In Griechenland fand am 28. Februar 2025 der größte Generalstreik der griechischen Geschichte statt und legte das ganze Land lahm. Anlass war der zweite Jahrestag der Zugkatastrophe von Tempi, bei der 57 Menschen ihr Leben verloren. Allein in Athen waren es über eine Million Menschen, die ihre Wut auf die staatliche Vertuschung der Verantwortung auf die Straßen trugen. Die Dimensionen lassen sich nur vor dem Hintergrund des autoritären Krisenprogramms verstehen, das der Bevölkerung seit Jahren die Luft zum Atmen nimmt. Eine Einordnung.
Während der griechische Staat und die staatsnahen Medien seit zwei Jahren das Mantra des „tragischen Unfalls“ oder „menschlichen Versagens“ wiederholen, werfen die Menschen dem griechischen Staat Mord und Verbrechen vor. Denn die Zugkatastrophe war kein tragischer Zufall, sondern das Ergebnis einer knallharten autoritären Austeritätspolitik, die das Land über die letzten Jahre hat verfallen lassen.
Auch in der deutschen Presse bleibt es überwiegend bei einer entpolitisierenden Randnotiz: Die Griechen seien sauer wegen eines „Zugunglücks“, eine ausreichende Einordnung bleibt offen. Die Hintergründe sind schließlich unbequem: So spielt Deutschland eine zentrale Rolle in der „Tragödie“ von Tempi. Dem griechischen Staat wurden im Zuge der ökonomischen Krise ab 2010 von der EU – mit Deutschland als zentralem Akteur – ein neoliberales Krisenprogramm aufgezwungen, welches zu einem massiven Privatisierungsfeldzug führte. Flughäfen, Bahninfrastruktur etc. wurden für Spottpreise an oftmals ausländische Unternehmen verscherbelt. So schnappte sich die Frankfurter FraPort AG bei dieser Privatisierungsparty allein 14 Flughäfen.
Wer trägt die Kosten der Krise?
Wer leer ausging bzw. die Party finanzieren musste, war hingegen die griechische Bevölkerung. Massive Lohnkürzungen, Entlassungen, zeitweise vollständige Streichung der gesetzlichen Krankenversicherung, stellten die andere Seite der Krisenstrategie dar. Die Kosten der Krise wurden, wie üblich, auf den Rücken der Bevölkerung abgewälzt, die Profiteure sind private Unternehmen, die sich an der vormals öffentlichen Infrastruktur bereichern. Die Krise kann als Kapitalumverteilung gewertet werden, zum einen von unten nach oben innerhalb der griechischen Bevölkerung, zum anderen innerhalb der EU. So ist beispielsweise Deutschland entgegen allen populären Erzählungen milliardenschwerer Profiteur der griechischen Krise.
Autoritärer Neoliberalismus
Die Privatisierungen und Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor wurden gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt und die undemokratischen Vorgänge durch scheinbare Notwendigkeiten, Sachzwänge und ökonomische Rationalitäten legitimiert.
Unterstützt wurde die Durchsetzung des autoritären Krisenprogramms durch die Konstruktion des rassistischen Stereotyps des „faulen Griechen“, der nicht arbeiten will, keine Ahnung von Wirtschaft habe und selbst schuld an seiner Lage sei.
Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Tempi die Menschen millionenfach auf die Straße treibt – nicht nur in Griechenland, sondern auch in Paris, Berlin, Australien, Ägypten, den USA, der Türkei. Die Liste ließe sich fortführen.

In Tempi wurde für alle schreiend sichtbar, wie rücksichtslos Staat und Kapital gegenüber dem menschlichen Leben agieren. Tempi ist der Knotenpunkt von einem Netz aus Lügen, Korruption und Kapitalinteressen. Und Tempi enthüllte die umfassenden Mechanismen der Vertuschung der „staatskapitalistischen Verbrechen gegen die Bevölkerung“, wie es viele Linke bezeichnen.
In diesen Tagen entlädt sich die jahrelang angestaute Wut über eine Politik, die so offensichtlich den Profit über die Sicherheit der Bevölkerung priorisiert und die Luft zum Atmen nimmt. Dieser Satz ist bei den Protesten allgegenwärtig: „Ich habe keinen Sauerstoff“, so wie es die letzten Worte der Verstorbenen von Tempi waren, die in den Flammen erstickten. Die Luft zum Atmen nehmen auch die steigenden Mieten, die prekäre Arbeit, die zunehmende Repression seitens der Polizei und der Gerichte, die Perspektivlosigkeit im Angesicht von Krieg, Aufrüstung, Autoritarismus.
Während die Sozialausgaben stagnieren, werden Polizei und Militär hochgerüstet, die Grenzen weiter abgedichtet und in Kooperation mit der EU in KI-überwachte Internierungslager investiert. Die Prioritäten sind klar gesetzt.
Banner und Blendgranaten
Anlässlich des Millionenstreiks am 28. Februar 2025 ziehen viele Aktivist*innen die Parallele zum ersten Jahrestag nach dem 17. November 1973, ein entscheidender Tag des Widerstands gegen die damalige Militärjunta, auf den sich immer noch, auch und gerade von Linken und Anarchist*innen, im Namen der Emanzipation bezogen wird. „Das ganze Land atmete im Rhythmus der Wut und Empörung über die Vertuschung des Staatsverbrechens von Tempi“, schreibt eine Gruppe im Rückblick auf den Generalstreik. Gewerkschaften, Anarchist*innen, Studierendenvereine und andere Gruppen hatten sich monatelang auf den Jahrestag vorbereitet und demonstrierten Seite an Seite für Gerechtigkeit – ideologische Reibungen inklusive.
Die Polizei ging wie erwartet provokant gegen die Demonstrierenden vor, versuchte mit präventiven Festnahmen, oder besser gesagt Verschleppungen durch Spezialeinheiten, die Ordnung zu bewahren. Tausende Demonstrant*innen lieferten sich stundenlang Zusammenstöße mit Repressionskräften, diese setzten auf Blendgranaten, Tränengas und Massenverhaftungen.
Eine Aktionsgruppe kletterte auf das Dach von „Hellenic Train“, des privaten Bahnunternehmens, welches an dem Zug-Crash beteiligt war und entrollte ein Protestbanner mit der Aufschrift „Bis es endet. Mörder!“. Sie entzündeten schwarzen Rauch im Zeichen der Trauer um die Verstorbenen. Die Aktivist*innen wurden brutal geräumt, sie selbst sagen im Nachhinein, dass es nur ihrer Besonnenheit zu verdanken ist, dass niemand in die Tiefe stürzte. Hellenic Train erstattete Anzeige wegen „Störung des inneren Friedens“, die Aktivist*innen verbrachten tagelang in Untersuchungshaft.
Wie weiter?
Während die Regierung von Beginn an die Aufarbeitung der Zugkatastrophe behindert und die eigene Verantwortung mit einer himmelschreienden Dreistigkeit versucht zu vertuschen, sind es die Angehörigen der Getöteten und die Zivilgesellschaft, die unermüdlich für Aufklärung und Konsequenzen kämpfen. Und während nahezu alle größeren Medien der Regierung Deckung bieten und sich zu Komplizen im Vertuschungsakt machen, sind es einige wenige unabhängige Journalist*innen und Medienprojekte wie „thepressproject“, die wichtige Öffentlichkeit schaffen und an der Seite der Menschen die Wahrheit ans Licht befördern.
Anlässlich des Millionenstreiks am 28. Februar 2025 ziehen viele Aktivist*innen die Parallele zum ersten Jahrestag nach dem 17. November 1973, ein entscheidender Tag des Widerstands gegen die damalige Militärjunta
Es ist bezeichnend, dass sich trotz der massiven Schweige- und Desinformationskampagne von Regierung und Medien die Wahrheit an die Oberfläche gefräst hat und mit ihr die Wut, der Frust, der unbedingte Gerechtigkeitswille der Menschen. Auch wenn es krampfhaft versucht wird, die Risse im System sind zu gravierend, die Lügen zu offensichtlich, als dass sich das geschärfte Bewusstsein und das Aufbegehren der Menschen wieder in eine kleine Schachtel verbannen und verstauen ließe. Tempi trägt schon längst die Fragen nach umfassender sozialer Gerechtigkeit in sich. Die Verbindungen zwischen den verschiedenen Formen der Unterdrückung durch Patriarchat und Kapitalismus werden aktiv hergestellt. So wird die „Tragödie“ von Tempi in Verbindung gesetzt mit der „Tragödie“ von Pylos, bei der 500 Flüchtende starben, und der täglichen „Tragödie“ von Femiziden. Der Protest von Tempi akzeptiert den Tod nicht mehr als bloße Naturgewalt oder „Tragödie“, sondern als von diesem System produziert. „Wir kämpfen, bis uns nicht mehr nur der Tod verbindet“, steht auf einem Transparent. Kämpfen, bis es endet.
Dies ist ein Beitrag aus der aktuellen Ausgabe der Graswurzelrevolution. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier.