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„Wir wollen die Geschichte nicht wiederholen!“

Ein Gespräch mit Maria Salinas über Rassismus, Sexismus und das Dagegenhalten

| Interview: Bernd Drücke und Nika Hackenreiter

Beitraggeschichte
Maria Salinas, Techniker Detlef Lorber, Bernd Drücke und Nika Hackenreiter beim Inteview im Studio des medienforum Münster - Foto: Maria Salinas

Maria Adela Salinas ist Buchhalterin und alleinerziehende Mutter. Wir veröffentlichen in einer redaktionell bearbeiteten Version Auszüge aus einem Radio-Graswurzelrevolution-Interview (1), das GWR-Praktikant*in Nika Hackenreiter und Redakteur Bernd Drücke am 15. Mai mit der Antirassistin geführt haben. (GWR-Red.)

Bernd Drücke: Maria, du bist seit 2020 Vorsitzende des Integrationsrats Münster. Kannst du bitte dich und deine Geschichte vorstellen und auch darüber reden: Was ist der Integrationsrat überhaupt?

Maria Salinas: Der Integrationsrat ist die demokratisch gewählte, politische Vertretung für Menschen mit Migrationsvorgeschichte. Wir vertreten außerdem auch in Deutschland geborene Menschen, deren Eltern eine Migrationsgeschichte haben.

BD: Du hast eine spannende Lebensgeschichte. Kannst du uns davon bitte erzählen? Wie bist du aufgewachsen?

MS: Ich bin in Bolivien geboren. Mit Anfang 20 habe ich gedacht, dass ich alles geschafft habe in Bolivien. Ich habe dort eine Arbeit gehabt, zwei abgeschlossene Ausbildungen, ich war dabei, noch zu studieren. Dann dachte ich, okay, es wäre schön, etwas anderes kennenzulernen, auch in Europa etwas zu lernen, Europa kennenzulernen und irgendwann mal nach Hause zurückzukehren. So bin ich nach Deutschland zum Studieren gekommen und mein Leben hat sich anders entwickelt. Ich habe ein Kind bekommen. Als alleinerziehende Mutter durfte ich alles durchmachen, was man hier als Migrantin durchmachen muss. Das war nicht einfach, es war ein Kampf.

Nika Hackenreiter: Magst du uns noch mehr über deine Arbeit als Integrationsratsvorsitzende erzählen? Einerseits, was du da so machst und was deine Aufgaben sind, andererseits auch davon, mit was für Problemen und Einschüchterungen du konfrontiert bist?

MS: Es ist gut, dass wir die Möglichkeit haben, mit dem Integrationsrat hier Kommunalpolitik zu machen. Das große Problem ist, dass wir nicht gleichgestellt sind. Wir starten schon mit der Ungleichstellung in den Alltag, auch in der Politik. Die Vorteile, die man als Rats- oder Parteimitglied hat, haben wir nicht. Das heißt, wir arbeiten ehrenamtlich und dadurch können wir nicht so viel Zeit investieren. Ich gehe fast immer erst um zwei Uhr schlafen und stehe um sechs Uhr auf, damit ich da überhaupt mithalten kann. Dabei ist Münster sogar noch fortschrittlich im Vergleich zu anderen Städten. Bei den letzten Wahlen des Integrationsrats hatten wir eine relativ hohe Wahlbeteiligung. Die Menschen, die uns ihr Vertrauen gegeben haben, nehme ich ernst. Ich respektiere diese Stimme. Das gibt mir Kraft, weiterzumachen. Es ist schwierig, denn ich habe jetzt in der Politik mehr Diskriminierung erlebt als in meinem ganzen bisherigen Leben in Deutschland. Ich bin eine Frau, ich bin Migrantin, ich spreche mit Akzent und ich bin so frech, dass ich tatsächlich etwas ändern will. Ich möchte mich nicht zurückziehen und alles über mich ergehen lassen. Es geht nicht um mich. Es geht um die Menschen, die uns ihr Vertrauen gegeben haben.

Ich habe jetzt in der Politik mehr Diskriminierung erlebt als in meinem ganzen bisherigen Leben in Deutschland. Ich bin eine Frau, ich bin Migrantin, ich spreche mit Akzent und ich bin so frech, dass ich tatsächlich etwas ändern will.

BD: Themen der Graswurzelrevolution Nr. 490 sind unter anderem auch Rassismus und rassistische Gewalt. Du hast am 19. Januar auf der „Keinen Meter den Nazis“-Demo, wo nach Bekanntwerden des Potsdamer Geheimtreffens spontan über 20.000 Antifaschist*innen in Münster demonstriert haben, eine bewegende Rede (2) gehalten. Kurz zuvor hatte das Recherchenetzwerk Correctiv öffentlich gemacht, dass es im November 2023 in Potsdam ein Treffen von Neonazis, AfD-Politikern, CDU-Politikern und Wirtschaftsfunktionären gab, die eine „Remigration“, also Deportationspolitik, dort diskutiert und geplant haben. Die Faschisten wollen 16 bis 20 Millionen Menschen aus der Bundesrepublik abschieben. In deiner Rede hast du deine Betroffenheit zum Ausdruck gebracht. Kannst du bitte noch etwas zu diesen Plänen und zum Rechtsruck sagen? Wie sehr fühlst du dich persönlich bedroht? Wie können wir dem aufkommenden Faschismus entgegentreten?

MS: Wir leben in harten Zeiten. Als Integrationsrat sind wir Ende 2023 Opfer von Angriffen geworden. Es gab Anfeindungen, wo ich gedacht habe: Was ist das, was ist mit diesem Land passiert? Menschen mit arabischem Namen oder Aussehen wurden unter Verdacht gestellt, Frauen mit Kopftuch wurden auf der Straße beschimpft. Da musste ich erst die Kraft entwickeln, um sagen zu können: „Nein, stopp, das geht so nicht! Nicht jede, die ein Kopftuch trägt, Muslima und Migrantin ist, ist Antisemitin. Wir Migrantinnen sind kein Freiwild hier, wir sind Menschen, wir gehören zu dieser Stadt!“
Es war zum Verzweifeln. Wir haben dann im Integrationsrat lange gearbeitet bis drei Uhr morgens. Diese Zeit war bewegend und ich habe einiges gelernt. Was für mich wichtig ist: In Münster gibt es eine große, solidarische Gesellschaft. Es gibt Deutsche, die den interkulturellen Blickwinkel haben. Wir sind eins mit diesen Menschen. Aber als dieser Bericht über das rassistische Geheimtreffen in Potsdam kam, habe ich, wie alle anderen Migrant*innen und viele Deutsche auch, kalte Füße bekommen. Denn diese Ähnlichkeiten mit den Entwicklungen von der Weimarer Republik zur Nazidiktatur und der Politik der Nazis, das war zu nah, das war zu ähnlich. Der Jargon, der Ort, das war sehr besorgniserregend. Mich hat bewegt, dass die interkulturelle Gesellschaft, die aufgeklärten Menschen auf die Straße gekommen sind. Im ganzen Land sind Millionen auf die Straße gegangen, die sonst nie rauskommen. Die haben klar gesagt: „Nicht mit uns!“ Denn das ist ein Punkt, wo die Menschen in Deutschland aufstehen und sagen müssen: „Wir sehen, was passiert und wir lassen uns das nicht gefallen. Wir wollen die Geschichte nicht wiederholen! Wir müssen alle dagegenhalten, denn die Geschichte, die jetzt läuft, die schreiben wir.“

NH: Du lebst schon lange in Deutschland. Mich würde interessieren, inwiefern du in den letzten Jahren sowohl in Bezug auf deine politische Arbeit, aber auch in deinem privaten Umfeld eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas wahrgenommen hast oder eine Veränderung in der Häufigkeit von Alltagsrassismus, der dir und anderen Menschen um dich herum begegnet. Magst du davon etwas erzählen?

MS: Ja, gerne. Also, ein privates Umfeld habe ich kaum, meine freie Zeit vergeht fast hundertprozentig mit der Politik. Ich habe den Eindruck, dass ich in den letzten vier Jahren ungefähr 20 Jahre gewachsen bin, weil ich im Rahmen meiner Arbeit die Realität sehe. Ich pflege zu sagen: Früher war ich glücklicher, jetzt kenne ich die Realität. Ich weiß, wie die Politik funktioniert und was im Hintergrund passiert. Und ich erlebe die Leute nah. Diese Verzweiflung, diese Traurigkeit, die du siehst, wenn ein 18-jähriges Kind, das hier geboren und aufgewachsen ist, dessen Eltern aber nicht deutsch sind, sondern Migrant*innen, und das sich daneben benommen hat und deswegen abgeschoben werden soll, das also nicht die gleichen Rechte hat wie ein anderer Jugendlicher, dessen Eltern Deutsche sind. Du siehst Leute, die hier hart arbeiten oder eine Arbeit suchen, aber keine Arbeitserlaubnis haben. Es ist diese Realität, die dich bewegt. Zum anderen sind es die Gesetze, die Mauern sind. Ein Geflüchteter hat mir gesagt: „Die Behörden entscheiden über mein Leben.“ So ist es mit mir auch gewesen. Es gibt viele, die nach Hause zurückkehren, viele Akademiker*innen. Wir sagen, wir suchen Leute, die hier arbeiten. Die kehren zurück. Warum? Weil sie ihre Familie nicht nach Deutschland holen können. Weil sie keine passende Wohnung finden. Es gibt viele gutverdienende Menschen, die zwei, drei Jahre hier gearbeitet haben, aber ihre Familie nicht hierher bringen dürfen. Also kehren sie nach Hause zurück. Es gibt viele, die vor Kriegen fliehen. Und es bringt mich zum Verzweifeln, wenn man sagt, Geflüchtete wohnen hier wie Könige. Aber wer spricht darüber, dass Geflüchteten nur sieben Quadratmeter Wohnraum zustehen? Das ist weniger als bei einem Schäferhund, bei dem sind es, glaube ich, zwölf oder 13 Quadratmeter. Auf diesen sieben Quadratmetern wohnen sie oft mit mehreren Personen, das ist nicht lustig. Es gibt viele, die Deutsch lernen wollen, aber keinen Sprachkurs finden. Und man hört von anderer Seite: „Die wollen nicht lernen!“ Es fehlt an Informationen, an Tatsachen. Wir sprechen von Krieg und vor Krieg muss man fliehen dürfen. Das macht man nicht freiwillig. Es ist schrecklich. Stell dir vor, als Vater, als Mutter, als Bruder, deine kleinen Geschwister gehen zu lassen in eine unsichere Zukunft, in ein Land, das du nicht kennst, mit einer Sprache, die du nicht sprichst. Du weißt nicht, ob du lebendig ankommen wirst. Du haust ab vor der Gewalt, die die Waffen produzieren, die wir hier fabrizieren. Die Waffen, mit denen wir unser gutes deutsches Bürgertum noch finanzieren.
Und dann gibt es noch viel mehr Menschen, die vor Armut fliehen. Ah nein, die sind hier nicht willkommen. Alle weg, egal ob sie einen Beruf haben oder nicht. Aber keiner spricht darüber, wie die Verträge von Deutschland mit Ländern des globalen Südens funktionieren. Keiner erinnert sich daran, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die Auslandsschulden erlassen bekommen hat. Durch Freihandelsabkommen und andere Verträge werden Länder des globalen Südens in die Armut gehandelt. Wie willst du die Armut und die Armutsflucht beenden, wenn du dir nicht erst mal anschaust, dass Deutschland und der globale Norden diese erst verursachen? Wenn Menschen dann hierherkommen, um zu arbeiten, darunter viele Akademiker*innen, was passiert dort, in den Ländern, aus denen sie kommen? Die Armut bleibt bestehen und die Menschen haben noch mehr Gründe zu fliehen! Also, wir müssen unsere eigene Verantwortung anschauen.

BD: 2024 stehen mehrere Wahlen vor der Tür. In Thüringen steht die AfD derzeit laut Umfragen bei über 30 % und wäre somit stärkste Partei. Es besteht somit die reale Gefahr, dass der Neonazi und AfD-Politiker Björn Höcke nach der Landtagswahl im Herbst dort Ministerpräsident wird. Auch auf weltweiter Ebene sieht es dramatisch aus. Russland hat sich in eine imperialistische Putin-Autokratie verwandelt. In Argentinien ist mit Javier Milei (3) ein rechter Extremist Präsident geworden. In Ungarn und in den Niederlanden gibt es extrem rechte Regierungen, in Italien ist eine Postfaschistin Ministerpräsidentin. Und in den USA droht Ende 2024 ein Wahlsieg von Donald Trump. Was können wir dagegen tun? Welche Perspektiven siehst du? Wo findest du die Kraft, um dem Rassismus und den rassistischen Gefahren, denen viele Menschen ausgesetzt sind, entgegenzutreten?

MS: Die Hoffnung ist das Letzte, was wir verlieren sollten. Das Rezept ist Aufklärung. Wir entwickeln uns momentan zurück. Wir lesen in Social Media falsche Informationen, ohne dass das richtiggestellt oder eingeordnet wird. Wenn ich könnte, würde ich jede Falschinformation der AfD sofort analysieren und die Wahrheit herausbringen. Aber die Menschen haben ja auch selbst die Möglichkeit, sich zu informieren, sich auch selbst aufzuklären. Von sich aus hinterfragen, ob diese Information stimmt und sich nicht mitreißen lassen von solchen Dummheiten, wie zum Beispiel der Behauptung, ein Mensch, der nicht in Deutschland geboren ist, sei die Ursache für die ganzen Probleme. Wir müssen uns informieren und öffnen. Öffne dich, lerne deinen Nachbarn aus Syrien, deine Nachbarin aus Nigeria, aus Bolivien kennen. Schau mal nach: Sind wir wirklich anders? Sind wir wirklich fremd? Haben wir vielleicht eine dunklere Haut? Und falls ja, wo liegt denn das Problem? Ja, ich spreche mit Akzent. Aber ich denke nicht mit Akzent. Selbst wenn es so wäre, wäre das doch auch ganz lustig.
Meine Hoffnung ist, dass die Menschen sich informieren und dann auch antirassistisch wählen. Mensch, akzeptiere die multikulturelle Schönheit! Sieh Migration nicht als Problem, sondern als Chance, modern zu sein, interkulturell zu sehen, neue Wege zu gehen. Wir haben viel Gutes in diesem Land und in Europa.

NH: Du hast uns gerade schon etwas über Alltagsrassismus in der Politik erzählt. Magst du uns noch ein paar alltägliche Beispiele darlegen, aus deiner persönlichen Erfahrung, aber auch von anderen Menschen, mit denen du dich austauschst?

MS: Es gibt auch positive Beispiele, ich spreche aber jetzt über die eher schlechten. Es ist zum Beispiel so, dass einige Menschen sich weigern, mich als politische Vertreterin anzuerkennen. Da erlebe ich eine Diskriminierung. Das heißt, man geht mit mir so um, wie man niemals mit einer weißen Ratsfrau umgehen würde. Und mit einem Mann erst recht nicht. Ich habe länger nicht darüber sprechen wollen, aber ich habe auch Gewalt erlebt, vor allem psychische. Das wird relativiert. Ich war letztens bei einer politischen Partei hier eingeladen und wurde dort angeschrien, während überall um mich herum Ratsleute saßen, alle von der gleichen Partei wie die Person. Der schreit mich an, als jemand, der vorher bereits Gewalt ausgeübt hat und niemand greift richtig ein. Irgendwann hat eine Ratsfrau dann etwas gesagt und das beendet. Aber die Männer, die da waren, haben nichts gesagt. Im Nachhinein, als ich mich beschwert habe, wurden dann Täter und Opfer umgekehrt. Ich bin noch dabei, das aufzuarbeiten und ich werde nicht aufgeben. Denn wenn sie damit durchkommen, so etwas mit mir zu machen, was werden sie mit anderen Frauen machen, die vielleicht nicht in der Politik sind, nicht die Kontakte und das Selbstvertrauen haben, sich zu wehren und klarzustellen: „Nein, Moment, so geht das nicht!“? Das war eine harte Erfahrung. Mehrere Tage war ich richtig fertig und lag krank im Bett, aber ich stehe auf und werde weiterkämpfen. Das ist die Diskriminierung, die ich erlebe. Wäre ich eine deutsche Ratsfrau gewesen, hätten die eingegriffen und gesagt: „Nein, Schluss, Stopp!“ Aber mit mir als Migrantin kann man das ja machen. Ich werde aber nicht aufgeben. Auf keinen Fall.

(1) Die 55minutige Radio Graswurzelrevolution-Sendung mit Maria Salinas wurde am 15. Mai im Studio des medienforum münster produziert. Sie wird am 30. Juni 2024 im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz.) ausgestrahlt und kann dauerhaft in der NRWision-Mediathek gehört werden: https://www.nrwision.de/mediathek/sendungen/radio-graswurzelrevolution/
(2) Redebeitrag von Maria Salinas auf der „Keinen Meter den Nazis“-Demo am 19.1.2024 in Münster: https://www.youtube.com/watch?v=IVYLxn25bmo
(3) Siehe: Ein Anarchist an der Macht? Der Wahlsieg des extrem rechten Javier Milei in Argentinien, Artikel von Stephan Ruderer, in: GWR 485, Januar 2024, https://www.graswurzel.net/gwr/2024/01/ein-anarchist-an-der-macht/