„Wir tun unser Bestes!“

| Karl Radi

Institut für Radikalisierungsforschung beim Bildungskollektiv Biko (Hg.)Radikalisiert euch! Beiträge zu radikaler Theorie und Praxis Unrast, Münster 2023, 200 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-89771-367-3

Vorsicht: Hier schreibt ein Sozialarbeiter! Einer, der sich im Spannungsfeld zwischen dem Umsturz der ungerechten Verhältnisse und der bloßen Anpassung an bestehende Normen befindet. Der aber beständig versucht, Wege aus einer widersprüchlichen Situation nach der anderen zu finden. Der sich selbst befreien und am liebsten dabei seine Klientel mitnehmen möchte – und doch nur den systemkonformen Weg eines Arbeitslebens geht. Als Tiger gestartet, als Bettvorleger geendet – na, hoffentlich nicht!
Ich wäre gerne 2021 in Erfurt gewesen. Denn da hat das dortige Institut für Radikalisierungsforschung beim Bildungskollektiv Biko eine Tagung und Veranstaltungsreihe zur Notwendigkeit linksradikaler Kritik und der Bedeutung von Radikalität in linken Bewegungen und deren Subjekten mit dem Titel „Radikalisiert euch!“ durchgeführt. Im Anschluss daran ist ein hervorragender Sammelband mit ganz unterschiedlichen Beiträgen erschienen, in dem versucht wird, den ganzen Fächer linksradikaler Kritik an den bestehenden Verhältnissen aufzumachen.
Der Band grenzt sich gegen die bürgerliche, pseudowissenschaftliche Extremismustheorie ab. Der Neofaschismus ist nicht einfach als „Rechtsextremismus“ das Pendant zum „Linksextremismus“ und hat mit angeblich gleichem Extremismus-Abstand hin zur Mitte nichts zu tun. Im ersten Teil geht es darum, linksradikaler Bewegungsgeschichte nachzugehen, um aufzuzeigen, woher die heute als selbstverständlich erscheinenden „Errungenschaften“, wie Sozial- und Arbeitslosenhilfe, Arbeitsnormen und nicht zuletzt die Soziale Arbeit entstammen. Ohne den Kampf einer starken Arbei-ter:innenbewegung hätten sich die deutschen Kapitalist:innen und bürgerlichen Herrschaften wohl kaum diese „Zugeständnisse“ abringen lassen. Somit macht der Band schon früh klar: ohne Radikalität gibt es keine progressive Veränderung. Das deutet auch auf die Entstehung des Tagungstitels als Forderung, auch wenn sie leicht paternalistisch daherkommen mag. Nein! Sie ist ernst gemeint und eine Erkenntnis aus der theoretischen Auseinandersetzung, die die Autor:innen und Herausge-ber:innen vorgenommen haben.
Neben Beiträgen aus der linksradikalen Bewegungsgeschichte kommen auch Kunst und Alltag in den Fokus der Beitragenden, die sich selbst für den radikalen Weg entschieden haben. Viele Beiträge gehen in die Tiefe der Theorie, aber schnell wird klar: Historisch ist gerade nicht der Zeitpunkt, an dem Arbei-ter:innen Macht über die Herrschenden im Kapitalismus und Patriarchat gewinnen können. Somit machen die Zustände mitunter krank. Ich hätte mir mehr praktische Beispiele und „Techniken“ gewünscht, diese Situation auszuhalten und gleichzeitig die „Möglichkeitsräume“ zu vergrößern, in denen unsere Utopien zumindest teilweise gelebt werden können.
Adorno hat einst geschrieben: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Aber es fällt nach dem Lesen dieses Sammelbandes vom Erfurter Biko etwas leichter, angesichts dieser Unmöglichkeit unser Bestes zu tun.