Während der drei Landtagswahlen im September 2024 in Thüringen, Sachsen und Brandenburg erreichte die AfD jeweils um die dreißig Prozent. Dies ist besonders problematisch, weil die Partei in diesen Bundesländern überdurchschnittlich faschistisch ist.
Zwischen den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg wurde zudem Friedrich Merz zum CDU/CSU-Spitzenkandidaten für die Bundestagswahlen 2025 gekürt. Diese Kombination bereitet mir besondere Bauchschmerzen. Hier scheint sich etwas bewahrheitet zu haben, was vor 15 Jahren von Teilen der „Aktion Linkstrend stoppen“ gehofft wurde: Wenn rechts der CDU/CSU eine neue Partei entsteht, muss die CDU mit dieser Partei um rechte Wählerstimmen kämpfen. Das sei dann der Zeitpunkt, zu dem Friedrich Merz aus der Versenkung wieder auftauchen könne, um Bundeskanzler zu werden.
Merz, der für einen strengen neoliberalen Kurs in der CDU stand, hatte 2007 parteiintern den Machtkampf gegen Angela Merkel verloren. Seinen (vorläufigen) Rückzug aus der Politik gab er 2007 in einem „Fazit“ im Magazin „Cicero“ bekannt. Er beklagte, dass das deutsche Verhältniswahlrecht zu wenig personenzentriert sei und lobte unter anderem das US-amerikanische Mehrheitswahlrecht, welches übrigens Trump 2016 zum US-Präsidenten machte, obwohl er etwa drei Millionen Stimmen weniger erhielt als seine Gegenkandidatin Hillary Clinton.
Friedrich Merz: „Wenn wir das Interesse für die Wahlen wieder steigern wollen, dann muss das Wahlrecht – übrigens nicht nur bei den Abgeordneten! – stärker persönlichkeitsbezogen werden. Es ist kein Zufall, dass Wahlen in Ländern mit Mehrheitswahlrecht einerseits spannender sind und andererseits für klare Verhältnisse sorgen. Die USA, Großbritannien, Frankreich und viele andere Länder haben diese Erfahrung gemacht. Das Mehrheitswahlrecht stärkt die Bindung der Abgeordneten an ihre Wahlkreise, und es macht die Abgeordneten unabhängiger von ihren politischen Parteien. […] Natürlich gibt es gegen das Mehrheitswahlrecht und gegen die strikte Gewaltentrennung gewichtige Gegenargumente. Aber die Zeit ist reif für eine Grundsatzdebatte über die Zukunft unseres Parlamentarismus. […] Und die darf nicht Halt machen vor den institutionellen Regeln unseres Grundgesetzes“ (1)
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Sozialabbau und Demokratieabbau zusammengehören. Schon immer forderten Neoliberale weitere Einschränkungen des Wahlrechts. Ich hatte 2013 in meinem Buch „Rechte Euro-Rebellion“ ein ganzes Kapitel zu den demokratiefeindlichen Einstellungen der neoliberalen Gründergeneration der AfD verfasst.
Der Neoliberalismus liebäugelt nicht nur direkt mit Demokratieeinschränkungen, er stärkt auch faschistische Ideen. Dieser Zusammenhang ist seit fast einem Jahrhundert bekannt. Herbert Marcuse hatte ihn im Pariser Exil Anfang der 1930er Jahre im Beitrag „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“ herausgearbeitet: Der Faschismus sei mit der „Grundstruktur“ des Liberalismus weitgehend einverstanden: „[…] die privatwirtschaftliche Organisation der Gesellschaft auf der Basis der Anerkennung des Sondereigentums und der Privatinitiative des Unternehmers“. (2)
Auch heute gilt: An dem Erstarken von faschistischer Ideologie und Mobilisierung ist der Neoliberalismus alles andere als unschuldig. Wir können den Neoliberalismus gleich dreimal als (mit)verursachenden Faktor benennen: Während die neoliberale Politik die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden lässt, verbreitet die neoliberale Ideologie die machiavellistisch-sozialdarwinistische Einstellung des Kampfes jeder gegen jeden, was zur Verrohung führt.
Drittens gründeten Neoliberale Parteien wie die AfD, welche sehr früh, quasi noch im Anfangsjahr, zu einem Gärbecken des Faschismus wurde.
Faschistische Ideologie gedeiht besonders gut in einem Klima der Angst. Wenn die Menschen sich existenzielle Sorgen um Wohnraum und Gesundheit machen müssen, ist dies der ideale materielle Nährboden für rassistische und autoritäre Ideen. Wenn zudem noch die Ideale von emanzipatorisch-solidarischen Fortschritt durch einen zynischen und kaltherzigen Kampf gegen das „Gutmenschentum“ angegriffen und zerstört werden, spielt das dem neuen Faschismus ideologisch in die Hände, er kann mühelos am Verächtlichmachen von Menschlichkeit andocken. Der Neoliberalismus stellt also die materielle und ideologische Grundlage für den Faschismus her und baut zudem noch Parteistrukturen auf, die den Faschist*innen überlassen werden.
Faschistisches Erstarken seit der Weltwirtschaftskrise 2008
Wir können die AfD nicht aus Ostdeutschland heraus erklären, sie ist auch mehr als ein deutsches Phänomen. Wir haben seit einigen Jahren ein Erstarken der rechten Bewegungen und Parteien und können materialistisch die Weltwirtschaftskrise von 2008 als eine Ursache benennen. Heitmeyer konstatierte 2010 eine „Verrohung des Bürgertums“, welche schon vor der Sarrazin-Debatte begonnen habe. Allerdings glaubte er noch nicht an den Erfolg einer neuen Partei: „Der Aufruf zur Gründung einer Partei rechts von der CDU ist bereits gestartet, das Potenzial dazu ist ebenso vorhanden wie die schon markierten Opfer von Abwertung und Diskriminierung aus ökonomischen wie kulturell entwickelten Gründen. […] Eine solche Partei scheint eher unwahrscheinlich, aber eine verdeckte Bewegung, die sich nicht auf der Straße zeigt, aber in den Mentalitäten aufschaukelt, existiert längst. […] Der Lodenmantel will nichts mit der NPD zu tun haben.“ (3)
Während die neoliberale Politik die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden lässt, verbreitet die neoliberale Ideologie die machiavellistisch-sozialdarwinistische Einstellung des Kampfes jeder gegen jeden, was zur Verrohung führt.
Diese Partei entstand durch ein Bündnis von Lodenmantel-Trägern, wenn man Wirtschaftsprofessoren so nennen darf.
Die AfD entstand zur Verteidigung der Niedriglohnpolitik
Der AfD ging das sogenannte „Bündnis Bürgerwille“ von Bernd Lucke voraus. Dieses basierte auf der „Bogenberger Erklärung“ des unternehmernahen Ifo-Instituts, welches sich dagegen verwahrte, dass Frankreich die Niedriglohnpolitik von Deutschland kritisierte. Ebenfalls Mitglied im Bündnis Bürgerwille war Dagmar Metzger, die gute Kontakte zu August von Finck hatte. Der Milliardär August von Finck machte eine Anschubfinanzierung für die AfD klar und wahrscheinlich erhoffte er sich damit die Vertretung einer Politik, die in seinen letzten Lebensjahren von seinen Angestellten Stephan Ring, Thorsten Polleit und Markus Krall gefordert wurde: die Verwandlung der neoliberalen in die noch sehr viel fanatischere rechts“libertäre“, oder besser ausgedrückt: proprietaristische Politik (4).
Faschisten wie Björn Höcke und Andreas Kalbitz schreckte das nicht ab. Im Gegenteil, nur wenige Tage nach der Parteigründung traten sie in die AfD ein und machten rasend schnell Karriere. Und längst nicht alle Neoliberalen bzw. Proprie-tarist*innen sahen das als Problem.
Das Beispiel Frauke Petry
Es hätte meiner Meinung nach 2015 die Möglichkeit gegeben, Björn Höcke aus der Partei zu schmeißen. Der AfD-Bundesvorstand hatte sich sogar mehrheitlich für die Amtsenthebung Höckes ausgesprochen. Nur Frauke Petry und Alexander Gauland hatten gegen diese Amtsenthebung gestimmt, wie der Spiegel damals zu berichten wusste:
„Während AfD-Mitgründer Bernd Lucke und weitere vier Vorstandsmitglieder für das Enthebungsverfahren votierten, stimmten AfD-Vize Alexander Gauland und die Vorstandssprecherin Frauke Petry dagegen. Beide werden dem rechtskonservativen Flügel zugerechnet. Konrad Adam, mit Lucke und Petry gleichberechtigter dritter Vorstandssprecher und ebenfalls vom rechtskonservativen Flügel, nahm an der Telefonschalte nicht teil.“ (5)
Hätten sich damals Petry und Marcus Pretzell hinter Lucke und Henckel gestellt, ebenso wie die Neoliberalen Jörg Meuthen und Alice Weidel, die mit deren Ausscheiden ihre Karriere begannen, hätte es also eine geschlossene neoliberale Front gegen Höcke gegeben. Dann wäre die AfD vielleicht eine andere geworden. Als sich Frauke Petry 2017 gegen Höcke stellte, weil ein Parteigutachten unter anderem ergeben hat, dass ich Recht hatte mit der Einschätzung, dass Höcke Neonazi-Texte in Neonazi-Zeitungen bei einem Neonazi verfasst hatte, war es zu spät.
Frauke Petry ist noch immer politisch aktiv. Im September 2024 trat sie beim sogenannten „Bürgergipfel“ in Stuttgart auf. Organisiert wurde dieser Gipfel von Oliver Gorus, Markus Krall und „Tichys Einblick“. Roland Tichy gab Markus Krall u. a. mit Interviews Reichweite, damit dieser seine demokratie- und sozialfeindlichen Positionen verbreiten konnte. Oliver Gorus hat sich bereits 2019 direkt hinter die antidemokratische Forderung von Markus Krall gestellt: „Eine sehr gute Idee, die ich auch bei @Markus_Krall gehört habe: Jeder, der Transferleistungen vom Staat beziehen kann, soll die Wahl haben: entweder Leistungsbezug oder Wahlrecht. Wer auf anderer Leute Kosten lebt, soll nicht über Mittelverwendung mitbestimmen dürfen.“ (6)
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Frauke Petry nicht wusste, wo sie dort auftritt. Sie scheint aus dem Schaden, den sie mit der Etablierung der AfD angerichtet hat, nicht klug geworden zu sein.
Heißt Merz mehr AfD?
Wenn der Faschismus durch Sozialabbau und sozialdarwinistische Ideologie und politisch kompatible Strukturen gefördert wird, so können wir keinesfalls erwarten, dass ein Bundeskanzler Merz zur Eindämmung der AfD führt.
Zwei weitere Punkte lassen Merz in der Regierung noch problematischer erscheinen: Es droht die Pseudolösung der Klimakrise durch einen nationalistischen Klimafaschismus (7) und es droht eine Modernisierung des Faschismus, die sich aus einer Verschmelzung von ultrakapitalistischen mit völkisch-autoritären Ideen ergeben könnte, beispielsweise durch die Schaffung privatwirtschaftlich geführter Migrationsstädte im globalen Süden.
Apropos Privatstädte: Das Verfassungsgericht von Honduras hat die Privatstädteprojekte für illegal erklärt.
The future is unwritten.
(1) Friedrich Merz: Ein Fazit, in: Cicero, März 2007
(2) Herbert Marcuse: „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“, Zeitschrift für Sozialforschung III/2, Paris 1934
(3) Wilhelm Heitmeyer, zit. n. Philipp Gessler: Das Bürgertum verroht, in: taz, 03.12.2010
(4) Siehe: Proprietarismus: Eine neue Form von Faschismus? Es gibt keinen „Anarchokapitalismus“ oder Rechts„libertarismus“. Andreas Kemper, in: GWR 483, November 2023, https://www.graswurzel.net/gwr/2023/10/proprietarismus
(5) Severin Weiland: AfD-Vorstand will Höckes Amtsenthebung, Spiegel 12.05.2015
(6) Twitter, 9.11.2019
(7) Cara New Daggett: Petromaskulinität, Berlin 2023
Andreas Kemper ist Soziologe und Publizist. Er deckte auf, dass Björn Höcke und der Neonaziautor Landolf Ladig ein und dieselbe Person sind. Dies führte zur Überwachung des Faschisten Höcke und der AfD durch den Verfassungsschutz. Kemper ist seit über 20 Jahren Autor der Graswurzelrevolution. Im Sommer 2024 erschien in der GWR 490 sein Artikel „Menschenpark der wohltemperierten Grausamkeit. Der Kampf gegen den Faschismus lohnt sich“, https://www.graswurzel.net/gwr/2024/06/menschenpark-der-wohltemperierten-grausamkeit/
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.