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Erich Mühsam und der deutsche Kolonialismus

| Andreas Bohne

Beitragmühsam

Vor 90 Jahren, am 10. Juli 1934, wurde der Anarchist und Antimilitarist Erich Mühsam nach 16-monatiger „Schutzhaft“ und Folter von SS-Männern im KZ Oranienburg auf bestialische Weise ermordet. Mühsam wurde nur 56 Jahre alt. Bereits in der Nacht auf den 28. Februar 1933 hatte die SA ihn verhaftet. Mühsam war ein herausragender anarchistischer Schriftsteller, regelmäßiger Autor in der „Weltbühne“ und Herausgeber und Redakteur der anarchistischen Monatszeitschriften „Kain“ und „Fanal“. 1919 war er entscheidend an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt. Dafür wurde der Publizist zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, aus der er nach fünf Jahren im Rahmen einer Amnestie freikam. Aktiv war Mühsam unter anderem in der „Anarchistischen Vereinigung“ und der anarchosyndikalistischen „Freien Arbeiter Union Deutschlands“ (FAUD). Mühsams Verhältnis zum deutschen Kolonialismus beleuchtet Andreas Bohne mit dem folgenden Artikel, der in dieser Ausgabe durch weitere Beiträge zum 90. Todestag Mühsams ergänzt wird. (GWR-Red.)

„Ich verstehe nichts von Kolonialpolitik – zugegeben! – Ich will auch gar nichts von Kolonialpolitik verstehen.“ Diese Aussage von Erich Mühsam aus der sechsten Ausgabe des ersten Jahrgangs seines „Kain“ gibt nur die halbe Wahrheit preis.
Es stimmt, dass Mühsam sich spät und nur sehr wenig – verglichen mit anderen politischen Geschehnissen – zur (deutschen) Kolonialpolitik äußerte. Dass er aber nichts verstünde, ist kaum gelten zu lassen. Er durchblickt die Brutalität und den Gegensatz zur herrschaftsfreien Gesellschaft, die er sich erträumt, sehr deutlich. Und seine Auseinandersetzung mit und seine harsche Kritik an dem Kolonialismus hatte ähnlich wie sein Engagement während der Münchener Räterepublik oder für die Rote Hilfe etwas Konkretes – und nicht nur Träumerisches. Über Erich Mühsam wurde vieles gesagt und geschrieben. Seine anti-kolonialen Gedanken sind bisher kaum aufgegriffen worden. Sie mit seinem politischen Leben und Denken ansatzweise zu vernetzen, soll im Folgenden versucht werden.

Sechs Jahre nach seiner Geburt in Lübeck am 6. April 1878 wurde das Deutsche Reich eine weitere europäische Kolonialmacht. 1884 wurden die ersten Kolonien, – euphemistisch als „Schutzgebiete“ bezeichnet –, gegründet. In den folgenden Jahren schloss Mühsam Schule und Ausbildung in Lübeck ab und seine ersten Jahre in Berlin und auf Wanderschaft waren vorwiegend von seinem Lebensstil der Bohème geprägt. Seine schriftstellerischen und politischen Tätigkeiten nahmen dennoch Fahrt auf, wie die Mitarbeit an der neugegründeten Zeitschrift „Der arme Teufel“ (1902) oder die abgefassten Gedichte für andere Zeitungen bezeugen.

Sie sind es auch, die eine erste tiefere Hinwendung und Befassung mit der kolonialen Thematik zeigen. In den Gedichten, abgedruckt im „Wahren Jacob“, nimmt er sich des OvaHerero-Nama-Krieges und der deutschen militärischen Reaktion an.
Aus Gedichten wie „Der friedliche Michel“ oder „Politikaster“ spricht der Spott und der Sarkasmus gegen die Heuchelei des deutschen Bürgertums und die Politik. Nach außen hin, ganz offiziell, gäbe sich das Deutsche Reich friedlich, jedoch wenn unterdrückte Völker wie die OvaHerero bewaffnet rebellieren, dann. so Mühsam, „schickt [man] Herrn von Trotha!“. Damit zielt Mühsam auf Lothar von Trotha, der nach seiner Ankunft in der deutschen Kolonie Südwestafrika den berüchtigten Vernichtungsbefehl zum ersten (deutschen) Völkermord im 20. Jahrhundert gab. Antimilitarismus, eines seiner Themen, verknüpft Mühsam mit seiner antikolonialen Agitation. Er kritisierte die Brutalität eines Carl Peters, eines Lettow-Vorbecks oder von Trotha, wenn sie die vermeintlichen Zivilisierungsmissionen brutal durchsetzten. Und er schreibt Gedichte zur Abrechnung mit der Obrigkeit. So wird Fürst von Bülow, der die Phrase des „Platzes an der Sonne“ geprägt hat, mit Hohn aufgrund seiner kolonialen Abenteuer überzogen.

Mühsams Zeit in München ab 1909 ist geprägt durch die Herausgabe seines bohème-anarchistischen Magazins „Kain“, das von 1911 bis zum Verbot 1914 monatlich mit einer Auflage von 3.000 Exemplaren und dem Untertitel „Zeitschrift für Menschlichkeit“ erscheint und 1918 eingestellt wird. Den Titel wählt Mühsam, weil er in der biblischen Figur des Kain den „ersten Rebellen der Menschheit“ sieht.
Auch die Gründung der „Gruppe Tat“ vor dem Ersten Weltkrieg lassen seinem Leben und politischen Aktionen etwas Stetigkeit geben. Während er seine antikoloniale Haltung anfangs noch über Spottgedichte transportiert, bietet ihm „Kain“ den notwendigen Raum für seine abrechnenden Texte. Und gerade an den Plänen von Politikern wie Gustav Stresemann, des völkischen Alldeutschen-Verbands oder der Mannesmann-Brüder, mit „Westmarokko“ eine weitere deutsche Kolonie zu begründen, kann er sich abarbeiten. Kolonialpolitik ist für ihn staatlich gelenkte Unterdrückung, Ausbeutung und Bevormundung, ein komplettes Gegenbild zum herrschaftsfreien Agieren und Denken. Er ist angewidert, wie der Kolonialismus als westliche Zivilisierungsmission gerechtfertigt wird. „Wem gehört Marokko? Den Franzosen? Den Deutschen? Den Spaniern? Allen dreien? Meine Auffassung mag weltfremd sein; ich finde, Marokko gehört den Marokkanern“, formuliert er 1911. Aber der Griff nach Marokko unterliegt vor allem ökonomischen Interessen und ist Streitobjekt zwischen französischem und deutschem Kapital. Mühsam sieht darin – so scheint es – einen Vorgriff auf den Ersten Weltkrieg. Aber Börsianer und Politiker streiten zwar, kämpfen wollen sie jedoch nicht. Dafür gibt es das Volk, die Armen auf beiden Seiten, die sich in der Armee durch ihre Not verdingen müssen. Er verknüpft die Kolonialpolitik mit der Aufforderung an Rebellion und Verweigerung in Europa.

Sein antikoloniales Verständnis traf ebenso auf seine Ablehnung der Sozialdemokratie und des Parlamentarismus zu. In seinem bekannten Text „Humbug der Wahlen“ kritisiert er, dass trotz der hohen Anzahl sozialdemokratischer Parlamentarier zwischen 1903 und 1907 sie nichts verhindert hätten: „Die Sozialdemokraten haben es mit all ihrem Krakeel nicht zu verhindern vermocht, dass Herr v. Tirpitz uns ein Flottengesetz nach dem andern bescherte. Das Bürgerliche Gesetzbuch, das Vereinsgesetz, sämtliche Kolonialgesetze mit all ihren militärischen Folgerungen sind trotz ihres Widerspruchs in ihrer Anwesenheit beschlossen worden.“ Auch als die sozialdemokratische Gallionsfigur August Bebel stirbt, benennt er dessen Schwenk von der fundamentalen Ablehnung der deutschen Kolonialpolitik hin zu einer Kolonisation Marokkos unter „geeigneten Mitteln“ als Kennzeichen des späten Bebels und der sozialdemokratischen Politik, die sich weder dem wirtschaftlichen Interesse noch dem patriotischen Taumel entziehen will.

Sein Egalitarismus ist Mühsam wichtig. In seiner letzten „Kain“-Ausgabe vor dem Ersten Weltkrieg schreibt er unter selbstgemachtem und von außen beeinflusstem Druck jedoch: „Aber ich weiß mich mit allen Deutschen einig in dem Wunsch, dass es gelingen werde, die fremden Horden von unseren Kindern und Frauen, von unseren Städten und Äckern fernzuhalten“. Dieser Satz bringt ihm nicht nur Kritik von anarchistischer und linker Seite, er beschäftigt Mühsam selbst intensiv. Wenige Monate später, im Januar 1915, bringt er seine Beschäftigung zum Ausdruck, lehnt seine Worte ab und betont die Gleichheit aller, auch aller Opfer, wenn er schreibt: „Es ist nicht wahr, dass unsere Frauen und Kinder, unsere Städte und Felder mehr wert wären als die der Galizier, Kaukasier, Polen, Bosnier, Siebenbürger, Wallonen, Franzosen, Elsässer, Ägypter, Marokkaner, Buren oder Zulukaffern. – Ich schäme mich meiner selbstischen Wallung und will sie öffentlich widerrufen, sobald es geht.“
Hier kommt sein Gleichheitsgedanke zum Vorschein, ebenso seine eigene Reflexions- und Kritikfähigkeit. Später wird er die Toten unter Schwarzen Soldaten in Europa und in den Kolonien betonen – jedoch bedient er sich gleichzeitig einer rassistischen Sprache und ist somit auch Kind seiner Zeit. In mehreren Ausführungen seines Tagebuches nutzt er das N-Wort. Zweischneidig sind seine Äußerungen, welche Afrikaner*innen eine Zivilisiertheit absprechen. Gleichzeitig aber den Deutschen ebenso. Denn das Abschlagen und die Mitnahme des Schädels von Sultan Mkwawa, der sich den deutschen Kolonialtruppen in Ostafrika widersetzte, empfindet er als inhumanen Akt. Fast lassen sich Ähnlichkeiten zu den heutigen Äußerungen deutscher Politiker*innen und Museolog*innen feststellen, wenn Mühsam anlässlich von Forderungen, den Schädel nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nach England weiterzugeben, notiert: „Aber interessant ist das Geplärr darüber, dass es eine Demütigung vor dem N-Wort sei, was man uns da zumutet. Soweit sind die Begriffe schon verwirrt. Einem N-Wort-Fürsten den Kopf abhauen und ihn als Siegesbeute mit sich fortführen in das europäische Kulturland Deutschland, das ist keine Demütigung, aber den Schädel denen wieder zuführen, die darin wahrscheinlich einen in Pietät verehrten Gegenstand sehen, das fühlt das republikanische Deutschland als Herabwürdigung.“

Für seine prominente Rolle während der kurzzeitigen Münchener Räterepublik wird er verhaftet und zu 15 Festungshaft verurteilt. Nach für fünf Jahren wird er amnestiert. Im März 1921, im Gefängnis Niederschönenfeld einsitzend, erscheint „Das schwarze Schmachlied“. Die letzte Strophe lautet:

„Strömt herbei in schwarzer Masse
und schießt los mit lautem Krach
Säubert die Germanenrasse.
Sei willkommen, schwarze Schmach.“

Das Gedicht ist Produkt der Tschekagruppe, einer Gruppe von linksradikalen Häftlingen. Mühsam – geistiger Kopf der Gruppe – hat den Text nie selbst veröffentlicht, dennoch wurde er bekannt. Der Text, weniger Ausdruck einer kämpferisch-revolutionären Haltung, sondern Lust an der derben Provokation, nimmt die rassistische Propaganda der „Schwarzen Schmach“ aufs Korn. Ein Großteil der Deutschen – nicht nur völkische und nationalistische Kreise – sehen in der Besetzung des Rheinlandes durch Schwarze Soldaten eine Schande. Dass mit dem Gedicht ein empfindlicher Nerv rechter Kreise getroffen wurde, zeigen die bis heute in sozialen Medien kursierenden Abscheubekundungen aus den entsprechenden Kreisen. (1).

Nach dem Ersten Weltkrieg lässt Mühsam seine Berührungsängste gegenüber der KPD, auch angesichts der revolutionären Aktivist*innen wie Luxemburg, Liebknecht, Leviné und anderen, etwas fallen, was in seiner kurzfristigen Mitgliedschaft kumuliert, ohne seine grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber Parteistrukturen, -apparat und -taktik aufzugeben. Am 11. September 1919 tritt Mühsam der KPD bei, die er jedoch relativ schnell nach nur sechs Wochen wieder verlässt. Auch in der Roten Hilfe wird Mühsam aktiv, tritt 1929 aus, weil er in ihr eine Organisation der KPD sieht. Ähnlich ist es mit einer anderen Organisation: Die kritische Nähe zu der KPD sorgt sicherlich für sein Engagement in der „Liga gegen koloniale Unterdrückung“. Diese wurde am 10.2.1926 gegründet. Wenig bekannt ist, dass Mühsam ein Gründungsmitglied war und als geschäftsführendes Ausschussmitglied wirkte. Sein Engagement ist nur konsequent – immer wieder äußert er seine „große Freude […] an dem prachtvoll tapferen Befreiungskampf der marokkanischen Rebellen“ und hofft, dass, wenn die Kolonisierten „den Begriff der Sammlung im Bündnis erfasst haben“, die Kolonialherren vertrieben werden. Neben linken Größen wie den „roten Medienzar“ Willy Münzenberg, Georg Ledebour – der bereits 1905 die deutschen Kolonialverbrechen gegen die OvaHerero im Reichstag scharf kritisierte –, Helene Stöcker oder Virendranath Chattopadhyaya ist er im ersten Vorstand der Liga aktiv. Auf den ersten Blick erscheint das Gründungsmanifest verwirrend, steht auf dem Titelblatt als Überschrift: „Deutschland braucht Kolonien“ und „Deutschland ohne Kolonien – Ein Rumpf ohne Glieder“. Was als vermeintlich propagandistisches Pamphlet daherkommt, ist in Wirklichkeit eine Abrechnung mit den kolonialrevanchistischen und -apologetischen Sichtweisen der Befürworter. Deren (vermeintliche) Argumente für Kolonien als notwendig für Handel, Weltprestige und Zivilisation werden widerlegt.

Er scheint aber auch hier nur ein kurzes Betätigungsfeld für ihn, den unstetigen Geist, zu finden. Auf einem Rundschreiben der Liga vom Juli 1926 ist er schon nicht mehr aufgeführt. Ein Grund mag die Gründung seiner neuen Zeitschrift „Fanal“ im Oktober 1926 sein. Hier kann er – ähnlich wie im „Kain“ – frei schreiben was er denkt, bis seine „Anarchistische Monatsschrift“ (Untertitel) im Juli 1931 wegen „Verächtlichmachung der Reichsregierung“ verboten wird. Der Sichtweise der „Liga“ bleibt er zwar treu, wenn er über deren ersten antikolonialen Kongress in Brüssel 1927 berichtet und betont: „Der Befreiungskampf der Kolonialvölker, dieser wichtige Teilkampf der Weltrevolution, hat begonnen“. Damit setzt er den antikolonialen Kampf gleichberechtigt mit den Kämpfen der Arbeiter*innen in Europa. Dennoch finden sich in den folgenden Jahren kaum noch Äußerungen zum Kolonialismus, wenn er auch immer wieder antikoloniale Bewegungen weltweit wie in Indien erwähnt und sie mal kritisch, mal begeistert beschreibt. Dennoch, sein agitatorisches Betätigungsfeld wird zunehmend der Kampf gegen den zunehmenden Faschismus und für eine linke Gegenwehr.

Enden möchte ich mit dem ergänzten Eingangszitat, bringt es doch die Ansicht Mühsams auf den Punkt: „Denn, scheint mir Politik selbst schon wahnwitziges Getue, so dünkt mich Kolonialpolitik vollends unmenschliches Verbrechen.“

(1) Ich danke Chris Hirte für den Hinweis.

Dr. Andreas Bohne ist Leiter des Referats Afrika der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Seine Interessensgebiete sind deutsche Kolonialgeschichte, rechte Akteur*innen und Politik des Südlichen Afrika.

 

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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