Der Begriff der Solidarität ist, so scheint es, ziemlich beliebig geworden: Rechte Gruppierungen reklamieren das Wort für ihre imaginierte Volksgemeinschaft und europäische Staaten rufen einander zu „Solidarität“ an den Außengrenzen auf – nicht etwa, um gemeinsam Menschen auf der Flucht Schutz zu gewähren, sondern um eben diesen Menschen gewaltsam den Zutritt zur eigenen Solidargemeinschaft zu verweigern. In dem kürzlich beim Berliner Verbrecher-Verlag erschienenem Band „Solidarität – Eine reale Utopie“ sind Texte aus Wissenschaft, Kunst und Aktivismus versammelt, die sich der Verballhornung des Begriffs verweigern und sich ihm stattdessen aus undogmatischer und emanzipatorischer Sicht annähern. Ohne den aktuell stattfindenden Abwehrkämpfen ihre Notwendigkeit abzusprechen, wollen die Beiträge auf das qualitativ Neue und potenziell Transformatorische verweisen, das Solidarität hervorzubringen vermag.
Eine der grundlegenden Einsichten des Sammelbandes lautet, dass Solidarität mehr ist als Philanthropie gegenüber Bedürftigen oder ein Wir-Gefühl zwischen jenen, die sich als Gleiche begreifen. Solidarität verstehen die Herausgeber*innen demgegenüber als „Verschwisterung unter Ungleichen und Ungleichgemachten“. Das Versprechen der Solidarität ist universell und muss, wie Mia Neuhaus schreibt, „für alle gelten oder es gilt letztendlich nicht“. So kritisiert auch der syrische Dissident Yassin al-Haj Saleh in seinem Beitrag eine selektive Solidarität, die die Gleichwertigkeit des Lebens übersieht.
Betont wird außerdem die zeitliche Dimension der Solidarität: „Sie ist Erinnerung an vergangene Weggefährt*innen und erkämpfte Freiheitsrechte, ebenso wie Mahnung an die Forderung der Einlösung ihres Versprechens in Gegenwart und Zukunft.“ Julia Lis und Michael Ramminger beschreiben in ihrem Text über „Befreiungstheologische Perspektiven auf Solidarität“ Erinnerung als „Konzept einer Solidarität rückwärts“. Malin Kuhnt erinnert an den Cyberfeminismus der 1990er Jahre und das verlorengegangene, weil bitter enttäuschte, egalitäre Versprechen eines emanzipatorischen Internets, das sich der Eigentumslogik der analogen Welt entziehen könnte.
Zu den theoretischen und historischen Zugängen gesellen sich unter anderem ein Beitrag vom griechischen Netzwerk Diktyo, in dem aus jahrzehntelanger politischer Praxis berichtet wird, eine Ansammlung fiktionaler Tagebucheinträge von Dan Thy Nguyen, in der sich BIPoC-Künstler*innen darüber freuen, dass es der Kulturbehörde gelungen ist, ihre Namen fehlerfrei zu schreiben: „Wahnsinn! Das klingt nach wenig, aber wenn man bedenkt, dass dies so gut wie nie in unserem Leben passiert ist?“
Ein Prosatext von Laura Shirin lädt die Leser*innen dazu ein, selbst schreibend tätig zu werden und einen Brief an politische Mitstreiter*innen zu verfassen.
Als kleiner Wermutstropfen zwischen vielen klugen Gedanken bleibt eine Passage über die Corona-Pandemie, in der sich positiv auf Giorgio Agamben bezogen wird. Der Philosoph fiel 2020 mit der Leugnung und später mit der zynischen Verharmlosung des Virus auf und verhielt sich mit seinen Äußerungen alles andere als solidarisch gegenüber den von einer Ansteckung am meisten gefährdeten Bevölkerungsgrup-pen. Dieser Fehlgriff zeigt aber vielleicht, dass Solidarität, die ihrem Namen gerecht werden will, immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden muss.
Solidarität – Eine reale Utopie
Mia Neuhaus, Lucas Mielke, Massimo Perinelli (Hg.) Solidarität – Eine reale Utopie Verbrecher Verlag, Berlin 2025, 384 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-95732-571-6