Mag Wompel wurde 1960 in Polen geboren, als Teenagerin ist sie über die Schweiz und etliche weitere Stationen im Ruhrgebiet gelandet. Die Industriesoziologin arbeitet als freie Journalistin und verantwortliche Redakteurin von LabourNet Germany (1). Seit langem schreibt die Autorin gewerkschafts- wie sozialpolitischer Veröffentlichungen auch Beiträge für die Graswurzelrevolution. Vor 25 Jahren, im Dezember 1999, gründete sie in Stuttgart, am Rande der Konferenz der Gewerkschaftslinken, bei der auch die Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken (2) entstand, mit Mitstreiter*innen den Verein zur Homepage. (GWR-Red.)
Graswurzelrevolution (GWR): Liebe Mag, herzlichen Glückwunsch zum 25. Geburtstag (3) von labournet.de e.V., dem Träger des LabourNet Germany! Ihr versteht das Projekt als Internetportal „für Ungehorsame, mit und ohne Job, basisnah, gesellschaftskritisch“. Was hat Euch dazu bewegt, diesen Online-Informationsdienst für Nachrichten aus den Bereichen Gewerkschaften und Arbeitswelt zu gründen?
Mag Wompel: Oh, das liegt sogar mindestens 27 Jahre zurück. Weder mein britischer Kollege Dave Hollis noch ich wussten damals, dass es später wichtig sein könnte, das Premieredatum festzuhalten. Konkret war es der Liverpooler Docker-Streik in Großbritannien, als es darauf ankam, den internationalen Streikbruch zu verhindern. Allgemein war es wichtig, dem bereits vernetzten globalisierten Kapital eine Vernetzung der Gewerkschaftsbewegung entgegenzusetzen – damals hatte noch keine Gewerkschaft eine Homepage. Heute ist das selbstverständlich, aber damals war es fast revolutionär, wie es in unserer ersten Selbstdarstellung hieß: „Computerkommunikation war für die Arbeitgeber ein äußerst wichtiger Bestandteil des Globalisierungsprozesses. Wir können der Macht der multinationalen Konzerne nur gegenübertreten, wenn wir diese Technologie voll ausnutzen. Die Arbeiterbewegung wurde auf der Tradition von Organisation und Solidarität aufgebaut. LabourNet hat vor, diese Traditionen aufs Computerzeitalter zu übertragen.“
So wurde es z. B. auch möglich, oppositionelle Belegschaftszeitungen über regionale Arbeitsbedingungen und Kämpfe breiter bekannt zu machen und die Erfahrungen auch ohne persönliche Kontakte auszutauschen.
GWR: Wie ist das Projekt organisiert? Welche Ziele verfolgt Ihr? Wen erreicht Ihr mit der Homepage und dem regelmäßig erscheinenden Newsletter? Was ist das Besondere an LabourNet?
Mag Wompel: Seit jede Gewerkschaft und auch die Betriebsgruppen eigene Homepages haben, hat sich unsere Funktion mehr zu der einer Plattform verlagert, die zudem die verschiedenen Gewerkschaftsbewegungen mit den sozialen Bewegungen der Erwerbslosen, Antifa, Antira, Antimilitarismus etc. verbindet. Dies basiert einerseits auf unserem breiten Verständnis der Aufgabe von Gewerkschaften, sich um alle Aspekte des Lebens zu kümmern, wenn die Ökonomisierung das ganze Leben von Lohnabhängigen erfasst. Andererseits folgt aus unserem positiven, emanzipatorischen Menschenbild, dass wir jedes Stellvertretertum ablehnen, was damit beginnt, möglichst alle Originaldokumente zu veröffentlichen, anstatt z. B. Tarifvereinbarungen lediglich zu verkaufen, wie es die DGB-Gewerkschaften bis heute noch tun.
Aus diesen beiden Grundbedingungen unserer Arbeit folgt, dass wir eine sehr breite Zielgruppe von linken AktivistInnen aus Betrieben, Gewerkschaften, Forschung und Journalismus ansprechen – und diese aber selbst auf die ungehorsamen, nicht-stalinistischen darunter begrenzen.
GWR: Hast Du eine Utopie? Möchtest Du sie beschreiben?
Mag Wompel: Bei all den vielen – und im Kern übereinstimmenden – Vorstellungen einer postkapitalistischen Gesellschaft schränke ich sicher auch hier die Zielgruppe freiwillig ein, denn mir ist sehr wichtig, dass sich viel mehr ändert als „nur“ das Eigentum an Produktionsmitteln, auch die Produktions- wie Lebensweise, nicht nur ökologisch bedingt. Leider ist der „Fetisch Arbeit“ auch in der Gewerkschaftslinken ebenso verbreitet wie Ansprüche an Lebensqualität als unsittlicher Luxus verpönt.
GWR: In der Graswurzelrevolution Nr. 322 vom Oktober 2007 hast Du mit dem Artikel „Realisierbar ist, wofür wir kämpfen. Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) – eine unkapitalistische Forderung gegen den Fetisch Lohnarbeit“ (4) eine Diskussion ausgelöst, die dann über viele Monate auch in der GWR geführt wurde. Bei ihrem Parteitag im Oktober 2024 hat die Partei Die Linke nun die von ihr lange mitgetragene Forderung nach einem BGE zurückgezogen. Wie bewertest Du diesen Abschied? Kann der Kampf gegen die Lohnabhängigkeit ohne ein Bedingungsloses Grundeinkommen gewonnen werden?
Mag Wompel: Der Kampf gegen die Lohnabhängigkeit könnte eventuell ohne ein Bedingungsloses Grundeinkommen gewonnen werden, definitiv aber nicht ohne die Kritik und die Sehnsüchte, auf die das BGE eine Antwort zu geben versucht. In allen meinen Artikeln zum Thema habe ich betont, dass ein echtes, wirksames BGE die Lohnabhängigkeit angreifen würde (und müsste), im Kapitalismus also nicht durchsetzbar ist. Dass aber die Debatte darum sehr wichtig ist, weil sich die meisten Menschen aus Funktionszwängen heraus nicht erlauben, ihre Kritik am reellen Job zuzulassen oder Alternativen jenseits des Lottogewinns zu träumen. Doch ohne greifbare Bilder eines schöneren Lebens werden wir niemals aus der immer anspruchsloseren Defensive herauskommen. Denn Gewerkschaften und Parteien, die nicht über den „einen Euro mehr“ hinauskommen, werden die kapitalistische Ökonomisierung des gesamten Lebens nicht angreifen können – und es wohl auch nicht wollen.
GWR: In der GWR 483 vom November 2023 hast Du mit dem Artikel „Arbeitsrechte für alle. Darf der Blick aus 2023 auf die Streiks von 1973 ein nostalgischer sein?“ (5) aufgezeigt, dass die „wilden“ Streiks 1973 auch deshalb so bedeutend waren, weil damals in vielen Betrieben erstmals internationale und geschlechterübergreifende Solidarität geübt wurde. Derzeit erleben wir einen Rechtsruck, wo die neofaschistische AfD Zulauf hat, auch bürgerliche Parteien Geflüchtete zu Sündenböcken machen und ein SPD-Bundeskanzler auf der Spiegel-43/2023-Titelseite fordert: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“. Wie können wir uns gegen diese menschenfeindliche Politik stemmen? Welche Perspektiven siehst Du, die internationale und geschlechterübergreifende Solidarität wieder zum Leben zu erwecken?
Mag Wompel: Ein Rezept wäre dringend. Ich danke für das Kompliment, es mir zuzutrauen! Ganz sicher keines ist eine Abwehrhaltung, die ökonomisierte oder rassistische Argumente zu entkräften versucht und das Kriterium der Verwertbarkeit dadurch bestätigt. Wenn Gewerkschaften zu belegen versuchen, dass sich Arbeitsschutz „auszahlt“, die Arbeitszeitverkürzung der Produktivität nicht schadet oder dass Erwerbslose „wirklich“ arbeiten wollen. Oder beispielsweise wenn Abschiebungen als ganz besonders ungerecht verhindert werden sollen, weil die geflüchtete Person besonders gut integriert sei in einem gefragten Beruf… Utilitaristische Argumente, wie zum Beispiel den Fachkräftemangel aufzugreifen, vermögen manchmal individuell zu helfen, schließen dabei aber alle Menschen und Fälle aus, die sich kapitalistisch nicht „auszahlen“, aber humanitär zählen müssen. Profitabilität und Finanzierungsvorbehalt sind aber keine gesellschaftlichen Kriterien, sondern Gift.
GWR: Du bist Mitglied nationaler und internationaler Vernetzungsinitiativen kritischer Gewerkschafter*innen. LabourNet Germany ist gut vernetzt mit ähnlichen, emanzipatorischen Projekten weltweit, auch in den USA. Wie bewertest Du die Wiederwahl des misogynen Rassisten Trump zum US-Präsidenten? Was sagen Eure Bünd-nispartner*innen in den USA dazu? Was machen sie gegen den Trumpismus?
Mag Wompel: Offensichtlich zu wenig. Ich habe kurz vor der Wahl ein Dossier zusammengestellt zu US-Gewerkschaften und der rechten Gefahr – mit erschreckenden Ähnlichkeiten zur Situation in Frankreich, Italien, Polen oder auch in Deutschland. Gewerkschaftsaktivismus scheint nicht identitätsprägend zu sein im Sinne einer Immunisierung gegen Rassismus und Faschismus. Der Schrecken in den USA ist noch sehr frisch, die Kampfansagen übereinstimmend und überzeugend, aber vage.
Die notwendige Ursachenforschung für den fast weltweiten Rechtsrutsch darf sich dabei nicht auf die Fehler der regierenden Parteien beschränken.
Das LabourNet nicht ausgenommen, vermitteln die gewerkschaftlichen und linken Bewegungen offenbar keine lustvollen Menschen- und Weltbilder, die es mit der Bequemlichkeit billiger Lügen aufnehmen können. Mit „paar Euro mehr“ ist es nicht getan, wir müssen uns trauen, größer zu denken. Denn Faschismus lässt sich nicht mit Häppchen besänftigen, er muss mit radikalen Gegenerzählungen ausgelöscht werden. Und wenn Rassismus keine Argumente braucht und gelten lässt, muss unser Humanismus bedingungslos werden.
Ohne greifbare Bilder eines schöneren Lebens werden wir niemals aus der immer anspruchsloseren Defensive herauskommen.
Es ist doch verrückt: Die Reichen weigern sich, aus ökologischen Dringlichkeiten ihren ausbeuterischen Lebensstandard auch nur etwas einzuschränken und der lohnabhängige Rest sieht sich selbst als „kleine Leute“ ohne Ansprüche an Teilhabe, Mitbestimmung und Lebensqualität, sobald sie nicht erfüllbar sind, ohne dem Kapital weh zu tun.
GWR: Wie geht es weiter mit LabourNet? Wo siehst Du das Projekt in 25 Jahren?
Mag Wompel: Abgesehen davon, dass sich das Internet und dessen Nutzung noch schneller ändern als die Organisationsstrukturen in der Gewerkschaftsbewegung und eine Prognose selbst für zwei Jahre schwierig ist: Die Aufgabe vom LabourNet war schon immer, dazu beizutragen, uns durch die Abschaffung der Lohnabhängigkeit überflüssig zu machen. Diese Bemühungen müssen offenbar verschärft werden und die dankenswerterweise unveränderte Anzahl von Fördermitgliedern sehe ich dabei als Rückendeckung. Sowohl mit der 25-Jahre-Party als auch mit diesem Interview hier hoffe ich eine Debatte anzuregen, wie sich die inhaltliche Arbeit in Richtung „Erotik des Widerstands“ verändern muss.
GWR: Was wünscht Du dir für die Zukunft? Welche Aufgaben emanzipatorischer Bewegungen und was für Perspektiven siehst Du?
Mag Wompel: Gerade wurde Trump wiedergewählt, in Deutschland schreien immer mehr Menschen nach starker Führung, offenbar auch insbesondere Gewerkschaftsmitglieder. Natürlich ist es frustrierend. Vor allem wenn du jahrzehntelang auf die Kraft der Aufklärung gesetzt hast, muss frau nun an der faktischen Verlockung der bequemen Lügen fast verzweifeln. Und dennoch bin ich felsenfest überzeugt, keinen Millimeter nach Rechts abrücken zu dürfen, denn jeder Millimeter würde die Perspektive der Emanzipation und Humanität beschädigen, die nicht zu relativieren ist. Mag unsere Zielgruppe der Ungehorsamen momentan immer kleiner erscheinen – wer sich dem Gleichschritt verweigert und aus der Reihe tanzt, fällt nicht nur mehr auf, es macht gemeinsam auch mehr Spaß.
GWR: Herzlichen Dank!
(1) https://www.labournet.de/
(2) https://www.labournet.de/gewlinke/
(3) Termin: 25 Jahre LabourNet, Party, Samstag, 07.12.2024, Quartiershalle
der KoFabrik (www.kofabrik.de) in Bochum, zwischen 17–20 Uhr. Infos: https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2024/10/25JahreLabourNet.pdf
(4) https://www.graswurzel.net/gwr/2007/10/realisierbar-ist-wofur-wir-kampfen/
(5) https://www.linksnet.de/artikel/48708
Das Interview wurde per Mailwechsel geführt.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.