Am Beispiel Indien zeigt Smriti Sakar die zerstörerischen Auswirkungen gängiger "Entwicklungspolitik" auf, die auf Wachstum und Hochtechnologie basiert. Die Autorin, die in der indischen Frauenorganisation SWADHINA aktiv ist, geht dabei speziell auf die Situation der Frauen ein und skizziert deren mögliche Rolle, wenn es gilt, eine Gesellschaft zu schaffen, die an menschlichen Grundbedürfnissen und Unabhängigkeit orientiert ist. (Red.)
Entwicklung ist eine Reise in Richtung auf einen sozialen Wandel, wo Männer und Frauen in Harmonie miteinander und mit der Natur leben. Entwicklung und Frieden, in Verbindung mit Gerechtigkeit und Würde für alle, sind integrale Bestandteile dieses menschlichen Prozesses einer sozialen Veränderung. Unsere gegenwärtige Entwicklungspolitik, die auf der Modernisierungsideologie basiert, steht der Errichtung einer solchen Gesellschaft entgegen. Auf der einen Seite führte sie zu einem Zusammenbruch des sozialen Zusammenhalts, zur Erosion von lange Zeit geschätzten traditionellen Werten wie Fürsorge, Teilen, und gegenseitiger Unterstützung. Zudem hat sie den Status der Frauen, der Kinder und der marginalisierten Klasse, in unserem Fall die UreinwohnerInnen und die Dalits (sog. „Unberührbare“), verschlechtert, einhergehend mit einer irreparablen Umweltzerstörung.
Die „Dritte Welt“ ist ein Opfer des Ansturms der Modernisierungsideologie. Diese wurde Indien zuerst während der Kolonialzeit auferlegt, und später, in der Zeit nach der Unabhängigkeit, von der nationalen Elite in Koalition mit den Interessen des weltweiten Herrschaftssystems ausgedehnt, konsolidiert und stabilisiert. Diese Ideologie wurde zur Zeit eines bedeutsamen historischen Einschnitts, d.h. nach dem zweiten Weltkrieg, als „Fortschritt“ propagiert – der Verkauf von Technologien, Konsumorientierung etc. Sie beschleunigte eine stark auf Technologie beruhende kapitalistische Methode des Wirtschaftswachstums, deren Grundwerte Wettbewerb, Konflikt, Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Unfrieden, Gewalt, Gier, Abhängigkeit, Überfluß waren. Das Endresultat ist ein fehlender Frieden, herbeigeführt von einem starken Abbau menschlicher Werte, dem unüberbrückbaren, sich immer weiter vertiefenden Konflikt zwischen der reichen und privilegierten Minderheit und der armen und marginalisierten Mehrheit. Der gegenwärtige Drang zur Globalisierung würde sich noch weit fataler auswirken. Mit dem Vorwärtsdrängen der multinationalen Konzerne und der immer größer werdenden Bedeutung der an Experten orientierten Marktwirtschaft würde die Wirkung katastrophal sein.
Modernisierungsentwicklung – Befreiung oder Einschränkung?
Die Modernisierungspolitik, die das Land nach der Kolonialzeit übernommen hat, hat Frauen, die UreinwohnerInnen und andere schwächere Teile der Gesellschaft marginalisiert und gleichzeitig massive Umweltkrisen bewirkt. Die Frage der Umweltzerstörung, der schrittweise Zusammenbruch des ökologischen Gleichgewichts, das Schwinden natürlicher Ressourcen sind nicht nur ökonomische Probleme oder eine bloße Frage der nachhaltigen Entwicklung. Es besteht eine integrale Verbindung mit der menschlichen Existenz, die dadurch stark berührt wird. Darüberhinaus haben die Entscheidungen, die durch die Entwicklung gefällt werden, auch Auswirkungen auf das soziale Gefüge. Frauen und Männer, die innerhalb der sozialen und ökonomischen Strukturen getrennte Rollen innehaben, haben eine unterschiedliche Beziehung zur Umwelt. Der gegenwärtige Entwicklungsprozeß berücksichtigt die Bedürfnisse der Menschen und der Umwelt, in der sie leben, nicht. Er ist vielmehr markt- und profitorientiert. Es ist jetzt klargeworden, daß die ungesunden Entwicklungsstrategien, die die Bedürfnisse und Perspektiven aller ignorieren, besonders die der Frauen, der Dalits und der UreinwohnerInnen und deren Umgebung, nicht überlebensfähig sind.
Marginalisierung von Frauen
Die Kosten der Modernisierung lasten schwer auf den Frauen. Sie verlangt ihnen einen hohen Zoll ab, indem sie ihre Kontrolle über die Ressourcen und den Lebensunterhalt einschränkt. Die Aktivitäten der Frauen innerhalb der Subsistenzwirtschaft erhalten den schwersten Schlag.
Frauen spielen in den Familien traditionell eine wichtige Rolle als Produzentinnen der Nahrung und als Versorgerinnen ihrer Haushalte. Die Reproduktions- und Regenerationsfähigkeiten von Frauen werden ebenfalls als Teil ihrer produktiven Rolle innerhalb der Gesellschaft vereinnahmt. Der Begriff „Produzentin“ wird hier im Kontext der Kapitalakkumulation verstanden. Er begreift Menschen nur in ihrer Verwertungskapazität, entweder als Arbeitskräfte, oder als ProduzentInnen von Waren. So schließt dieser Begriff keine der anderen produktiven Rollen mit ein, die Frauen innerhalb der Gemeinschaft innehaben.
Die Folgen der Veränderungen innerhalb der Produktionssysteme und die Einführung einer geldorientierten Wirtschaftsweise über dem Subsistenzniveau hat die Rolle der Frauen in den ländlichen Agrargemeinschaften drastisch verändert. Sie wurden zwangsweise aus ihrer überragenden Rolle innerhalb der Lebensmittelproduktion und als Produzentinnen und Bewahrerinnen des Lebens und der Regeneration der Natur verdrängt. Seit Jahrhunderten haben Frauen auf dem Land die natürlichen Ressourcen ihrer Umwelt durch vorsichtigen Umgang bewahrt. Dies sicherte das Überleben und den Unterhalt ihres Haushalts. Frauen sammeln Brennmaterial, Futter, Wasser, pflanzliche Nahrung und Kräuter, um ihre Familien zu versorgen. Die Zerstörung der Umwelt und der Mangel an natürlichen Ressourcen wirkt sich auf die Frauen zugleich als Nutzerinnen und als Produzentinnen aus.
Zudem ist das Problem des Technologietransfers ein entscheidender Faktor unserer Entwicklungsinitiative. Was wir im Namen der „Entwicklung“ sehen, ist ein Technologiepaket, das der vorherrschenden Entwicklungsideologie dient, die ins ländliche Indien transportiert wurde. Diese Technologie ist in Wirklichkeit feudal-kapitalistisch, teuer, zentralistisch und bringt Abhängigkeiten von extern organisierten kapitalistischen Sektoren mit sich. Sie ist von Grund auf aggressiv gegenüber der Natur und den Frauen. Auf der einen Seite hat sie die Kommerzialisierung der Landwirtschaft und auf der anderen den ständigen Abbau und die Zerstörung des dörflichen Handwerks und der dörflichen Produktionen mit sich gebracht, einhergehend mit der Verarmung von Millionen von Menschen innerhalb der dörflichen Bevölkerung, darunter besonders der Frauen.
Umweltzerstörung
Massive Umweltzerstörung und darauf folgende ökologische Krisen sind weitere Konsequenzen einer Entwicklung, die auf der Modernisierungsideologie beruht. Die anhaltende Zerstörung unserer natürlichen Ressourcen, der Wälder, der Weiden, der Küstengewässer, hat nicht nur die Armut von Millionen von Dalits, UreinwohnerInnen, FischerInnen und NomadInnen verschlimmert, sondern auch einen langsamen, stillen kulturellen und sozialen Tod bewirkt sowie einen schlimmen Wandel von selbständigen Menschen zu elendiglich abhängigen landlosen ArbeiterInnen und von Armut geplagten MigrantInnen in den Städten.
Mangels Alternativen bilden Land- und Forstwirtschaft die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Grundlage des Lebens, sowohl für die große Mehrheit der Armen, als auch für die kleine Minderheit der Wohlhabenden in den ländlichen Gegenden. Während die Umweltfaktoren Land, Wasser und Wald vor allem die ländliche Bevölkerung direkt betreffen, sind sie auch für die Armen in den überbevölkerten indischen Städten besorgniserregende Realität.
Die UreinwohnerInnen Indiens, die IndianerInnen in Amerika oder die UreinwohnerInnen Australiens sind gleichermaßen gefährdete Gruppen. Sie werden solchen Entwicklungsprojekten wie der Errichtung großer Staudämme oder großer Industrien im Namen des nationalen Interesses geopfert. Die Wälder sind ihre natürlichen Wohngebiete, und die skrupellose Zerstörung der Wälder bedeutet die verhängnisvolle Vertreibung von Stämmen aus ihrer natürlichen und traditionellen Umgebung. Die gesamte Wirtschaft beruht auf den Erzeugnissen dieser Wälder. Selbständigkeit und Selbstversorgung werden von der Subsistenzlandwirtschaft und der Forstwirtschaft getragen, die alles hervorgebracht haben, was benötigt wurde, und von allen geteilt wurde.
Der Wald ist nicht nur Heimat, Quelle des Lebensunterhalts, sondern auch das kulturelle Zentrum. Aber heute werden durch das Vordringen einer hochkapitalistischen Industrialisierung ihr kultureller Reichtum, ihre Wertesysteme und ihr traditionelles Verständnis von Teilen und Solidarität abgebaut. Schlimmer noch ist, daß die Menschen durch die Vertreibung in die Ebenen und städtischen Gebiete die Werte oder Pseudowerte des gegenwärtig vorherrschenden materialistischen Systems verinnerlichen, das sie in eine Wirtschaftsstruktur zwingt, die ungerecht, unmenschlich, individualistisch und von Konkurrenz geprägt ist.
Darüberhinaus werden sie in der üblichen Entwicklung nur als ungelernte ArbeiterInnen benutzt, die während des Automatisierungsprozesses schnell als überflüssig angesehen werden, und daher schnell abkömmlich werden. Schnell werden sie zu einer Last ohne jegliche Zukunftsaussichten. Der Preis des Fortschritts ist ihr langsamer Zerfall und Tod – Ethnozid an den UreinwohnerInnen. Die Auswirkungen von Vertreibung und Umsiedlung sind wahrscheinlich für die Frauen am schlimmsten. Die Männer erhalten die Entschädigungszahlungen, und oftmals wird die gesamte Summe für Spielen und Trinken ausgegeben. So entsteht eine Abhängigkeitssituation, die eine weitere Verarmung der Frauen und Kinder mit sich bringt. Der Zugang der Frauen zu den Ressourcen der Wälder ist verlorengegangen und ihre Subsistenztätigkeiten wie das Sammeln von Nahrungsmitteln, medizinischen Kräutern etc. in den Wäldern ist nicht mehr länger möglich.
Kommerzialisierung der Landwirtschaft
Die Modernisierung auf dem Gebiet der Landwirtschaft hat zur Einführung der Politik der „Grünen Revolution“ geführt, mit einem hohen Technologieeinsatz, der Kommerzialisierung der Anbausysteme und sich nachteilig auswirkender biotechnischer Neuerungen. All das hat die sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und ökologischen Beziehungen in den ländlichen Gebieten stark beeinflußt. Es erfolgt ein unerwünschter Wechsel von der Subsistenzproduktion und dem Vertrauen auf frei verfügbare natürliche Ressourcen zu einer Geldwirtschaft. Es wurde erwartet, daß durch die Einführung von auf den Verkauf ausgerichteten Anbauprodukten und die durch den Markt gemachten Profite die wirtschaftliche Kraft der ländlichen Bevölkerung gestärkt würde. Dagegen wurde die Fähigkeit der Natur zur Regeneration der Fruchtbarkeit des Bodens, der Saatguterzeugung unterminiert. Heute besteht eine größere Abhängigkeit von nichtregenerierbaren Faktoren wie Kunstdünger, Pestiziden und Saatgut von multinationalen Konzernen. Darüberhinaus hat die Einführung von auf den Verkauf ausgerichteten Anbauprodukten im großen Stil das traditionelle Nutzungssystem des Bodens zugunsten der GroßgrundbesitzerInnen verändert. Dieser Wandel hat eine Veränderung der Beschäftigungsstrukturen und des Arbeitspensums der Bäuerinnen bewirkt, dazu Änderungen im Zugang der Frauen zu und ihrer Kontrolle über Wasser, Land und Einkommen. Deshalb ist die Modernisierung der Landwirtschaft in der Form der Einführung der Grünen Revolution ein Gewaltakt, der den Subsistenzwirtschaftsprozeß zerstört und die Frauen aus der Lebensmittelproduktion verdrängt, wo der Profit die Anbaumethode bestimmt.
Nachhaltige Entwicklung – Mythos oder Realität?
Es besteht kein Zweifel daran, daß die gegenwärtige Entwicklungsmethode bei der Verbesserung der sozioökonomischen und kulturellen Lebensqualität vollkommen versagt hat. Die Menschen auf dem Land leben einen gesunden Lebensstil, wobei die materiellen Bedingungen genauso wichtige Aspekte des Lebens sind wie spiritueller, kultureller und sozialer Reichtum. Für sie bedeutet Sicherheit im allgemeinen Boden, Familie, Dorf sowie die Freiheit von Einmischung von außen. Jede Entwicklungsstrategie, die nachhaltig sein soll, muß diese Faktoren berücksichtigen. Ein weiser Ansatz in bezug auf das Überleben der Menschheit ist die Anwendung solcher Entwicklungsstrategien, die sich an den Menschen orientieren, umweltverträglich sind und den Ressourcen der Menschen die größte Bedeutung beimessen – ihrer Weisheit, ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten und ihrer Arbeitskraft. Wünschenswerter ist ein Entwicklungskonzept, das das traditionelle Wissen innerhalb der Landwirtschaft und der Nutzung der Ressourcen nicht unberücksichtigt läßt und großangelegte Technologieprogramme, die negative Auswirkungen auf Frauen und Umwelt haben, ablehnt.
Die Frauen scheinen die „vorherbestimmten Retterinnen“ vor einer Fehlentwicklung in Indien zu sein. Ihre gewaltlose, nicht geschlechtsspezifische und ganzheitliche Alternative zur herrschenden Wissenschaft, zu Technologie und Entwicklungsparadigma ist eine Vision des Überlebens und der Hoffnung. Gebraucht wird eine fundamentale Veränderung der Gesellschaft als ganzer, die auf einer Abschaffung der patriarchalen Werte von Herrschaft und Kontrolle beruht. Dies setzt eine radikale Veränderung des Verhältnisses von Frauen und Männern zur Natur, zu den natürlichen Ressourcen, zur Arbeit voraus sowie eine Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen, eine Umverteilung der reproduktiven und produktiven Funktionen von Männern und Frauen und eine Neudefinition von Werten wie Friedfertigkeit, Erhalten, Heilen etc.
Der Entwicklungsprozeß kann zur nachhaltigen Realität werden, wenn er selbstbewußt, selbstbestimmt und befreiend ist und vor allem auf den Ressourcen der Menschen beruht.
Eine richtige Antwort unsererseits hängt vor allem von unserer Fähigkeit ab, lokale Anzeichen einer Fehlentwicklung zu identifizieren und von unserer Fähigkeit, auf einer globalen Ebene Alternativen zugunsten der Menschen anzubieten, besonders der Marginalisierten, so daß sie eine gerechte, selbstbestimmte und harmonische Gesellschaft frei von Herrschaft und Unterdrückung haben können.
Literatur
Asian and Pacific Women's Resource and Action Series Environment: Asia Pacific Development Centre, Malaysia
Bericht der Arbeitsgruppe zur "Modernisierungsentwicklung": New Challenges, India