polizei- und rechte gewalt

„Ich will einen Richter“

Tödliche Polizeigewalt. In Mannheim sind seit 2022 vier Menschen durch die Polizei ums Leben gekommen

| Chiara Oschika

Beitragmannheim
Aktivist*innen der Initiative 2. Mai am ersten Prozesstag des Prozesses um Ante P. Foto: Initiative 2.Mai

Am 2. Mai 2022 stirbt Ante P. durch das Handeln der Polizei auf dem Mannheimer Marktplatz. Wenige Tage später, am 10. Mai 2022, stirbt ein weiterer Mensch durch Schusswaffengebrauch der Mannheimer Polizei in seiner Wohnung. Am 23. Dezember 2023 erschießt die Mannheimer Polizei den 49-jährigen Ertekin Ö. auf offener Straße. Am 23. April 2024 erschießt die Polizei einen weiteren Menschen in einem psychischen Ausnahmezustand an der Mannheimer Universität. Was eint diese Fälle? Neben derselben Stadt waren alle Opfer der tödlichen Polizeigewalt psychisch krank.

„Ich will einen Richter“, sagte Ante P. Momente, bevor er sterben sollte. Zwei Polizisten erstickten ihn am 2. Mai 2022 auf dem Mannheimer Marktplatz inmitten von vielen Zeug*innen. Ihre Rufe, aufzuhören, oder dass Ante P. nicht mehr atme, eine verzweifelte Bitte, ihm Wasser zu holen, ignorierten sie dabei. Am 2. Mai 2022 befand sich der 47-jährige Ante P. in einem psychischen Ausnahmezustand. Um ihn in das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit einweisen zu lassen, wurde die örtliche Polizei involviert. Eine Tatsache, die Ante P. das Leben kostete. Ante P. entfernte sich von der zu Rate gezogenen Polizeiwache in Richtung des Marktplatzes. Er erkannte weder die Polizisten noch seinen behandelnden Arzt und schien sehr desorientiert. Die beiden Polizisten verfolgten ihn, und Ante P. zeigte keinerlei Reaktion auf das Handeln der Polizei. Sogleich setzte der Haupttäter Pfefferspray gegen ihn ein. Es schien beinahe, als wollten die beiden Polizisten Ante P. mittels Pfeffersprays in eine bestimmte Richtung lenken. Dass dies eine gelernte Strategie zur Deeskalation ist, mit dem Ziel der Rückführung eines verwirrten Patienten, scheint mehr als fraglich. Da dies anscheinend nicht den gewünschten Effekt erzielte, sprang der Haupttäter Ante P. in den Rücken, um ihn zu Boden zu bringen. Es folgten vier Schläge gegen den Kopf. Ante P., welcher inzwischen stark blutete, wurde zunächst weder in die stabile Seitenlage gebracht, noch wurde eine Reanimation eingeleitet. Zwischen der Feststellung, dass er keine Vitalzeichen mehr aufwies, und der Reanimation vergingen mehrere wertvolle Minuten. Ante P. lag fünf Minuten und 21 Sekunden ohne sichtbare Reaktion auf dem Boden und erhielt keine Hilfeleistung.
Etwa zwei Jahre später, am 12. Januar 2024, begann ein Prozess gegen die beiden angeklagten Polizisten, welcher sich als eine zynische Ansammlung von Prozesstagen entpuppen sollte, die von Rassismus, Ableismus und übergriffigem und einschüchterndem Verhalten von Justitia und Polizei geprägt waren. Die Strategie, die die Verteidigung dabei verfolgte, ist Schuldabwehr und eine Täter-Opfer-Umkehr. Es wurde ein Bild von Ante P. gezeichnet, welches stark verzerrt war und nur wenig mit der Realität gemein hatte. Ante P. liebte die Band „Queen“, machte Sport oder fuhr mit seiner damaligen Freundin in den Urlaub. Doch vor Gericht wurde jeder Aspekt seiner psychischen Erkrankung ausgeschlachtet und so der Eindruck vermittelt, er sei ein schwer kranker und kaum zurechnungsfähiger Mensch gewesen, unter der Verwendung ableistischer Vorurteile. Eine weitere Strategie bestand darin, zu behaupten, Ante P. wäre auch ohne das Einwirken der Polizei an diesem Tag durch seine Vorerkrankungen gestorben. Die Wunden am Kopf, die ihm durch die Faustschläge der Polizisten zugefügt wurden, stünden in keinem Zusammenhang mit seinem Tod. Dass weder eine sofortige Reanimation durchgeführt wurde, noch Ante P. in die stabile Seitenlage gebracht wurde, nehme ebenfalls keinen Einfluss auf dessen Tod. Eine Täter-Opfer-Umkehr, die sich wie ein roter Faden durch sämtliche Fälle von Polizeigewalt und Polizeimorden zieht, blieb auch in diesem Fall nicht aus. Die Polizei behauptet, Ante P. sei aggressiv gewesen und habe eine Fremdgefahr dargestellt. Zeugenaussagen widersprechen dem. Ante P. schien verwirrt und wollte in Ruhe gelassen werden. Das Verhalten der Polizei beschrieben die Zeug*innen als „viel zu brutal“. Noch am Tattag wurden die teils minderjährigen Zeug*innen unter Druck gesetzt, etwa durch Strafandrohung, keine Falschaussagen zu tätigen.

Strafbares Verhalten und Rechtsverstöße innerhalb des Polizeiapparates werden nur selten aufgeklärt, dabei ist es ganz gleich, ob es sich um schwere Körperverletzung, sexualisierte oder tödliche Polizeigewalt handelt

Ante P. hatte einen Migrationshintergrund und war psychisch krank, eine Tatsache, welche ebenfalls einen erheblichen Teil der Opfer von (tödlicher) Polizeigewalt eint. Vor Gericht argumentierte ein Arzt, Ante P. habe sich in einem „handlungsleitenden Wahn“ befunden; so wollte er beispielsweise einem Freund am gemeinsamen Arbeitsplatz zu Hilfe eilen, von welchem er glaubte, dass dieser seine Hilfe benötigte. Eine Fremdgefährdung ging jedoch nicht von ihm aus. Der Arzt beschrieb ihn als defensiv, abwehrend und ungefährlich. Ein geladener Gutachter der Verteidigung, Dr. Betz, tätigte während des Prozesses mehrere menschenfeindliche Aussagen. „Schizophrene“, sagte er, „sind mit Vorsicht zu genießen“ und „bekannt für Tötungsdelikte und Suizide“. Zudem sei das Herz von Ante P. nach seinen Aussagen „jederzeit versagensbereit“ gewesen. Die Fixierung am Boden stelle keinesfalls die Todesursache dar, denn „dicke Menschen können am Strand auch auf dem Bauch liegen, ohne dass gleich der Notarzt kommt“. So könne auch das Blut besser abfließen. Ante P. blutete aufgrund der Schläge gegen seinen Kopf.
Die anwesenden Polizist*innen verhielten sich ihren beiden Kollegen solidarisch gegenüber, so war der Saal stets gefüllt mit Polizist*innen, teils in zivil, teils bewaffnet und uniformiert. In der Schlange vor dem Gerichtssaal kam es zu Schubsereien seitens der Polizei und weiterem übergriffigem und unangebrachtem Verhalten.
Letztlich endete der Prozess mit einer sehr bescheidenen Geldstrafe für die Hauptangeklagten: 120 Tagessätze à 50 Euro, und einem Freispruch. Seitens der Polizeigewerkschaft erhielten die beiden angeklagten Polizisten vollste Unterstützung.
Ante P.s Schwester Antonia äußerte sich folgendermaßen: „Es ist ja leider nicht so, dass der Tod meines Bruders Ante ein Einzelfall ist […]“. Weiter erklärte sie: „Die Reduzierung einer Strafe wegen Tötung eines psychisch kranken Menschen faktisch auf einen minimalen Symbolgehalt – de facto Straflosigkeit bei einer solchen Tat, das ist es, was Angst macht. Ich habe mich mit Opfern und Angehörigen von Polizeigewalt vernetzt. Es gibt viele.“
Am 10. Mai 2022, nur acht Tage nach der Tat, kam es in Mannheim erneut zu tödlicher Polizeigewalt. Ein 31-jähriger Mann, welcher sich ebenfalls in einer Krisensituation befand, verstarb nach einem Polizeieinsatz. Nach einem Streit mit seiner Mutter verletzte dieser sich selbst und drohte mit Suizid. Seine Mutter alarmierte mit Hilfe einer Nachbarin die Polizei, welche beim Eintreffen in der Wohnung der eigenen Aussage zufolge versuchte, die Situation zu deeskalieren. Da dies aber anscheinend nicht funktioniert habe, setzten diese kurzerhand Pfefferspray ein. Anschließend gab die Polizei einen Schuss auf sein Bein ab. Er starb noch vor Ort. Die Tat spielte sich isoliert von der Öffentlichkeit ab, so wurde auch das Verfahren schnell wieder eingestellt.
Am 23. Dezember 2023 wird Ertekin Ö. von der Polizei erschossen. Auch er befand sich zum Tatzeitpunkt in einem psychischen Ausnahmezustand. „Eine Gefahr für die Bevölkerung besteht nicht“, so die erste Polizeimeldung um 13:28 Uhr. Zuvor rief Ertekin Ö. selbst die Polizei und teilte mit, ein Verbrechen begangen zu haben. Er lief mit bloßem Oberkörper langsam und desorientiert die Straße auf und ab. Er hielt ein Messer in der Hand und schien von seiner Umgebung kaum Notiz zu nehmen. Teile seiner Familie, die anwesend waren, wollten mit ihm sprechen, um ihn zu beruhigen, jedoch wurde dies von der Polizei untersagt. Immer wieder kniete Ertekin sich hin, stand auf, ging ein paar Schritte, kniete sich wieder hin. Dann fielen vier Schüsse. Ertekin Ö. wurde vor den Augen seiner Tochter und seiner Mutter mit vier Schüssen in die Brust getötet. Die anwesenden Polizist*innen drehten die Arme des sterbenden, schwer verletzten Mannes nach hinten und fesselten ihn. Wieder stirbt ein Mensch in Mannheim mit einer psychischen Erkrankung, wieder stirbt ein Mensch mit Migrationshintergrund. Ertekin Ö. und seine Familie durchliefen bereits zuvor einen Spießrutenlauf durch die Institutionen, ihm wurde die Hilfe verwehrt, die er benötigte. An einer Mahnwache nach der Tat nahmen Hunderte Menschen teil.
Am 23. April 2024 hielt sich ein psychisch auffälliger Mann in der Mannheimer Universitätsbibliothek auf. Dort soll dieser bereits negativ aufgefallen sein, er trug eine Machete bei sich. Eine Gefährdung der anwesenden Studierenden bestand nicht, äußerte sich ein Polizeisprecher. Der 31-Jährige wurde vor Ort von der Polizei erschossen. Das LKA (Landeskriminalamt) ermittelt wegen des Schusswaffengebrauchs durch die Polizei – in Mannheim inzwischen routinemäßig.

Ermittlungen bei tödlicher Polizeigewalt bleiben oftmals ergebnislos. Häufig werden von der Presse und weiten Teilen der Gesellschaft Narrative übernommen, die jegliche Schuld dem Opfer zuweisen und dem Handeln der Polizei vollstes Vertrauen entgegenbringen. Durch verzerrte mediale Darstellung werden eine Täter-Opfer-Umkehr weitgehend übernommen und darüber hinaus rassistische und ableistische Vorbehalte reproduziert. Ein großes Problem stellt Rechtsextremismus innerhalb der Polizei dar. Jedoch fehlt es an anonymen Beschwerdestellen. Strafbares Verhalten und Rechtsverstöße innerhalb des Polizeiapparates werden nur selten aufgeklärt, dabei ist es ganz gleich, ob es sich um schwere Körperverletzung, sexualisierte oder tödliche Polizeigewalt handelt. Das System krankt.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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