Wir sehen Frauen einer Kooperative in Brasilien, die über ihre Arbeit diskutieren. „In dem Kreis zu sitzen, den Mund aufzumachen und zur Sache was zu sagen, war ein revolutionärer Schritt“, sagt Lutz Taufer. Das ehemalige Mitglied der RAF ist nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nach Brasilien gegangen, wo er einen persönlichen und politischen Neuanfang begann. In dem Dokumentarfilm „Jeder ist verantwortlich“ zieht der mittlerweile 80-Jährige die Bilanz seines Lebens. Es ist eine ehrliche und selbstkritische Auseinandersetzung. Taufer erzählt, dass er 1981 in seiner Gefängniszelle einen Selbstmordversuch verübte, weil es ihm damals sehr schlecht ging. Er war damals unter besonders erschwerten Haftbedingungen in der JVA Celle inhaftiert. Kaum waren seine Verletzungen notdürftig behandelt, wollte ihn die politische Polizei als Spitzel werben. Doch dieses Ansinnen wies Taufer vehement zurück. Er spricht davon, dass alles kaputt in seinem Kopf war. Taufer berichtet auch, wie entsetzt er war, als er erfuhr, dass bekannte NS-Verbrecher, die in Auschwitz für den Tod unzähliger Menschen verantwortlich waren, im Gefängnis seine Zellennachbarn waren.
In dem knapp 50minütigen Film schildert Taufer die Geschichte seiner Politisierung. Den Anfang machte ein kleiner Zettel, den der junge Student in der Mensa der Freiburger Universität fand. Dort erfuhr er vom Tod Benno Ohnesorgs, der am 2. Juni 1967 von einem Polizisten erschossen worden war. Damals durchliefen zigtausende vor allem junge Menschen eine schnelle Politisierung. Doch wie kommt jemand aus dem schwäbischen Bürgertum über das Sozialistische Studentenkollektiv bis zur RAF? Darauf gibt der Film „Jeder ist verantwortlich“ einige Antworten. Es ist ein ehrliches und selbstkritisches Porträt von Lutz Taufer. Produziert wurde der Dokumentarfilm vom Filmkollektiv Chaos aus Kiel, das eine fast 50jährige Geschichte hat.
Begeistert von Super-8
„Wir begannen 1975 als 14jährige Schüler unter dem Namen zu drehen. Wir empfanden die 70er als ein spießiges, einengendes Jahrzehnt. Wir wollten Spaß haben und uns an keine Regeln halten. Wir einigten uns auf den Namen Chaos, weil das ungeplante und unberechenbare, das in dem Namen steckt, auch zu unserem Lebensgefühl und zu unserer Filmerei paßte“, erklärte Karsten Weber, einer der Mitbegründer des Filmkollektivs, in den 1980er Jahren. Es war nicht nur die Zeit der Brokdorf-Demonstrationen, damals gab es auch eine heute kaum noch bekannte Medienrevolution. „Wir waren begeistert von dem Medium Super-8, denn das ermöglichte eine Arbeit unter komplett eigener Kontrolle. Man konnte es sich irgendwie leisten und brauchte weder eine Filmhochschule noch eine Produktionsfirma zur Filmarbeit“, erinnert er sich an Kulturarbeit vor dem digitalen Zeitalter. Daran hält das Filmkollektiv auch beim aktuellen Filmprogramm fest. „Alles wurde auf klassischem 16mm Filmmaterial gedreht und per Hand entwickelt“, betont Weber. „Der Umgang mit Bildern und Film ist gegen den Strich gebürstet, es ist schon eine widerständige Erzählweise, fordernd und vielleicht auch nicht jedermanns Sache.“ Für Cine-ast*innen liegt gerade darin eine besondere Herausforderung, diese Filme zu sehen. Es ist ein Stück linke Gegengeschichte.
Kurzschluss
Beeindruckend ist auch der Film Kurzschluss, in dem Karsten Weber an seinen Vater erinnert, der in den späten 1950er Jahren in der westdeutschen Antikriegsbewegung und der neutralistischen Kleinstpartei Deutsche Friedensunion (DFU) aktiv war, sich dann aber wegen Enttäuschungen mit seinen Mit-streiter*innen von seiner Arbeit zurückzog. Danach wollte er Berufsschullehrer werden, war aber fast vom Berufsverbot bedroht, das kritischen Linken in Westdeutschland immer drohte. Schließlich konnte er nach einem Verzicht auf weitere politische Betätigung in seinem Lehrerberuf Erfüllung finden. Er unternahm mit seiner Frau viele Reisen und war politisch immer für neue Ideen bis ins anarchistische Spektrum offen. Warum er am Ende doch einsam und seines Besitzes beraubt starb, wird in dem beeindruckenden Film auch erklärt. Es ist ein sehr persönliches Porträt.
Weitere Informationen über das Filmkollektiv Chaos und deren aktuelle Filme finden sich hier:
www.filmgruppe-chaos.de