Vom Mythos der Planbarkeit sozialer Bewegungen

Die „Bibel des Widerstands“ der Letzten Generation

| Lou Marin

Mark und Paul Engler Dies ist ein Aufstand. Wie gewaltfreier Widerstand das 21. Jahrhundert prägthrsg. von der Letzten Generation, oekom Verlag, München 2024, 383 Seiten, 29,90 Euro, ISBN 9-783987-261077

„Die Blockaden vor Autos und Flughäfen und Straßen sind erstmal nicht mehr unser Fokus“, erklärte Carla Hinrichs, die Sprecherin der „Klimakleber*innen“ aus der „Letzten Generation“ (im Folgenden LG), die nun als Gruppierung ihren Namen ändert und Neues beginnen will, weil die Klimakatastrophe schon begonnen habe. (1)
Das Buch der US-amerikanischen Forscher-Brüder Mark & Paul Engler, „This is an Uprising“, 2024 in deutscher Übersetzung als „Dies ist ein Aufstand“ erschienen, galt der Gruppe zuletzt als eine Art „Bibel des Widerstands“ (S. 9). Erinnern wir uns noch an die selbstbewusste Auskunft der Klimakleber*innen bei Interviews, man knüpfe an zweifellos erfolgreiche soziale Bewegungen im 20. Jahrhundert an, die mit gewaltfreier Aktion und zivilem Ungehorsam viel erreicht hätten?
Das Buch rekurriert explizit auf den US-Wissenschaftler Gene Sharp, der bereits 1973 das monumentale dreibändige Werk „The Politics of Nonviolent Action“ und, als Teil dieses Werks, seine Liste von „198 Methods of Nonviolent Action“, inzwischen längst ins Deutsche übersetzt (2) veröffentlichte. 2011 erschien bei Beck die deutsche Übersetzung eines weiteren Sharp-Buches: „Von der Diktatur zur Demokratie“. (3) Diese Bücher wurden von der „Letzten Generation“ bei Trainings benutzt und galten als Anleitung zur strategischen Gewaltfreiheit, durch die sie die nach Außen zur Schau gestellte Sicherheit eigenen Erfolgs ihrer sozialen Bewegung zum Klimaschutz untermauerten.
Die Autoren beziehen sich im Buch auf eine strategische Ergänzung von einerseits „momentumbasierter“ sozialer Bewegung mitsamt Mobilisierungs-„Wirbelstürmen“ direkter Aktionen zivilen Ungehorsams und andererseits „strukturbasierter“ Organisierung durch Bündnisse mit z.B. Gewerkschaften oder Parteien, die den Kampagnen Dauer und Stabilität, auch über Bewegungstiefen hinweg, verleihen sollen. Vorbild für die Strukturbasierung ist Saul Alinsky, der wichtige US-Community Organizer, dessen Modell fester Institutionalisierung jedoch Aktionseskalationen eher schwierig erscheinen lässt. Am Ende des Buches sprechen die Autoren von einer umfassenden „Bewegungsökologie“ mit einem dritten Bestandteil, wenn „Massenmobilisierungen, etablierte Organisationen und alternative Gemeinschaften einander als komplementär ansehen.“ (S. 314) Damit meinen Sharp und LG, soziale Bewegungen sowohl auslösen als auch ihnen Dauer verleihen zu können, dass sie sozusagen von vorne bis hinten planbar sind, bis ein Erfolg eintritt.
So werden im Buch nacheinander als historische Erfolge dargestellt: die Kampagnen von Martin Luther King, Jr., und den Schwarzen-Organisationen SCLC und SNCC (4) in den 1960er-Jahren gegen die Segregation; also die US-Bürger*innenrechtsbewegung in Verbindung mit den strukturbasierten Community-Organizing-Formen, die auf Saul Alinsky fußen; die Kampagnen der 1998 gegründeten Bewegung „Otpor/Widerstand“, die im Jahr 2000 zum Sturz des Milosevič-Regimes in Serbien beitrug; die Bewegungen für gleichgeschlechtliche Ehe und LGBTQ-Rechte in den USA im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts; Gandhis drei Jahrzehnte währender Kampf gegen den britischen Kolonialismus mit dem Höhepunkt der Salzmarsch-Satyagraha 1930 und ihrem massenmobilisierenden Symbolwert; die US-Occupy-Bewegung 2011/12 mit Zeltstädten auf den US-Uniplätzen; die ACT-UP-Bewegung für die Anerkennung von Aids-Infizierten Ende der 1980er-Jahre. Schließlich die Bewegung „Earth First!“ um Judi Bari gegen die Mafia des Holzkahlschlags gegen Waldbestände. Bei den ebenfalls im Buch analysierten arabischen Aufständen 2011-2013 führte die Strategie jedoch nach der Tahrir-Platz-Besetzung in Kairo schnell wieder zu neuer Militärdiktatur, vor allem weil die strukturbasierte Organisierung politische Parteien und damit die Herrschaftsform des Parlamentarismus mit einschloss, wodurch dann erst die Muslimbrüder unter Mursi und schließlich das Militär unter al-Sisi an die Macht kamen.
In der GWR hatten wir uns schon des Öfteren kritisch mit Gene Sharps Lehre der „strategischen Gewaltfreiheit“ auseinandergesetzt, zuletzt 2012. (5) Bei genauerem Blick stellten wir eine problematische Zielvorstellung bei Sharp, nämlich das Ziel – oder zumindest die Kompatibilität seiner Strategie – mit der Gewalt des kapitalistisch-demokratischen Staates fest, auf das hin dann seine Ziel-Mittel-Relation orientiert war. Stutzig machen bei seiner Liste von 198 Methoden zum Beispiel der Punkt 82 (Weigerung von Eigentümern, „Eigentum zu vermieten oder zu verkaufen“) oder auch Punkt 83 (die gegen Arbeiter*innenstreiks gerichtete „Aussperrung“). Sharps Zielvorstellung ist deshalb von uns früh als klar „prokapitalistisch“ kritisiert worden. Deutlich wird das bei der im Buch der Engler-Brüder hochgelobten Bewegung Otpor in Serbien, für die von staatlichen und privaten Stiftungen in den USA (und der EU) insgesamt 80 Mio. US-Dollar u.a. für Trainings in angeblicher „gewaltfreier Aktion“ von Otpor-Aktivist*innen im benachbarten Budapest ausgegeben wurden, die u. a. vom Ex-US-Armee-Oberst Bob Helvey durchgeführt wurden. Das US-amerikanische, private „Freedom House“, geleitet u. a. von James Woolsey, Ex CIA-Chef und Berater von Donald Rumsfeld, hat 2005 von Sharps Buch „From Dictatorship to Democracy” 5000 (!) Exemplare gekauft und an Otpor gespendet. So wurde die prokapitalistisch-demokratische Opposition gegen die Autokratie von Milosevič mit der US-Außenpolitik des sogenannten „Regime Change“ kompatibel gemacht – und ging nicht darüber hinaus. Das alles steht nicht im Buch der Engler-Brüder. Wenn Henning Jeschke von der LG im Vorwort von deren Utopie „demokratischer Gesellschaftsräte“ spricht, dann ist das immer unausgegoren geblieben und hat sich nicht wirklich von Sharps prokapitalistischer Demokratie-Zielvorstellung unterschieden. Dagegen haben die gewaltfrei-anarchistischen Aktionsgruppen innerhalb der bundesdeutschen Anti-AKW-Bewegung die über zwei Jahrzehnte hinweg stark mobilisierenden Blockaden gegen die Castor-Transporte organisiert, aber mit einer sozialrevolutionären Zielvorstellung, die dem Mittel der direkten gewaltfreien Aktion und des revolutionären zivilen Ungehorsams entsprachen. Bei den mit jeweils ca. 3–4.000 Leuten besuchten Libertären Tagen in Frankfurt/M. 1987 und 1993 lautete das Motto: „Von den sozialen Bewegungen zur sozialen Revolution“. Von Revolution mit Betriebsbesetzungen und Arbeiter*innenräten ist in dem Buch und war bei der LG aber nie die Rede. Die Forderung nach Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h auf Autobahnen ist nicht revolutionär. Mit ihren reformistischen Forderungen hat die Letzte Generation deshalb kaum etwas erreicht. Dagegen hat die utopisch-revolutionäre Utopie, die wir und andere in die Anti-AKW-Bewegung eingebracht haben, zumindest zu dem Erfolg beigetragen, dass in der BRD heute kein AKW mehr läuft – frei nach dem Spruch Bakunins: „Nur wer das Unmögliche fordert, wird das Mögliche erreichen.“ (6)

(1) Der Spiegel, 19.12.2024; https://www.spiegel.de/politik/deutschland/klimaaktivistin-carla-hinrichs-wir-sind-nicht-mehr-die-letzte-generation-a-74fbdfdc-f2aa-4fba-bbfa-a1dcd2e15947
(2) Vgl.: https://www.brandeis.edu/peace-conflict/pdfs/198-methods-non-violent-action.pdf
(3) Vgl.: https://www.chbeck.de/sharp-diktatur-demokratie/product/13952653
(4) Vgl.: Clayborne Carson, Zeiten des Kampfes. Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des afro-amerikanischen Widerstands in den sechziger Jahren, Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2004.
(5) Vgl. Lou Marin: Gene Sharp übersieht die Gewalt des demokratischen Kapitalismus, in: 
GWR 373, November 2012, https://www.graswurzel.net/gwr/2012/11/gene-sharp-ubersieht-die-gewalt-des-demokratischen-kapitalismus/
(6) Vgl. https://www.zitate7.de/4776/Nur-wer-das-Unmoegliche-fordert-wird.html