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Ein Wochenende in Paris

"Eine andere Zukunft - Vom Widerstand zur sozialen Alternative"

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So lautete das Motto der Großveranstaltung, die die anarcho-syndikalistische CNT vom 25. April bis 2. Mai in Paris ausrichtete. „Alle Facetten des Syndikalismus der direkten Aktion“ verspricht in großen roten Lettern die Festivalzeitung, die stapelweise in der Rue des Vignoles 33, dem Pariser Sitz der CNT, ausliegt. Zu meiner Überraschung ist von der Hektik, die solche Großereignisse normalerweise begleitet, wenig zu spüren. Einige GenossInnen von der neugegründeten schweizer FAU sind am Frühstücken, daneben unterhalten sich Leute in englisch und spanisch. Ein gemütliches polyglottes Beisammensein. Auch ein Schlafplatz ist in aller Ruhe und innerhalb kürzester Zeit organisiert. Nur wenige Straßenzüge bzw. Gehminuten entfernt, was meiner Bequemlichkeit entgegenkommt. Trotzdem wird mir die Marschroute bis ins kleinste Detail erklärt, so daß ich den Weg schon auswendig kenne, bevor ich losgegangen bin. Aber zuerst nutze ich die Gelegenheit, mich über das zu informieren, was mich in den kommenden Tagen erwartet. Leichter gesagt, als getan, denn nicht nur das Programm ist gigantisch, sondern auch der Werbeaufwand, den die CNT betrieben hat, um die „Woche“ zu einem Erfolg werden zu lassen. Poster und Kataloge zu den Ausstellungen, Bücher und Broschüren zu den politischen und literarischen Veranstaltungen, jede Menge Flugis, Info-Blätter, Zeitungen, teilweise in mehrere Sprachen übersetzt. Zu jedem Veranstaltungsblock gibt es ein eigenes Faltblatt. Und das sind nicht wenige. Vielleicht nicht „alle Facetten“ des revolutionären Syndikalismus von heute, aber viel fehlt nicht. Debatten über die Pariser Commune, die Militarisierung der Gesellschaft, die Sans-Papiers, den „radikalen und autonomen Antifaschismus“, „für eine egalitäre Erziehung“, „Ist Homosexualität noch revolutionär?“, Bauernkämpfe, zwei über die jüdische libertäre Arbeiterbewegung und das restliche Dutzend spare ich mir.

Vor allem das Kulturprogramm ist beeindruckend und beweist, daß libertäre Ideen in der französischen Kulturszene offenbar eine beachtliche Zahl von SympathisantInnen haben. Allein das Kinoprogramm umfaßt 76 Filme in 10 Sälen. Ein Hintergrundartikel in der Festivalzeitung berichtet über die schweißtreibende Mühe, sowohl die Filme als auch die Kinos aufzutreiben. Das glaube ich gern! Ein „Festival des anderen Theaters“ ist nur ein Teil des Theaterprogramms; Lesungen und Diskussionen über Krimis, proletarische Literatur, Surrealismus oder allgemein „Kunst und Politik“ in einem halben Dutzend politisch-literarischer Buchhandlungen; ein Haufen Konzerte, zehn Ausstellungen mit dem einen oder anderen Namen, der durchaus vertraut klingt (nicht nur für mich): Bilder von Jacques Tardi, der auch in Deutschland als Comic-Zeichner bekannt ist. Oder: „Ein libertärer Blick“, unveröffentlichte Fotografien von Henri Cartier-Bresson. Als Fotograf ist Cartier-Bresson ja eine Legende, aber daß er auch libertäre Sympathien hat, war mir neu. 91 Jahre ist er inzwischen, aber offenbar noch nicht alt genug, um an solchen Veranstaltungen teilzunehmen.

Schließlich decke ich mich noch mit einer „Carte de soutien“ ein, die kostenlosen oder verbilligten Eintritt zu vielen dieser Veranstaltungen gewährt und ein paar zusammengeheftete Blätter mit Adressen, Metrostationen und Lageplänen der meisten Veranstaltungsorte. Durchaus brauchbar für einen Ortsunkundigen, zumal die Veranstaltungen über das ganze Stadtgebiet verstreut sind.

Endlich mache ich mich auf den Weg und stehe kaum eine Viertelstunde später bei meinen Gastgebern in der Tür. Verständigungsprobleme gibt es keine, weder sprachlich, noch persönlich. Jedenfalls ist es ein Vorteil, ein wenig die Landessprache zu beherrschen. Man ist sich sympathisch und das nicht erst nach dem zweiten Glas Wein. „Los, ich zeig dir das Viertel!“ Ade, du schöner Plan, beim Auftakt eines hochkarätig besetzten internationalen Kolloquiums über die „Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung“ dabei zu sein. Stattdessen lerne ich einen Teil des Pariser Südostens kennen, der bisher vom planerischen Größenwahn der „Stadtväter“ wie von den TouristInnenströmen noch weitgehend verschont geblieben ist. Es ist wie im Klischee: ein ständiges „Hallo“ und „Wie gehts“, ein Schwätzchen mit dem tunesischen Lebensmittelhändler, ein kurzer Abstecher zu einem Freund, der eine kleine Buchhandlung führt, ein Gläschen in der Stammkneipe, eigentlich: mehrere Gläschen in mehreren Stammkneipen, persönliche Anekdoten und Stadtgeschichte, die mit Häusern, Straßen, Plätzen verknüpft ist, Komites, Initiativen, Bewegungen, Streiks, Besetzungen, Straßenschlachten… Ein lehrreicher und zunehmend wackliger Spaziergang durch den sozialen Widerstand der letzten 30 Jahre. Kurzum, der Tag ist gelaufen.

Samstag morgen. Nach einer langen Metrofahrt durch ganz Paris bin ich schließlich in der „Bourse du travail“ von Saint-Denis, einem nördlichen Vorort, angekommen, um den zweiten Teil des erwähnten „Kolloquiums“ mitzuverfolgen. Aber keine Chance! Zuviele bekannte Gesichter, die auf einmal auftauchen und etliche unbekannte dazu. Und außerdem gibt es viele interessante Büchertische zu begutachten. Am Ende ist es zu spät, den Diskussionen noch folgen zu wollen. Gelegenheit für ein informelles Treffen der angereisten Delegationen und Gäste. Und zurück in die Rue des Vignoles, die sich während dieser Tage als angenehmer Anlauf- und Ruhepunkt herausstellt, wo man immer jemand Interessantes trifft, Eindrücke und Informationen austauscht, über das, was jedeR gemacht oder gesehen hat, da jedeR einzelne bei der Vielzahl der parallel laufenden Aktionen sowieso nur einen Bruchteil des Ganzen mitbekommt.

Über die Abendgestaltung scheiden sich die Geschmäcker entlang der Altersgruppen. Während die „Jüngeren“ ein Konzert bevorzugen, auf dem angeblich eine Ska-Band spielen soll, argwöhnen die „Älteren“, daß dort eher Krach als Musik geboten werde. Ich muß gestehen, ich gehörte zu denen, die auf einem Chanson-Abend im „Trianon“ landeten, einer großen Konzertbühne mitten auf der TouristInnenrennstrecke Boulevard Rochechouard, die mit ihren Stukkaturen, der muffigen Atmosphäre von wurmstichigem Holz und ihrem offenbar für sehr kleinwüchsige BesucherInnen ausgelegten Gestühl einen gewissen altertümlichen Charme verströmte. Ich habe es nicht bereut: das Konzert war großartig, das Publikum (und der Saal war voll, ca. 1000-1500 Leute) zu Recht begeistert. Aufgrund seiner langen, stark libertär beeinflußten Tradition (man denke an Brassens oder Ferré), hat das französische Chanson einen solchen Qualitätsstandard erreicht, daß man hierzulande schon die absolute Crème der „LiedermacherInnen“ zusammenkratzen müßte, um auf ein annähernd vergleichbares Niveau zu kommen.

Das „Trianon“ war auch der Schauplatz des zentralen „Meetings“ am nächsten Tag, auf dem sich die angereisten Organisationen vorstellten. Ingesamt 15 Delegationen, von Sibirien bis Marokko, von den USA bis Schweden (leider niemand aus Lateinamerika, Asien oder Schwarzafrika), sehr unterschiedlicher Art, sowohl was Größe und Aufbau, als auch politische Ausrichtung betrifft. Von kleinen Propagandagruppen bis zu Organisationen, die in bestimmten Bereichen – wie die CGT in der spanischen Autoindustrie oder die CNT beim Reinigungspersonal im Pariser Raum – eine solide gewerkschaftliche Verankerung haben. Zweifellos nicht alles lupenreine Libertäre. Allerdings hat der Anarcho-Syndikalismus auch nie den Anspruch erhoben, nur „Überzeugte“ zu organisieren. Viele Anwesende sind ihrem eigenen Selbstverständnis nach eher kämpferische GewerkschaftlerInnen oder einfach Menschen, die es satt haben, sich von Staat, „Arbeitgebern“ oder Apparaten à la DGB an der Nase herumführen zu lassen.

Sicherlich hätte ich über den einen oder anderen Punkt gerne mehr erfahren, aber Zeit und Verständigungsprobleme setzten dem Grenzen. Glücklicherweise aber hat sich meine Befürchtung nicht bewahrheitet, der „internationale Erfahrungsaustausch“ stünde nur auf dem Papier, während in der Praxis nicht einmal die elementaren Voraussetzungen dafür vorhanden wären. Gerade bei Treffen in Frankreich hatte ich schon die leidvolle Erfahrung gemacht, daß ausländische Gäste zwar willkommen sind, faktisch aber wenig Rücksicht auf sie genommen wird. Ganz anders hier: die VeranstalterInnen haben sich alle erdenkliche Mühe gegeben, die „technischen“ Probleme zu lösen. Die zentralen Veranstaltungen werden in französisch, englisch, spanisch und deutsch simultan übersetzt, bei kleineren Treffen ist englisch Diskussionssprache, bzw. wird nach Bedarf adhoc in andere Sprachen gedolmetscht. Auch einiges an Informationsmaterial ist mehrsprachig erhältlich.

Sogar die französischen Demo-Parolen gibt es in englischer und spanischer Übersetzung, wie ich am nächsten Morgen feststelle. Es ist der 1. Mai und eine Art Familientreffen oder Wiedersehensparty für alle, die sich in den vergangenen Tagen verpaßt haben. Es ist an alles gedacht, sogar an ein „Liederbuch für den schwarzroten Militanten“ als Gedächtnisstütze für diejenigen, die nicht mehr alle sechs Strophen der „Internationale“ (im Original!) parat haben oder nicht mehr wissen, wie gleich noch „A las barricadas“ auf spanisch ging. Dazu spielt die „Welsh miners‘ brass band from Tower Collery“ auf, die Blaskapelle einer selbstverwalteten Zeche in Wales, die bereits am Abend zuvor ein Konzert vor ausverkauftem Haus im „Trianon“ gegeben hatte. Den musikalischen Kontrapunkt bildet eine brasilianische Trommlergruppe, die rhythmisch mächtig einheizt. Unwiderstehlich!

Für manche ist die Demo eine Gelegenheit, ein paar lautstarke Sprechübungen in französisch zu machen oder zur allgemeinen Polyphonie einige landestypische Gesänge und Sprechchöre beizusteuern. Das Hoch auf die internationale (vielmehr antinationale) Solidarität ist zwar nicht unbedingt originell, aber in diesem Augenblick immerhin Realität und nicht nur gegrölter Anspruch. Nach einem eigenen Zug durch die Pariser Straßen stoßen wir schließlich zur allgemeinen Maidemo. Die Stalin-Transparente, hinter denen diverse marxistisch-leninistische Kleinst-Dinosaurier vollzählig in Deckung gehen, sind zwar nicht gerade ein erhebender Anblick, aber das Wetter ist schön, die Sonne scheint und die glänzende Stimmung ist durch dergleichen nicht zu beeinträchtigen. Selbst die ansonsten äußerst aggressiv auftretenden kommunistischen Ordner halten sich lieber zurück. Auch ihnen ist nicht entgangen, daß die „Schwarzroten“ den stärksten Block auf der gesamten Demo bilden. Das ist zwar auch nicht weltbewegend, aber gut für die Moral und schmeichelt ein wenig der Eitelkeit.

An der „Bastille“ ist Schluß, für die Demo und auch für mich. Es zerreißt mir das Herz, aber das freie Essen und Trinken, zu dem – als krönenden Abschluß des Tages – eine Szenekneipe eingeladen hat, kann ich leider nicht mehr wahrnehmen. Schnell meine Sachen geholt, mich von meinen Gastgebern verabschiedet und ab zum Nachtzug. Am nächsten Morgen erwartet mich bereits wieder der gewöhnliche bundesdeutsche Alltag.