Ein Nochnichtort der Anarchie

So könnte es in einer herrschaftsfreien Gesellschaft sein: „Tausend und ein Morgen“

| Thomas Stölner

Ilija Trojanow: Tausend und ein Morgen, Roman,S. FISCHER, Frankfurt/M. 2023, 528 Seiten, 30 Euro, ISBN 978-3-10-397339-6

Ziemlich am Ende von Ilija Trojanows neuestem Roman „Tausend und ein Morgen“ entspinnt sich ein Dialog zwischen der Zeitreisenden Cya und ihrem Geliebten, dem russischen Dichter Wolodja (1):
„ ‚Was schmerzt dich am meisten?‘
‚Einer von tausend wird zu jenem ehrlichen, anständigen Wesen, das in ihm schlummert.‘
‚Bei uns ist es umgekehrt: Einer von tausend wird nicht zu einem ehrlichen, anständigen Wesen.‘ “ (S. 483).
So könnte es sein, in einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Alles ganz anders. Wenn mir heute Leute aus meiner Kindheit begegnen, keine Masse, keine Gruppe, sondern einzelne, mit denen ich Fußball gespielt, die Schulbank gedrückt oder Räuber und Gendarm gespielt habe, liegt mir diese Frage auf der Zunge. Warum ist die Person heute (meist) ein viel fliegendes, Auto fahrendes, viel konsumierendes, Flüchtlinge skeptisch betrachtendes, unsere Wirtschaftsweise als überlegen haltendes Wesen? Und warum kein Mensch, der glaubt und sein Leben danach ausrichtet, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist?
Die Chronautin, wie die Zeitreisenden im Roman heißen, wollen und können nicht akzeptieren, dass das Kapitalozän die Menschen der Vergangenheit so zurichtet. Deshalb reisen sie in die Vergangenheit, um das zu ändern. Sie wählen neuralgische Punkte, an denen größere Veränderungen noch möglich scheinen, „Kipppunkte“, an denen der Aufbruch in eine herrschaftsfreie Welt möglich scheint, wie 1722 in der Karibik, als Meeresströme noch keine Kapitalströme geworden sind und die Piraten im Bündnis mit den Maroons (2) zusammen die Kolonialmacht England hätten besiegen können. Zu deren Zusammenarbeit wollten Cya und ihr Buddy Samsil beide Gruppen bewegen. Von ihrem Gelingen hängt es ab, ob die Geschichte eine Abzweigung in eine bessere Welt nimmt.
Über die Piraten hat auch David Graeber ein Buch geschrieben. Ihre soziale Ordnung der Selbstbestimmung war seiner Meinung nach eine Herausforderung für die europäische Aufklärung, die sie mit ihrer eigenen beeinflusst hätten. Trojanow spinnt dieses Experiment erzählerisch weiter, dessen Ausgang wir noch vor uns haben.
Den nächsten Besserungsversuch startet Cya in unserer nahen Zukunft in Bombay, um einen gewaltsamen Konflikt zu verhindern. Wieder begleitet sie GOG, eine künstlichen Intelligenz, die für sie übersetzt, dabei ein gewisses Eigenleben entwickelt und ihr manchmal die Erzählperspektive entreißt. In der Stadt, in der der Autor für längere Zeit gelebt hat, steht sie Senior Inspector da Costa bei, um einen Mord aufzuklären. Das gibt sie zumindest vordergründig an. In Wahrheit geht es um die Verhinderung eines religiösen Konflikts zwischen und unter den verschiedenen hinduistischen und muslimischen Gruppen, der sich um ein ominöses Idol entzündet. In dieser Erzählung im „Damalsdort“ bringt Ilija Trojanow die zusätzliche Perspektive des Kommissars ein. Da Costa ist einer dieser Menschen, der sich ehrlich um Anstand bemüht, aber sich aus Liebe den herrschenden Bedingungen beugt. An ihm wie an den anderen Figuren erleben wir, wie das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein und Leben bestimmt. Aber es könnte alles ganz anders sein. Immer wieder erfahren wir im Laufe der utopischen Erzählung, wie die Gesellschaft der Zukunft sich organisiert. Der Kontrast schockiert die Chronautin ein ums andere Mal. Zu unverständlich sind „unsere“ gewalttätigen Umgangsweisen und Organisationsformen.
Nicht freiwillig landet Cya auf dem Rückweg ihrer Raumzeitreise im Sarajewo von 1984. Die von Spionageaktivitäten durchtränkten olympischen Spiele zeigen eine Welt, in der selbst der vermeintlich friedliche Sport von Herrschafts- und Überlegenheitsphantasien dominiert wird. Wohin eine solche Durchherrschung führen kann, sehen die beiden Raumzeitreisenden auf ihrem Rückweg in ihre Zeit auf einem verunglückten Zwischenstopp zehn Jahre nach den Spielen. Wenn nur einer von tausend zu einem ehrlichen, anständigen Wesen werden kann, muss es diese Folgen zeitigen.
Als letzten Kipppunkt suchen Cya und Samsil die russische Oktoberrevolution 1917 auf, um das Damalsdort in eine befreite Gesellschaft zu leiten. Wie in allen Erzählungen Trojanows spielt auch hier eine Liebesgeschichte eine zentrale Rolle, hier zwischen Wolodja und Cya. „Wolodja ist ein Pfeil der neuen Zeit, der sich selbst verschießt.“ (S. 490). Er will die Kunst zu allen Menschen bringen, in die Fabrik, an die Fassade, auf die Straße (3). Ob Ilija Trojanow das mit dem bürgerlichen Mittel des Romans erreicht, liegt nicht zuletzt an uns, aber wenn es dadurch gelingt, zwei von tausend zu erreichen, kommen wir der Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft näher als es Wolodja für seine Welt vermutet hat.
Wie zuvor auch schon die Bestsellerautorin und gewaltfreie Anarchistin Ursula K. Le Guin (1929–2018), zeigt der bekennende Utopist und Anarchist Trojanow auch die Widersprüche einer befreiten Gesellschaft (4), aber seine Erzählung in den Nochnichtort der Anarchie ermutigt und beflügelt, es mit der Realität aufzunehmen.

(1) In Wirklichkeit hieß er Wladimir 
Wladimirowitsch Majakowski und war ein Dichter und führender Vertreter des russischen Zweigs des Futurismus.
(2) Das waren entlaufene Sklaven, die sich der Sklaverei durch Flucht oder aktiven Widerstand entzogen. Es gab vereinzelte Gruppen von Afrika über die Karibik bis in die Vereinigten Staaten von Amerika.
(3) Wen die Frage interessiert, welchen Stellenwert die Kunst in linker Theorie einnimmt und was sie vermag, greife zu Jens Kastner: Die Linke und die Kunst, Ein Überblick, 1. Edition, Münster 2019.
(4) Wie polykephale Gesellschaften mit Verbrecher:innen umgehen, kann man mit viel Gewinn nachlesen bei Hermann Amborn, Recht als Hort der Anarchie, 1. Auflage, Berlin 2016 (Fröhliche Wissenschaft).