrativ hinter Sponeck und verhinderte seine Ablösung. Erst, nachdem der Konflikt bereits durchgestanden war und sich Annan durchgesetzt hatte, meldete sich auch das deutsche Außenministerium und forderte ganz mutig ebenfalls den Verbleib des deutschen UN-Koordinators im Amt.
Es geht nach wie vor um’s Öl – und um die Macht am Golf
Nach jüngsten Schätzungen soll Saudi-Arabien über 260 Milliarden Barrel Ölvorräte verfügen, Irak über 315 Milliarden Barrel, so ein Mitarbeiter des Deutschen Orient-Institutes in Hamburg. Bis vor wenigen Jahren waren die internationalen Experten noch der Ansicht, Saudi-Arabien verfüge über ca. 20 % der Welterdölvorkommen, Irak dagegen nur über ca. 10%. Die neuesten Schätzungen bedeuten, daß dem irakischen Ölmarkt in der näheren Zukunft eine enorme Bedeutung zukommt. Vor allem auch am Fördergeschäft möchten eine ganze Reihe von Staaten beteiligt werden. Nach wie vor ist den amerikanischen und britischen Konzernen ein großer Dorn im Auge, daß Irak bereits eine ganze Reihe von Lieferverträgen mit Frankreich, Rußland, China und etlichen anderen Ländern für die Phase nach den Sanktionen abgeschlossen hat (vgl. FAZ, 13.1.98). Vor allem mit Rußland blüht seit geraumer Zeit der Schwarzhandel mit Öl – dem Embargo, Clinton und Blair zum Trotz. 1985 wurde von Saudi-Arabien der Ölpreis absichtlich durch enorme Überproduktion von ca. 21 Dollar pro Barrel auf ca. 9 Dollar in den Keller gefahren, um alternative Energie gegenüber dem Öl so teuer zu machen, daß diese sich nicht rentieren sollten. Da die arabischen Scheichtümer und Emirate rund 800 Milliarden Dollar in westlichen Aktienpaketen angelegt haben, warf diese Einnahmequelle z.B. für Kuweit aufgrund anziehender Börsenkurse höhere Gewinne ab, als das reine Erdölgeschäft – folglich war viele Jahre auch ein niedriger Ölpreis für die jeweiligen Eliten vertretbar. Geschädigt wurde allerdings die Bevölkerung: Indem die Gewinne nicht dort investiert wurden, wo sie verdient wurden – und indem das oft einzige Exportprodukt Erdöl zu Schleuderpreisen verramscht wurde. Um diese Politik demokratisch nicht legitimierter Staatslenker abzusichern, braucht es bis zur Gegenwart Rüstungsimporte. Damit vor allem dem Waffen-Großabnehmer Saudi-Arabien die Zahlungen bei amerikanischen und britischen Rüstungsfirmen erleichtert werden, hob die OPEC in letzter Zeit die Preise für Öl wieder kräftig nach oben. Innerhalb der OPEC geriet der nach wie vor wichtigste Exporteur Saudi-Arabien zusätzlich politisch unter Druck: Algerien drohte der Staatsbankrott und übte deshalb massiven Druck aus, den für das Land so wichtigen Ölpreis anzuheben. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrein und Katar mußten zu ihren Rüstungskäufen zusätzlich Milliardenbeträge für neue Förder-Investitionen aufwenden, wodurch sich diese drei Länder bei Banken verschuldeten – und ebenfalls höhere Öl-Einnahmen benötigten. Die US-Politik steht auf dem Standpunkt, die Region gegen den Ostblock jahrzehntelang verteidigt zu haben – und in den vergangenen zehn Jahren nach dem Fall der Mauer noch nicht genügend „Dividende“ für diese „Leistung“ gesehen zu haben. Verdient wird daher derzeit kräftig im Rüstungsexport-Sektor. Wichtigste Neuerung aus US-Sicht ist, daß nun auch die Kaukasus-Region geostrategisch dem US-Central-Command unterstellt wurde. Auch aus diesem Grund ist Irak von seiner geografischen Lage her ein viel zu wichtiger Staat, als daß er einfach zu vernachlässigen wäre. Wegen der unsicheren Regierungs- Nachfolgeregelung in Saudi-Arabien versucht das US-Central Command derzeit neue Verbindungen zu Jemen aufzubauen, um im Falle eines Konfliktes mit den Saudis auf ein neues Stützpunktland zurückgreifen zu können. Seit dem Vertrag von Algier 1975, als die beiden geopolitisch bedeutsamen Länder Irak und Iran ihre Streitigkeiten friedlich versuchten beizulegen, ist den USA und Großbritannien seit nunmehr 25 Jahren eine exzellente Politik des „Teile und Herrsche“ gelungen – indem sie u.a. arabische Einigungsversuche immer wieder erfolgreich hintertrieben haben. Jüngste Herausforderung für die angelsächsische Politik ist der Plan einer arabischen Freihandelszone, die bis etwa 2007 verwirklicht werden soll.
Wie soll es weitergehen mit Saddam Hussein und Irak?
Nach dem 2. Golfkrieg 1991 drängte bis etwa 1995 vor allem Israel auf einen Sturz Saddam Husseins. Dies hätte die Gefahr mit sich gebracht, daß Irak in drei Teile zerfallen wäre: Den Norden hätte gerne die Türkei, den Süden der Iran, am Westen Iraks würde Syrien Gefallen finden. Ohne Kriege und größere Verwerfungen in der Region würde dies allerdings nicht zu bewerkstelligen sein. In US-Regierungskreisen wurde zeitweilig auch die Einrichtung eines eigenen kurdischen Staates im Norden des Irak forciert, was allerdings nach einer Intervention türkischer Generale als Plan wieder verworfen wurde. Anfang Oktober 99 schickte Saddam Hussein den neuen jordanischen König Abdallah II. als „Briefträger“ zu Präsident Clinton. Der Inhalt dieses Briefes war interessant: Saddam Hussein kündigte darin eine neue Verfassung, eine umfassende Reform des politischen Systems, die Zulassung mehrerer Parteien, die Einhaltung der Menschenrechte, das Ende der Bedrohung Israels und eine aktive Rolle mit den USA und Israel bei einem Nahost-Friedensprozeß an. Als Gegenleistung erwartete Irak die Aufhebung der Sanktionen. Sogar die bereits unterzeichneten Ölabkommen mit Frankreich und Rußland wollte Saddam Hussein – laut der in London erscheinenden Zeitung „al-Zaman“ – im Interesse von US-Firmen einer Prüfung unterziehen. US-Außenamtssprecher James Rubin kommentierte jedoch trocken: „Wir sind nicht an solchen Diskussionen interessiert“ (junge Welt 11.10.99). Da die USA – trotz eines nach außen offiziell verkündeten 97 Millionen Dollar-Programms zum Sturz Saddam Husseins – den irakischen Diktator nicht loswerden, mehren sich in irakischen Oppositionskreisen Befürchtungen, die USA und auch Großbritannien seien gar nicht mehr an einer Beseitigung des starken Mannes in Baghdad interessiert (falls sie es je wirklich waren!). Solange Saddam Hussein noch als Unsicherheitsfaktor in der Region dargestellt werden kann, erhalten z.B. die für die US-Wirtschaft sehr wichtigen Rüstungsexporte an potenzielle Gegner Iraks eine gewisse Plausibilität in der arabischen Öffentlichkeit. Zusätzlich halten sich Iran und Irak gegenseitig – zum westlichen Nutzen – in Schach.
Der neue Vorschlag für eine UN-Kommission
Nach wochenlangem Tauziehen um eine neue UN-Resolution zum Irak stimmte der UN-Sicherheitsrat am 17.12.99 ab: Von den fünf ständigen Mitgliedern enthielten sich drei: Frankreich, Rußland und China; USA und Großbritannien stimmten dafür. Alle anderen Mitglieder des 15-köpfigen Gremiums stimmten ebenfalls dafür, lediglich Malaysia enthielt sich. USA und Großbritannien fordern die Wiederzulassung einer neuen Inspektionskommission (UNMOVIC). Wenn der Irak mit UNMOVIC zusammenarbeite, könnte er im Rahmen von 100-Tage-Fristen soviel Öl verkaufen, wie er wolle, was bei sonstigem Wohlverhalten des Iraks bereits nach einem Jahr zu einer vollkommenen Aufhebung aller Sanktionen führen könnte (vgl. jW, 14.12.99). Die irakische Diplomatie versuchte durch massiven Druck auf Frankreich und Rußland doch noch zu erreichen, daß diese beiden Länder die Resolution mit ihrem Veto zu Fall bringen. Irak verweigert eine Rückkehr der Inspektoren kategorisch – mit guten Gründen: Am 16.1.98 schrieb die FAZ zur Tätigkeit der UNSCOM-Mitarbeiter bezüglich des Ausmessens der Präsidentenpaläste Saddam Husseins: „Landvermessen im Irak ergibt auch Zielkoordinaten für Marschflugkörper“. In der FAZ vom 8.12.98 stand: „Die militärischen Ziele wurden schon seit langem mit Hilfe von UNSCOM-Mitarbeitern, aber auch Foto-Satelliten sowie der U-2-Spionageflugzeuge ausgewählt“.
Exkurs: Parallelen im Irak- und Jugoslawien-Krieg
Die Parallelen zwischen UNS-COM in Irak und OSZE-Kosovo-Mission, zwischen dem der Spionage bereits Überführten Richard Butler und dem der Spionage schwer verdächtigen Ex-CIA-Mitarbeiter William Walker, sind frappierend. Amerikanische und britische Special Forces, als OSZE-Kontrolleure getarnt, haben die OSZE im Kosovo offensichtlich als „Trojanisches Pferd“ benutzt (vgl. Intelligence, 31.4.99). OSZE-Mitarbeiter wurden von US-Vertretern der Mission gebeten, das auch in Irak eingesetzte amerikanische Satellitensystem „Geographic Positioning System“ (GPS) zu benutzen, mit dem man exakte Positionsbestimmungen durchführen kann. Der Schweitzer Geologe und OSZE-Beobachter Pascal Neuffer erklärte: „Wir waren uns von Anfang an darüber im klaren, daß die Informationen, die im Laufe unserer Mission bei den OSZE-Einsätzen gesammelt wurden, die Satellitenbilder der NATO vervollständigen sollten. Wir hatten den sehr scharfen Eindruck, für die Nato zu spionieren“ (3). „Nicht explodierte Cruise Missiles gaben ein brisantes Geheimnis preis. Die jugoslawische Abwehr konnte nachweisen, daß die Fotos für die Programmierung der Marschflugkörper von US- amerikanischen OSZE-Beobachtern geschossen worden waren. Die digitale Fotografie hatte das Datum der Aufnahme noch gespeichert“ (4). Die Tendenz, UN- oder OSZE-Missionen als „trojanische Pferde“ für die Kriegsvorarbeiter der jeweiligen nationalen Regierungen zu instrumentalisieren, dürfte auch einer der schwerwiegenden Gründe dafür sein, warum die russische Regierung sich nicht auf die Internationalisierung bei der Suche nach einer Konfliktlösung im Tschetschenien- Krieg, z.B. mittels einer OSZE-Mission, einlassen möchte. Die irakische Regierung wird alles daran setzen, nach den mit der UNSCOM gemachten Erfahrungen nicht noch einmal Spione ins Land zu lassen, die die Lasermarken für die nachfolgenden Cruise Missiles setzen.
Lösungsansätze im nahen und mittleren Osten – Herausforderung für Europa
Die Fakten sprechen für sich und zeigen die ganze Brisanz: Nordamerika verfügt über 8,2% der derzeit sicher bekannten Erdölvorräte, die ehemalige UdSSR über 6,3%, Europa über 2,1%, der mittlere Osten über 65,3% (Strategic Geography, 97/98). Bei heutigem Verbrauch reicht dies noch 42 Jahre (5). In einem offenen Brief an Außenminister Fischer, dokumentiert in der Wochenzeitung „Freitag“, vom 8.1.99, schlug der Politikwissenschaftler Mohssen Massarat folgenden Entwurf einer langfristig angelegten Friedensordnung für den nahen und mittleren Osten vor:
- Die konsequente Reduzierung von Waffenexporten in die Region.
- Die Unterstützung aller Bemühungen für einen regionalen Sicherheits- und Friedenspakt, der den Nahost- und Kurdistankonflikt und einen Abrüstungsprozeß einschließt.
- Die Förderung des Aufbaus ziviler Strukturen und die Unterstützung von Demokratisierungsprozessen.
- Die Forcierung eines intensiven interkulturellen Dialogs zwischen Europa und der Region.
- Eine gemeinsame Energieversorgungs- und Klimastrategie, die klimapolitische Anforderungen der Energie- und CO2- Reduktion mit langfristigen Interessen der Ölerzeugerstaaten in Einklang bringt.
Als schärfste Gegner eines solchen Friedensplanes vermutet Massarrat Saddam Hussein, Bill Clinton und Tony Blair. Frankreich, Deutschland, Italien und Rußland könnten durch das Ein- und Voranbringen dieses Planes erste Ansätze einer zivilen gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik markieren. Es ist nicht hinnehmbar, daß die Zahl von rund einer Million Embargo-Folgeopfern in Irak sich weiter erhöht. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit läuft ein vermeidbarer Genozid ab. Die F.A.Z. brachte es in ihrem Kommentar am 22.12.98 auf den Punkt: „Über das Thema ‘Aufhebung der Sanktionen’ sollte man versuchen, mit dem Irak wieder ins Gespräch zu kommen, auf dem Hintergrund einer Nahost- Politik, die nicht nur von zwei Parametern beherrscht wird: dem freien Ölfluß und der Sicherheit Israels. Die arabischen Völker wollen endlich einmal fair, das heißt gleichberechtigt, behandelt werden“.
(1) in: New York Times vom 28.3.99 (zit. nach Kosovo, Jugoslawien, Nato, hg. vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, Nov. 99, S. 23f.)
(2) Angabe nach Mainzer-Rhein-Zeitung vom 27.9.99
(3) K. Bittermann/Th. Deichmann, Wie Dr. Joseph Fischer lernte, die Bombe zu lieben, Berlin 1999, S. 55.
(4) Hannes Hofbauer (Hg.), Balkan-Krieg. Die Zerstörung Jugoslawiens, Wien 1999, S. 167.
(5) vgl. Peter Barth, Der Kaspische Raum zwischen Machtpolitik und Ölinteressen, Denkanstöße Nr. 40, S. 8.