Buchbesprechung

Ein Buch für alle Antimilitarist:innen

Sterben und sterben lassen – Der Ukrainekrieg als Klassenkonflikt

| Barbara Renz

AK Beau Sejour: „Sterben und sterben lassen – Der Ukrainekrieg als Klassenkonflikt, Die Buchmacherei, Berlin 2024, 208 Seiten, 15 Euro, ISBN 978-3-9826199-1-0

38 Delegierte sozialistischer Gruppen und auch einige Anarchisten fuhren am 5. September 1915 in vier Kutschen als Vogelkundler getarnt zur Pension „Beau Sejour“ in Zimmerwald im Berner Mittelland. Sie standen nicht für die „nationale Solidarität mit der Ausbeuterklasse, sondern auf dem Boden der internationalen Solidarität des Proletariats und des Klassenkampfes“, wandten sich gegen die Unterstützung der Kriegsführung des Ersten Weltkriegs durch die sozialistischen Parteien und Arbeiterorganisationen und riefen auf, das „Ringen um den Frieden aufzunehmen“, sich nicht mehr in den „Dienst der herrschenden Klassen“ zu stellen, sondern für die „Ziele des Sozialismus, für die Erlösung der unterdrückten Völker wie der geknechteten Klassen einzutreten durch den unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf“. Es war der Anfang einer antimilitaristischen Wende in der Arbeiterbewegung, die mit der Revolution in Russland 1917 und der Revolution in Deutschland 1918 tatsächlich den Weltkrieg beendete. Es war also der Anfang der erfolgreichsten Friedensbewegung aller Zeiten.

An diesen Appell für den Frieden wollen die nicht als Vogelkundler, sondern als „AK Beau Sejour“ getarnten Herausgeber des im September 2024 erschienenen Buches „Sterben und Sterben lassen“ anknüpfen. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine waren, so stellen sie im Vorwort fest, „der Militarismus und der Ruf nach Aufrüstung (…) plötzlich nicht mehr die Sache der politischen Rechten, sondern fanden ihre mitunter vehementen Fürsprecher in linken und linksliberalen Milieus, wo die Remilitarisierung der Deutschen offen zur antifaschistischen Pflicht erklärt wurde. (…) Dieser neue progressive Militarismus befiel selbst Teile der sozialistischen, anarchistischen und autonomen Linken.“
Der Band richtet sich „an alle Antimilitarist:innen, die gegenwärtig wohl leider ebenso minoritär sind, wie die sozialistische Kriegsgegner“, die sich 1915 in Zimmerwald trafen. Das Wort „ebenso“ dürfte es nicht ganz treffen.

Genauso wie die Kriegsgegner 1915 in Zimmerwald, liegen die Beiträge des Bandes keineswegs auf einer Linie. Es geht richtig gut los. Den Anfang machen Interviews und Artikel mit Kriegsgegner:innen aus der Ukraine und Russland, die dem von ukrainischen Gruppen auch in linken Publikationen verbreiteten Narrativ des „antiimperialistischen Volkskrieges“ entgegentreten. Ein Informatikstudent aus dem westukrainischen Lemberg, der sich dem Kriegsdienst in der Ukraine entzogen hat, deshalb in der Ukraine untertauchen musste, bevor ihm die Flucht ins Ausland gelang, schildert anschaulich die Zeit der russischen Invasion und plädiert für die Unterstützung von „Massendesertionen und Meuterei auf beiden Seiten“. Die anarchistische Gruppe Assembly aus Charkiw, die wegen der Repression des Staates fast vollständig klandestin und online arbeiten muss, schildert den bedrückenden Alltag in der Frontstadt mit einst mehreren Millionen Einwohner:innen. „Mittlerweile ist der durchschnittliche Bewohner so ca. 50 Jahre alt. Schaut man sich unsere öffentlichen Plätze an, so fällt auf, dass kaum Männer im wehrfähigen Alter unterwegs sind. Es herrschen Depression, Alkoholismus und totale Traurigkeit.“
„Wir versuchen aufzuzeigen, dass die Desertion eine bewusste politische Position ist, die sich verweigert für die Villen und Yachten anderer zu töten und zu sterben“, wobei sie explizit auch russische Soldaten zur Desertion aufrufen. Der Beitrag der „Arbeiterfront der Ukraine“ liest sich freilich wie ein MLPD-Flugblatt und der Artikel von Maxim Goldarb von der Union der Linken Kräfte aus der Ukraine ist vor allem wegen der Darstellung der politischen Repression in der Ukraine von Interesse.
Neben diesen Stimmen aus Russland und der Ukraine gibt es einen lesenswerten Text von Axel Berger zur Geschichte der Zimmerwalder Linken und anschließend beschreibt der omnipräsente Peter Nowak, wie (fast) immer verlässlich, theoretische und praktische Ansatzpunkte des Antimilitarismus in Europa, etwa die Proteste der italienischen Basisgewerkschaft USB gleich nach Kriegsbeginn.

Unter den weiteren Beiträgen sind der von Ewgenyi Kasakow über die russische Opposition, das Interview mit Felix Laitner zur Restauration des Kapitalismus in Russland und ganz besonders der Beitrag der britischen Gruppe „critisticuffs“ hervorzuheben. Ausgehend von den Auseinandersetzungen der Friedensbewegung in UK arbeitet die Gruppe „critisticuffs“ die strategischen Hintergründe der Konfrontation heraus: „Für Russland und die USA geht es um alles.“
Nach einer quellenreichen Analyse der Atomwaffenstrategien beider Seiten, wie ich sie seit der Friedensbewegung der 80er Jahre, als das Wissen um NATO Strategien wie „Airland-battle 2000“ Allgemeingut war, selten gelesen habe, kommen sie zu dem Schluss: „Für Russland und die USA steht auf dem Spiel, was sie als Nationen sind und zu sein beanspruchen. Für die eine Seite ihr Status als Großmacht und geachtetes Mitglied der Staatenwelt, für die andere Seite ihre konkurrenzlose Stärke und uneingeschränkte Weltherrschaft.”
Leider fallen demgegenüber die Beiträge von Aaron Eckstein/Ruth Jackson von der Internetzeitung „communaut“ deutlich ab. Den Mangel an konkreter Analyse wollen sie durch ein Übermaß an „Einschätzungen“ des „geopolitischen Kontextes“ ausgleichen, dessen Substanzarmut durch den Vergleich mit dem Beitrag der „critisticuffs“ ins Auge fällt. Gleiches gilt, wenn Klaus Dallmer unter der neugierig machenden Überschrift „Was treibt die Linke in die Arme ukrainischer Nationalisten“ das Verhältnis Deutschlands zu den USA als „Vassallensystem“ bezeichnet und beklagt, dass Sahra Wagenknecht und Sevim Dağdelen in der Linkspartei auf wütende Proteste stoßen. Da hätte man dem Autor doch besser Gelegenheit gegeben, seinen aus dem Oktober 2022 stammenden Beitrag zu überarbeiten. Der Beitrag von Rainer Zilkenat zur Ukraine-Politik des Deutschen Reiches ist zwar interessant, man wird freilich den Verdacht nicht ganz los, dass nicht nur eine historische Kontinuität der Kriegsgegner, sondern so etwas wie eine historische Kontinuität des Imperialismus beschworen werden soll. Dabei hat die „Europäischen Friedensordnung“ von heute, also der Imperialismus des 21. Jahrhunderts nur noch sehr wenig mit dem Imperialismus am Anfang des 20. Jahrhunderts zu tun. Konkrete Analysen insoweit fehlen in dem Band freilich, vom Beitrag der Gruppe „critisticuffs“ abgesehen.

Die Schwächen des Buches ändern aber nichts daran, dass es ein wichtiger und überfälliger Aufschlag für eine linke antimilitaristische Debatte ist. Denn Zimmerwald erinnert daran, dass der Kampf gegen den Krieg ohne den Kampf gegen den Kapitalismus nicht zu haben ist und damit etwas grundlegend anderes ist, als auf Friedenskundgebungen die regierenden Politiker:innen daran zu erinnern, was ihre „Pflicht“ ist und diejenigen zu beklatschen, die gerne regieren wollen.

Auch wenn eine neue Zimmerwalder Linke wohl jenseits jeder Vorstellungskraft und Phantasie liegt, die Vorschläge der Konföderation der revolutionären Anarchosyndikalisten aus Russland klingen gut:

„1. Nicht mit den Wölfen heulen, keine Unterstützung der Staaten, des Krieges der Nationalismen, jeglicher Einheit der Nation und der Klassenkollaboration.
2. Reale Kriegsgründe erklären, es ist revolutionär die Wahrheit zu sagen.
3. Praktische Aktivitäten gegen den Krieg entwickeln, wie klein diese auch sein können, Propaganda, Sabotage des Krieges und der Armeemobilisierung, praktische Solidarität mit Deserteuren, Kriegsverweigerern usw.
4. Partizipation (mit eigener Position) in den konkreten Klassenkonflikten, sozialen Kämpfen….”.

Die 208 Seiten sind eng bedruckt, die 15 Euro gut angelegt.