Moral gegen Gewalt und Terror

Eine Rezension als Diskussionsbeitrag

| Wolfgang Haug

Isaak Steinberg: Gewalt und Terror in der Revolution. Das Schicksal der Erniedrigten und Beleidigten in der Russischen Revolution. Anares Verlag, Bremen 2024, 356 Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3-935716-83-3.

Isaak Steinbergs „Gewalt und Terror in der Revolution“ wurde 2024 von Gerald Grüneklees Anares Verlag in Bremen neu herausgegeben. Zwei Vorgänger gab es von diesem Werk des russischen linken Sozialrevolutionärs. 1931 erschien seine Analyse der Russischen Revolution erstmals auf Deutsch bei Rowohlt in Berlin und in einer kleinen Teilauflage wurde sein Buch auch von der „Gilde Freiheitlicher Bücherfreunde“ der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) angeboten. 1974 erschien es erneut im Berliner Karin Kramer Verlag.
Zeitgenoss*innen wie Emma Goldman, Alexander Berkman, Augustin Souchy, Pierre Ramus oder Victor Serge haben sich deutlich positioniert und die bolschewistische Partei Lenins und Trotzkis für den Niedergang einer Revolution verantwortlich gemacht, die ursprünglich von breiten Volksmassen getragen war. Die Neuauflage ist dennoch begrüßenswert, weil Steinberg eine gründliche Analyse von Gewalt und Terror leistet.
Wer war Isaak Steinberg, der selten Erwähnung findet und doch in vielerlei Kontexten Bedeutung hat. In seinem Nachwort formuliert es Hendrik Wallat treffend: „Steinberg war stets die lebendige Ausnahme von der Regel: lebenslang gläubiger Jude und zugleich sozialrevolutionärer Maximalist, promovierter Jurist und Verteidiger des Rechtsstaats und im Herzen doch Anarchist, führender Protagonist der territorialistischen Rettung der osteuropäischen Juden und ihrer Kultur und zugleich Kritiker Israels und des staatszentristischen Zionismus, fest verwurzelt in der jiddischen Kultur seiner baltisch-russischen Heimat und zugleich Kosmopolit in jedem erdenklichen Sinne des Wortes.“ (S. 342)
Sein Buch verfasste Steinberg zwischen 1920 und 1923 in Moskau, in einer Zeit, als die bolschewistische Partei andere sozialistische Revolutionär*innen aller Richtungen als Konkurrent*innen verfolgte, in die Gefängnisse verbrachte oder sie ins Exil trieb.
Vor der deutschen Veröffentlichung 1931 erschien das Buch in russischer Sprache 1923 im Skythen-Verlag der vertriebenen Sozialrevolutionäre in Berlin.
In seiner Analyse bezieht Steinberg auch die Französische Revolution mit den Antagonisten Danton und Robespierre mit ein. Es gelingt ihm, alle sozialistischen Richtungen in seine Betrachtungen aufzunehmen. Zunächst kreist er um die Frage „Welche Gewalt ist erlaubt?“
Angesichts der Zerstörung der sozialen Revolution durch den Bolschewismus folgert er, dass auch das „Gewaltrecht des Guten“, das Ernst Bloch definierte, sich notwendig in Böses verkehrt. Eine soziale Revolution, die die Selbstbefreiung des Menschen zum Ziel erklärt, kann diese Selbstbefreiung während des revolutionären Prozesses nicht – auch nicht zeitweise – durch Fremdbestimmung erreichen. Wenn die soziale Revolution Befreiung und nicht Rache sein will, übernehmen die Protagonist*innen Verantwortung für ihre Handlungen. „Kein Unrecht kann ihr eigenes Unrecht legitimieren oder aufwiegen.“ (Hendrik Wallat, S. 351) Oder in Steinbergs Worten: „Gerade das Verhalten gegenüber den Feinden ist der Prüfstein für die sittliche Standhaftigkeit der Menschen und der Revolution.“(S. 139) Wenn Gewalt akzeptiert wird, weil niemand einen anderen Weg zur Befreiung des Menschen sehen kann als über einen gewaltsamen Aufstand oder Umsturz der bestehenden gewalttätigen Verhältnisse, akzeptiert man in derselben Logik auch den Terror als unvermeidlich.
Nichts lehnt Steinberg aber mehr ab als eine innewohnende Logik in die falsche gesellschaftliche Richtung. Von Anfang an, so fordert er, muss erkannt werden, dass die herrschende Gewalt zum Schutz der bestehenden Verhältnisse zwar durch eine zeitweilige Gegengewalt durchbrochen werden muss, dass diese wenn unvermeidbar, aber dennoch unzulässig ist. Seine Vorstellung um aus diesem Dilemma herauszufinden, beruht darauf, dass die Gewalt von Anfang an „begrenzt“ werden, „verantwortungsvoll“ eingesetzt und defensiv sein muss. Auch in dem „Zustand der Notwehr darf die Gewalt die Grenzen des Unvermeidlichen nicht überschreiten.“ (S. 144) Für ihn steht fest, dass jede Gewaltanwendung auch immer gegen die Täter selbst gerichtet ist.
An dieser Stelle unterscheidet Steinberg die Gewaltdefinition von der Terrordefinition. Sah er den Terror zunächst als die Gewaltausübung auf einer institutionalisierten Ebene der Revolution oder ausgeübt von totalitären Systemen, so grenzt er nun die Terrordefinition genauer ein. „Der Terror strebt nicht nach Selbstbeschränkung, sondern nach Ausdehnung seiner Sphäre.“(S. 145) An einem extremen Punkt berühren sich Gewaltausübung und Terror; bei der Verhängung der Todesstrafe. Das Morden von oben ist für ihn keine Gewalt mehr, sondern ein grundsätzliches Mittel des Terrors. Wenn Terror erforderlich ist, um eine Revolution siegreich zu gestalten, muss darauf verzichtet werden. Aus dem eigenen Erleben stellt Steinberg fest, dass der Terror der Russischen Revolution nicht von den Arbeiter*innen ausging, sondern dass er „künstlich von oben durch einen Teil der revolutionären Intellektuellen eingeimpft“ wurde. (S. 156)
Steinberg versucht im Folgenden vielerlei Begründungen für die Anwendung von Gewalt und Terror aufzugreifen, zu diskutieren und zu hinterfragen, wie etwa die Haltung Robespierres: „Die Regierung der Revolution ist die Despotie der Freiheit gegen die Tyrannei.“ (S. 254)
Die Bolschewiki sieht er mit der „Diktatur des Proletariats“ in dessen Nachfolge, weil auch sie andere Prinzipien der sozialistischen Bewegung, wie Brüderlichkeit, Liebe, Solidarität mit den Schwachen, außer Acht lassen.
Steinberg beginnt seine Schlussfolgerungen mit dem Satz: „Wir sprechen allen revolutionären Gewalthandlungen jede sittliche, sozialistische Würde entschieden ab.“ Die Gewalt „steht im schärfsten Widerspruch zum Geist des sozialistischen Ideals.“ (S. 290)
Er akzeptiert aber die Gewalt, wenn ihre Ablehnung bedeuten würde, ein totalitäres Gesellschaftsgebilde bestehen und Menschen leiden zu lassen. Gewalt darf jedoch kein dauerhafter Prozess werden, muss in die Verantwortung genommen werden und muss sich des falschen Vorgehens bewusst sein. Das „moralische Prinzip“ muss bestimmend bleiben. „Nur als eine moralische Bewegung wird der Sozialismus den Menschen befreien oder gar nicht.“ (S. 326)