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Erich Mühsam in Oranienburg

Wichtige Impulse für die Anarchismus-Forschung

| Rolf Cantzen

Beitragmühsam

Andreas W. Hohmann (Hg.) „Sich fügen heißt lügen.“ Erich Mühsam in Oranienburg. Tagungsband Edition AV, Bodenburg 2024, 168 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-86841-381-2

Dass ein Tagungsband – zumal einer mit einleitenden Danksagungen an Honoratioren und Verneigungen vor Geld spendenden Institutionen – durchaus Spannendes, gut Lesbares und auch für die halbwegs kundigen Leser und Leserinnen Neues bereithält, ist selten. Doch so einen haben wir hier: „Erich Mühsam in Oranienburg.“ Das KZ in der Kleinstadt, keine 20 Kilometer von der nördlichen Stadtgrenze Berlins entfernt, ist der Ort, an dem Erich Mühsam 1934 ermordet wurde. Sein Tod 1934 und die Neuplanungen eines Gedenkortes zur Erinnerung an das KZ bilden den Anlass der Tagung. Der Ort des ehemaligen KZs ist heute bis auf kleine Reste verschwunden. Überbaut wurde der Ort unter anderem mit einem Supermarkt. Eine Mauer des KZs und ein schmaler Streifen des ehemaligen Geländes ist noch vorhanden, verschwindet aber zwischen Supermarkt, Parkplatz, einer Durchgangsstraße und einem Heim für Polizeischüler*innen. Entwürfe zu einer Neugestaltung des Areals und die Diskussionen darum sind im Tagungsband dokumentiert. Den Organisatoren der Planung ist daran gelegen, dass in diesem Rahmen auch Erich Mühsam eine Erinnerungsstätte erhält.

Erich Mühsam gehörte zu den Ersten, die in einem KZ ermordet wurden. Im KZ Oranienburg internierten die SA und danach die SS oppositionelle Politiker*innen und kritische Intellektuelle vor allem aus Berlin. Welchen Leidensweg Erich Mühsam zurücklegte, zwischen seiner Verhaftung und seiner Ermordung, dokumentiert der Beitrag von Wolfgang Haug akribisch, bestens belegt und gut lesbar. Ausgehend von der gegenwärtigen Bedrohung durch rechtsradikale Organisationen und Parteien analysiert Wolfgang Haug den historischen Kontext von Verhaftung und Ermordung Erich Mühsams. Zahlreiche Fotos und Faksimiles begleiten die Darstellung. Wolfgang Haug resümiert Bekanntes und bislang Unbekanntes zu den Umständen der Verhaftung Erich Mühsams, seiner Misshandlungen bis zu dem, 
was über seinen Tod bekannt geworden ist.

Es macht Spaß, in diesem sorgfältig gestaltetem Buch zu blättern und sich unterhaltsam über den Stand der Mühsam-Forschung und nicht zuletzt auch der Obstbausiedlung Eden zu informieren

Ebenso aufschlussreich sind die Forschungsergebnisse von Uschi Otten. Sie durchsucht seit 30 Jahren Archive in Amsterdam, Berlin, Moskau, Prag und New York nach den Spuren von Zenzl Mühsam. Schnell wird klar, dass Zenzl Mühsam nicht nur die Frau von Erich Mühsam war, sondern eine politisch eigenständige Person, die das Werk ihres Mannes vor der Vernichtung und dem Vergessen bewahrte (vgl. GWR 493). Zenzl Mühsam floh über Prag in die Sowjetunion, um die Publikation des Werkes Mühsams zu ermöglichen. Die Hartnäckigkeit der „Anarchisten-Witwe“ gefiel den dortigen Machthabern nicht. Sie wurde mehrfach verhaftet und verhört. Einige ihrer Verwandten und Freunde fielen dem Stalin-Terror zum Opfer. Sie selbst verbrachte Jahrzehnte in sowjetischen Lagern, bevor sie 1955 zurück nach Ostberlin kam und 1962 verstarb.

Einige Beiträge des Tagungsbandes thematisieren die Verbindungen anarchistischer Organisationen mit der lebensreformerischen Obstbaugenossenschaft in Eden bei Oranienburg. Jeanette Bonefeld erläutert den Forschungsstand zur Entstehung und Entwicklung der Siedlung Eden. Auch wenn Erich Mühsams Besuche in Eden nicht nachweisbar sind, unterhielt doch der „Sozialistische Bund“, dem Mühsam angehörte, Kontakte zu dieser Siedlungsgenossenschaft. Als Initiator des „Sozialistischen Bundes“ verband Gustav Landauer seine Kritik am Staatssozialismus, Marxismus und Industrialismus programmatisch mit Überlegungen, wie ein „Ausstieg aus Staat und Kapitalismus“ möglich sei und sah in genossenschaftlichen Lebens- und Arbeitszusammenhängen mögliche Ansatzpunkte. Siegbert Wolf macht auf diesen Zusammenhang zwischen Kritik, Utopie und Realisierungsversuchen aufmerksam und erläutert damit den Gesamtzusammenhang des Werkes Landauers: Anarchie alias Sozialismus beginnt, wenn Menschen mit freiem und solidarischem Leben beginnen. Wer eine fundierte Zusammenfassung des (a)politischen Werkes Landauers sucht: Hier findet er sie. Siedler in der Genossenschaft Eden bei Oranienburg wollte Landauer allerdings nicht werden.

Erich Mühsams individuelle praktische Lebensreform ging ein wenig weiter: Er besuchte die Aussteigersiedlung am Monte Verità im schweizerischen Ascona. Klaus Trappmanns Beitrag dokumentiert sehr unterhaltsam diese variantenreichen Ränder der Lebensreformbewegung. Ein Foto von Mühsam im „Naturkleid“ zeigt, wie ernsthaft er sich um Lebensreform bemüht hat. Dennoch vermochten ihn Vegetarismus, Sonnenbaden, Gartenarbeit und Alkoholverzicht nicht dauerhaft zu begeistern. Sein „alkoholfreies Trinklied“, der „Gesang der Vegetarier“, kann auch heute noch bei der gewaltlosen Selbstverteidigung gegen gesinnungsethische Gutmenschen helfen.

Ein Beitrag der „Gustav-Landauer-Initiative“ befasst sich mit der Schwierigkeit, die Notizbücher Erich Mühsams zu entziffern und angemessen zu publizieren. Diese Aufzeichnungen aus den Jahren 1924 bis zu seiner Verhaftung 1933 erlauben einen Einblick in das private und politische Leben Mühsams. Sie liefern der biografischen Forschung wertvolle Impulse. Wie alle Beiträge des Bandes illustrieren Fotos und Faksimiles auch diesen Beitrag.

Fazit

Dem Tagungsband ist ein breites Lesepublikum zu wünschen. Es macht Spaß, in diesem sorgfältig gestaltetem Buch zu blättern und sich unterhaltsam über den Stand der Mühsam-Forschung und nicht zuletzt auch der Obstbausiedlung Eden zu informieren. Allen rechtsradikalen Tendenzen zum Trotz ist es der Stadt Oranienburg zu wünschen, dass es ihr gelingt, sich eine markante Gedenkstätte für das ehemalige KZ Oranienburg zu schaffen, in der insbesondere auch an den hier ermordeten Anarchisten Erich Mühsam erinnert wird.

Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.

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